192. Kapitel
Philosophie
2.1 Einführung
In den vorangehenden Abschnitten haben wir mit Erläuterungen zu den Begriffen „Kultur“ und „Kommunikation“ zwei der Faktoren beschrieben, die zu den Ursachen deutsch-chinesischer Verständigungsschwierigkeiten zählen. Der nun folgende Teil beschäftigt sich mit dem Herzstück in Sachen Dialog der Kulturkreise: dem Vergleich zwischen westlicher und östlicher Philosophie oder besser gesagt, der Wiege unserer jeweiligen Geistestraditionen. Dabei haben wir aus Gründen der besseren Lesbarkeit den Begriff aus der abendländischen Antike gewählt ... Philosophie. Ein analog übersetzter Ausdruck existiert in der chinesischen Sprache nicht, das philosophische Tun hingegen schon; nur wird es in vielen Einzelbegriffen dargestellt, die unterschiedliche Ansätze in Denkweise und Geisteshaltung wiedergeben.
Wie soll die Verständigung zweier Kulturkreise harmonisch funktionieren, wenn ihre Philosophien auf differierenden oder sogar kontrastierenden Grundbegriffen aufbauen? Wenn „Gerechtigkeit“ oder „Freiheit“ oder „Seele“ auf der einen Seite und „Natur“ oder „Etikette“ oder „Harmonie“ auf der anderen Seite nicht in die jeweils andere Wertvorstellung übersetzt werden können? Diesen und anderen Fragen werden wir nachgehen und untersuchen, wann und warum die unterschiedlichen Denkmuster geprägt wurden und welchen Einfluss sie bis heute auf Alltags- und Geschäftskultur haben. 20Zur Einstimmung in die Begriffswelten von Philosophie kommentieren drei Klassiker westlicher und östlicher Geistesgeschichte, worum es in ihrem Fachgebiet geht:
„Der Klügste ist der, der weiß, was er nicht weiß!“
Sokrates
„Denken und Sein werden vom Widerspruch bestimmt!“
Aristoteles
„Alle Dinge haben Zeiten des Vorangehens und Zeiten des Folgens, Zeiten des Flammens und Zeiten des Erkaltens, Zeiten der Kraft und Zeiten der Schwäche, Zeiten des Gewinnens und Zeiten des Verlierens. Deshalb meidet der Weise Übertreibungen, Maßlosigkeit und Überheblichkeit!“
Laotse
2.2 Abendländische Philosophie
2.2.1 Überblick
Ganz gleich, ob Sie für das Schulfach „Ethik und Geistesgeschichte“ Begeisterung gezeigt haben oder ob Sie über den Sinn des Lebens lieber am Stammtisch diskutieren: das Erfragen und Forschen ist ein Urbedürfnis des Menschen; entsprechend vielfältig präsentieren sich die Aspekte, die uns bei der Deutung der Welt und unserer Existenz immer wieder beschäftigen. So werden in der Philosophie diejenigen Sachverhalte behandelt, die mit Hilfe der anderen bekannten Einzelwissenschaften (wie z. B. den Naturwissenschaften) nicht erklärt werden können: Begriffe wie Wahrheit, Gerechtigkeit, Gut und Böse, Weisheit oder Erkenntnis sind nur einige der großen themen, die im Laufe der Philosophiegeschichte aufgegriffen wurden; je nach Epoche verändern sich natürlich Blickwinkel und Gegenstand der Diskussion. Die Bandbreite philosophischen Gedankenguts seit der Antike über die Aufklärung bis hin zur Postmoderne lassen wir im folgenden Zusammenfassung Revue passieren:
Die Geburtsstunde der europäischen Geistesgeschichte wird auf das 6. Jahrhundert v. Chr. datiert, als man im antiken Griechenland begann, 21die damaligen Erklärungsmodelle der Welt die so genannten Mythen – durch systematisches, wissenschaftlich strukturiertes Denken zu ersetzen. Die irrationalen Überlieferungen der Vorzeit hatten ausgedient; sie waren einfach nicht mehr kompatibel mit den vorherrschenden Lebensumständen und den kulturellen Fortschritten. Das geistige Klima hatte sich verändert; die politische, gesellschaftliche und kulturelle Wirklichkeit verlangte nach kritischem Hinterfragen herkömmlicher Traditionen und einem rationalen Einordnen von Erkenntnissen und Wahrheiten in ein anderes Denkmuster: eben dem Streben nach Weisheit, der Philosophie. Das radikale In-Frage-Stellen auf der Basis von Argumentation und Vernunft ist zugleich ihr besonderes Kennzeichen. Die Methoden, derer sie sich in ihren Erklärungsmodellen bedient, entstammen der Mathematik und den verwandten Naturwissenschaften. Ihr Geburtsort, der griechische Stadtstaat, sorgt entscheidend dafür, dass sie aus einer offenen, demokratischen Gesellschaft in den sie umgebenden Kulturraum einfließen wird. Welch glückliche Fügung, dass etwa zur gleichen Zeit der Mensch in der Lage ist, Erkenntnisse und Ereignisse auf Papier niederzuschreiben und somit der gesicherten Verbreitung fortschrittlichen Gedankentums einen kräftigen Anschub liefert.
