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„Gleichschaltung“ – „ohne zwangsweise Eingriffe“ (1933–1934)1)
„Der Verein deutscher Chemiker ist ein technisch-wissenschaftlicher Verein, der, wie alle Organisationen und vor allem die der technischen Wissenschaften, ebenfalls in seinen Grundzügen von der nationalsozialistischen Revolution erfaßt wurde. Seine Mitglieder haben nicht so sehr dazu geneigt, den neuen Staat zu bekämpfen als vielmehr dazu, als ,unpolitische Menschen‘ weiterhin gelten zu wollen. Eine große Anzahl von ihnen wird sich die Frage vorgelegt haben, was die Wissenschaft mit der Politik zu tun habe.“2)
Die technisch-wissenschaftlichen Berufsorganisationen verstanden sich traditionell als unpolitisch und der „objektiven Sachlichkeit“ verpflichtet.3) Ab dem Moment der Vereidigung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 sahen sie sich gleichwohl gezwungen, politisch Stellung zu beziehen. Zugleich wurden starke Kräfte innerhalb der Vereine virulent, denen ihre Eingliederung in den neuen Staat und die Parteigliederungen gar nicht schnell genug gehen konnte. Die Gesetze zur „Gleichschaltung“, von Hitler und Reichsinnenminister Wilhelm Frick4) am 31. März und 7. April 1933 verabschiedet, zielten auf die Entmachtung der gewählten Volksvertretungen und die „Zentralisierung der Staatsmacht nach dem Führerprinzip.“5) Darüber hinaus erstreckte sich die „Gleichschaltung“ auf das Vereinswesen. Gleichartige Vereinigungen sollten zusammengeführt und „parteiamtlichen Institutionen und Gliederungen der NSDAP“ unterstellt werden.6) Es galt Hitlers Direktive, „die Führung sämtlicher Organisationen in die Hände im Kampf bewährter Parteigenossen“ zu legen.7) In der Frühzeit des „Dritten Reichs“ standen vor allem mitgliederstarke Großvereine im Fokus der Gleichschaltungspolitik.
Probleme der „Gleichschaltung“ der technisch-wissenschaftlichen Vereine und Gesellschaften resultierten aus der von Seiten der NSDAP und der zuständigen Ministerien unklaren Aufgabenverteilung. Die wichtigsten Akteure waren hier
- die Politische Zentralkommission (PZK) der NSDAP-Reichsleitung in München,
- der Kampfbund Deutscher Architekten und Ingenieure (KDAI) sowie
- die am 10. Mai 1933 gegründete Deutsche Arbeitsfront (DAF).
Noch in den ersten Monaten der NS-Herrschaft kam es zu Einschüchterungen und handstreichartigen „Gleichschaltungen“, was den Druck auf die Vereine erhöhte, sich den neuen Verhältnissen anzupassen.8) Doch schon nach einigen Wochen wurden derartige „unkontrollierte Eingriffe“ von der Parteileitung unterbunden, nicht zuletzt weil Hitler selbst – hier im Fall des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI) – weitere Einmischungen mit der Begründung ablehnte, daß es sich um „eine wissenschaftliche Führergruppe“ handele.9)
Neben dem Gleichschaltungsgesetz sollte ein weiteres Gesetz aus der Frühzeit des NS-Regimes außerordentliche Wirkung entfalten. Schon am 7. April 1933 erließ Frick das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Obwohl sein Wirkungsbereich auf den öffentlichen Dienst beschränkt war, wurden seine Bestimmungen in vielen Fällen zum Maßstab auch bei der „Gleichschaltung“ der technisch-wissenschaftlichen Organisationen. Das Gesetz zielte auf die Entlassung politisch Mißliebiger und zugleich auf die „Arisierung“ der Beamtenschaft. Nach Paragraph 3, dem berüchtigten „Arierparagraphen“, waren „nichtarische“ Beamte in den Ruhestand zu versetzen. Noch im April 1933 wandten zahlreiche Verbände und Organisationen die Bestimmungen des Gesetzes auf sich selbst an.10) Fälle von „Selbstgleichschaltung“ wurden nach dem Krieg damit begründet, dadurch den Fortbestand der eigenen Institutionen im neuen politischen System gesichert zu haben. Gleichwohl zeigt die häufig weitgehende Identifikation der Akteure mit dem Regime an, daß man bereits hier von einer ersten Selbstmobilisierung sprechen kann.11)
2.1 Machtkämpfe: Robert Ley, Gottfried Feder und die NS-Aktivisten
„Der Verein Deutscher Chemiker ist als technisch-wissenschaftlicher Verein naturgemäß völlig unpolitisch. Als Verein deutscher Chemiker hat er aber stets betont, daß er unbedingt auf dem Boden nationaler Gesinnung steht. Er betrachtet es demgemäß als selbstverständliche Pflicht, mit allen Kräften am Wiederaufbau unserer Wirtschaft mitzuhelfen, und stellt sich in diesem Sinne mit vollster Ueberzeugung hinter die Reichsregierung, die, auf eine klare Mehrheit des Volkes gestützt, die Wiederaufrichtung unseres Landes tatkräftig in die Hand genommen hat.“12)
Seit 1929 lag der Vorsitz des VDCh in Händen des ehemaligen IG Farben-Direktors Professor Dr. Paul Duden (Tab. 2.1). Durch sein Amt zeichnete er für das Verhalten des Vereins gegenüber den neuen Machthabern verantwortlich. Als erste öffentliche Reaktion des VDCh auf die politischen Veränderungen erschien am 15. April 1933 die oben zitierte Selbstverpflichtung, sich mit aller Kraft an der „Wiederaufrichtung unseres Landes“ durch die neue Reichsregierung zu beteiligen. Wenig später wurde Duden, der nie in die NSDAP eintrat, vereinsintern aktiv: „Die Neuordnung der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse führt jetzt vielfach auch innerhalb unseres Vereins zu Erwägungen über Organisationsänderungen.“ Die Vereinsgliederungen sollten keinesfalls Satzungsänderungen vornehmen, „bevor der Vorstand des Hauptvereins in diesen noch im Fluss befindlichen Fragen eine Klärung herbeigeführt hat.“13) Der Generalsekretär des VDCh und Parteimitglied ab 1933, Fritz Scharf (Tab. 2.2), ergänzte dieses Rundschreiben. Für ihn bildete der „Arierparagraph“ schon am 4. Mai 1933 die Voraussetzung der zukünftigen Vereinsarbeit:
„Nach Lage der Dinge müssen auch die personellen Verhältnisse, die bei den einzelnen Abteilungen des Vereins obwalten, einer besonders sorgfältigen Prüfung unterzogen werden. Es ist vor allen Dingen zu prüfen, ob bei der Besetzung der Ehrenämter den Anforderungen entsprochen ist, die seitens der Regierung im Beamtengesetz niedergelegt sind, oder ob gegebenenfalls Ersatzwahlen vorgenommen werden müssen.“14)
Mit „massgebenden Kollegen, die in der nationalsozialistischen Bewegung tätig sind“, verhandelte Duden bis Mitte Mai 1933 über den am besten geeigneten Ablauf der „Gleichschaltung“. Mit seinem Schreiben an die Bezirksvereine und den Vorstandsrat forderte er die Untergliederungen des VDCh auf, ihre „Gleichschaltung“, vor allem aber ihre „Arisierung“ selbst in die Hand zu nehmen.
Tabelle 2.1 Professor Dr. phil. Paul Duden (1869–1954)a)
1892 Promotion zum Dr. phil. bei Ludwig Knorrb) (Universität Jena) |
1896 Habilitation in Jena, 1899 a. o. Professor |
1905 Leiter des Hauptlaboratoriums der Hoechst-Werke |
1914 Mitglied des Vorstandes der Hoechst-Werke |
1925 Vorsitzender des Direktoriums der Hoechst-Werke und Leiter der Betriebsgemeinschaft Mittelrhein der IG Farben |
1929/37 Vorsitzender des VDCh |
1929/41 Leiter der Berufsgenossenschaft der chemischen Industriec) |
1933/34 Vizepräsident der DChG (Nachfolger von Rosenheim) d) |
1933/41 Vorsitzender der Dechema |
1934 im Vorstand der Reichsgemeinschaft der technisch-wissenschaftlichen Arbeit (RTA)e) |
1936/37 Vorstandsmitglied der DChG |
1937 Teilnehmer am 1. Reichsschulungskurs der deutschen Technik (NSBDT)f) |
1937/38 Vorsitzender der Fachgruppe Chemie im NSBDTg) |
a) Sohn von Konrad Duden („Duden“); zu den wissenschaftlichen Arbeiten Paul Dudens, der auch als „Vater der Acetylenchemie“ bezeichnet wurde, vgl. Ernst Bryk: Professor Dr. phil. Dr.-Ing. e. h. Dr. rer. nat. h. c. Paul Duden zu seinem 25. Dienstjubiläum in der I. G. Farbenindustrie A. G. am 2. Januar 1930. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der chemischen Industrie, in: AC 43 (1930), S. 77–80; Ehrungen, in: Der deutsche Chemiker (DdtCh) 4 (1938), S. 26; Schleede, Weidenhagen, Sitzung am 7. November 1938, in: Berichte A 71 (1938), S. 195–199, hier S. 198; Heine, Verstand, 1990, S. 62; Wer ist’s?, in: NCT 1 (1953), S. 171; BioEU.
b) Ludwig Knorr (1859–1921), ab 1889 Ordinarius in Jena, übernahm im Ersten Weltkrieg „kriegswichtige Aufträge für den Flugzeugbau“; Grete Ronge: Ludwig Knorr, in: NDB (1979).
c) 100 Jahre...