Für den Fall, dass die Schulzeit schon ein paar Tage zurückliegt ... hier ein paar Fakten und Schlüsselbegriffe der abendländischen Philosophie:
Der Begriff des Philosophen und der Philosophie stammt vom griechischen Denker Pythagoras und ersetzt das alte Wort „Sophist“, was man auch mit „weiser Mann“ übersetzen kann. Diese Männer waren wichtige Akteure in der Entwicklung der Demokratie Athens und fanden aufgrund ihrer rhetorischen Fähigkeiten und ihres lehrenden Auftretens schnell eine große Zuhörerschaft.
Zu Berühmtheit gelangte der Begriff der Philosophie aber erst mit den beiden Großen dieser Zunft: Platons und Aristoteles’ schriftliche Abhandlungen haben mehr als 2 000 Jahre überlebt. Diese beiden und ihr Kollege Sokrates verstanden Philosophie als Alternative zur mythischen Religion und ihrer Ordnung. Indem der Mensch selbst, durch Nachdenken und Diskutieren, kurz: Philosophieren, 22die Welt erklärt, distanziert er sich vom Aberglauben oder einer Herrschaft durch Priester und Gottheiten.
In Athen entstanden zwei weitere Schulen, die ihren Schwerpunkt deutlich von den thesen Platons und Aristoteles’ absetzten: Für Epikur und seine Anhänger sowie für die Stoiker um Zenon von Kition stand das Seelenheil des Individuums im Zentrum ihrer Betrachtungen. Philosophie sollte dazu dienen, psychisches Wohlbefinden und Gelassenheit zu erlangen. Man stellte sich ein wohldosiertes Genussleben vor, mit kontrollierten Emotionen, fernab jeder politischen Betätigung. In der Spätantike kam es zu einer Verbindung zwischen Philosophie und christlicher Theologie, zunächst durch Augustinus. Er vertrat die Ansicht, dass Gesellschaft und Kirche, Theologie und Philosophie eine Einheit bilden, die keinen Zweifel an den Entscheidungen der Kirche hegt. Später wurde insbesondere durch Thomas von Aquin die Synthese von Philosophie und Theologie vorangetrieben, der Glaube und die Wissenschaft harmonisch verbunden.
Zu Beginn des 14. Jahrhunderts war es Wilhelm von Ockham, der neue Wege in der Philosophie einschlug und mit seiner Forderung nach Trennung von Kirche und Staat die Reformation und Moderne insgesamt einleitet. Mit dem geistigen Klimawechsel zur Renaissance und dem erneuten Aufblühen des Humanismus erfolgte im Übergang zur Neuzeit eine neuerliche Trennung von Staat und Kirche. Denker wie Kepler oder Kopernikus befürworten die Verbindung von Philosophie und den Naturwissenschaften. Die Methoden der Mathematik und der Glaube an die Vernunft gipfelten in der Aufklärung.
Die Vernunft ist Grundlage aller Erkenntnis und Maßstab menschlichen Handelns. Sie tritt für staatliche Gewaltenteilung ein und Mitspracherecht des Bürgertums. Immanuel Kants Erkenntniskritik weist darauf hin, dass wir nicht die Dinge selbst erkennen können, sondern immer nur deren Erscheinungen, die uns der Verstand und die Sinne vorgeben. Kants thesen werden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem von den Vertretern des deutschen Idealismus ausgearbeitet; kennzeichnend sind hier die spekulativen metaphysischen Systeme, in denen das „Ich“, das „Absolute“ bzw. der „Geist“ die Grundlagen der Welt bestimmen. Auf der anderen Seite bestimmen empiristisch geprägte Strömungen das Bild: Ökonomie, 23Ethik, ein konsequentes Kosten-Nutzen-Konzept und die Geschichtsphilosophie stehen zum Beispiel im Mittelpunkt der Philosophie von Marx, dem Begründer des Kommunismus.
Die Philosophie des 20. Jahrhunderts zeichnet sich durch ihr immenses Spektrum an Tendenzen und Positionen aus, auch als Folge einer starken Fortschritts- und Wissenschaftsgläubigkeit. Als Reaktion auf die zunehmende Verwissenschaftlichung vieler Lebensbereiche können alle Denkrichtungen aufgefasst werden, die sich dem Einzelnen und dem Leben beschäftigen. Existentialisten wie Heidegger oder Sartre schreiben dem Menschen Eigenverantwortlichkeit für sein Handeln zu. Die beiden Weltkriege, soziale Umwälzungen und die Spannungen zwischen kapitalistischen und kommunistischen Gesellschaftsformen haben in geschichts- und sozialphilosophischen Fragestellungen neue Akzente gesetzt.
2.2.2 Schlüsselbegriffe
Logik
Der Teilbereich der Logik zählt zu den theoretischen Aspekten von Philosophie, denn er beschäftigt sich mit dem folgerichtigen Denken, dem korrekten Schlussfolgern. Logik untersucht die Struktur von Aussagen und abstrahiert Argumente von ihrem Inhalt. Damit ist sie zugleich Wesensmerkmal von Mathematik, Physik und der moderneren Informatik. Daneben kennen wir im Alltag die praktische Anwendung von Logik, wir nennen es meistens den „gesunden Menschenverstand“.
Metaphysik
Die Metaphysik als die zentrale Disziplin von Philosophie gibt Auskunft über die Natur schlechthin, über das Sein der Dinge. In der Metaphysik werden die existenziellen Fragen gestellt nach dem Universum, der Existenz eines Gottes und einer Seele, der Beschaffenheit von Geist und Materie, der Struktur und Wirklichkeit unseres Seins. Sie wird daher auch Fundamentalphilosophie genannt, da in ihr die Seinslehre...