VOM SINN DES LEBENS
Die Besinnung über das Leben, die über die Stammes- und Volkstradition in Religion und Sitte hinaus sich vorurteilslos mit den Tatsachen des Lebens beschäftigt, pflegt immer in Zeiten zu entstehen, da aus irgendwelchen Gründen neue Gedanken in den Gesichtskreis der Menschen eintreten, da das, was bisher als selbstverständlich hingenommen wurde, durch schwere gesellschaftliche und nationale Erschütterungen ins Wanken kommt. So entstand in Israel der Prophetismus in dem Moment, als der kleine Nationalstaat Israel hineingerissen wurde in den Wirbel der Weltmachtkämpfe um die Vorherrschaft im westlichen Asien. So entstand die griechische Philosophie in Kleinasien in dem Zeitpunkt, da von Asien her neue Mächte und neue Gedanken immer stärker an die Ufer des griechischen Geistes brandeten. Und ganz ähnliche Erschütterungen waren es, die zur Entstehung der chinesischen Lebensweisheit geführt haben. Gewiß spielen die inneren Anlagen der Menschen dabei eine Rolle. So ist es kein Wunder, daß der israelitische Prophetismus eine religiöse Erscheinung wurde, während der vorzugsweise auf Anschauung gerichtete griechische Geist mit den Anfängen der Philosophie zugleich der Wissenschaft von der Natur sich zugewandt hat und der chinesische Geist die Lebensweisheit als ein Feld zu bearbeiten begann.
Von einer eigentlichen Philosophie in China kann man reden seit Lautse und Kungfutse. Von Kungfutse können wir Geburts- und Todesjahr genau angeben. Er lebte von 551-479 vor unserer Zeitrechnung. Lautse mag etwa zwanzig Jahre älter gewesen sein. Die Verhältnisse nun, die in China dazu führten, daß diese Männer daran gingen, über das Leben nachzudenken und Ergebnisse der Lebensweisheit zu suchen, waren sehr schwerer Art. Kungfutse hat ein Werk verfaßt, das er Frühling und Herbst nannte, in dem vom Aufgang und Niedergang von Staaten die Rede war. Die Zeit, die dieses Werk umfaßt, reicht ungefähr dreihundert Jahre weit in die Vergangenheit zurück. Außerdem haben wir in der Liedersammlung des Kungfutse Material, das mindestens ebenso alt, zum Teil noch älter ist. Aus diesen Quellen und verschiedenen andern eröffnet sich uns ein Einblick in die Verhältnisse jener Zeiten, der wahrhaft erschütternd ist. Diese dreihundert Jahre sind im wesentlichen in China eine dreihundertjährige Kriegszeit gewesen. Einerseits beunruhigten von Norden her die hunnisch-mongolischen Stämme das Reich, auf der andern Seite erhoben sich im Süden die beiden Fremdstaaten Tschu und Wu – am Yangtse und südlich davon – zu immer größerer Macht. Im Zentralgebiet, dem eigentlichen China, verging in jenen drei Jahrhunderten kein Jahr ohne Kampf. Das alte China war ursprünglich aus einer sehr großen Anzahl von Lehnstaaten unter einer zentralen Königsgewalt zusammengesetzt gewesen. Aber während die Zentralgewalt immer mehr zu einem bloßen Schattendasein herabsank, vergrößerten sich immer mehr die mächtigeren Lehnsstaaten auf Kosten ihrer schwächeren Nachbarn, so daß die Zahl der selbständigen Staaten immer mehr zusammenschrumpfte und auf der andern Seite die mächtigeren Landesfürsten immer mehr die volle Souveränität an sich rissen. Statt des Königs übernahmen der Reihe nach fünf solche Landesfürsten die Hegemonie im Reich, während der König ein willenloses Spielzeug in der Hand des jeweils mächtigsten unter ihnen war. Wieviel in jenen Jahrhunderten Staaten vernichtet, Herrscherhäuser ausgerottet, Menschen getötet wurden, wieviel Blut geflossen und Eigentum zerstört worden ist, weiß niemand zu sagen. Unsägliches Leid lag auf der Bevölkerung, die natürlich immer letzten Endes die Zeche zu bezahlen hatte. Eine Umschichtung der Gesellschaftsklassen ging damit Hand in Hand. Vornehme wurden gestürzt, Niedrige kamen empor. Die festgeordneten Rangstufen des Altertums verloren ihre Bedeutung. An Stelle der alten Rangstufen trat ein neuer tiefgreifender Unterschied. Die Gegensätze von Arm und Reich machten sich immer schärfer fühlbar. Ansätze zum Kapitalismus mit regelrechter Ausnutzung der sozial schwächeren Kreise zeigen sich ganz deutlich. Die Regierung der einzelnen Staaten war mit wenigen Ausnahmen willkürlich und tyrannisch.
Selbstverständlich wurden durch solche Zustände auch innerliche Reaktionen hervorgerufen. Die alte Natur- und Ahnenreligion mit ihren festen Formen war ein Rahmen gewesen, innerhalb dessen sich in ruhigen Zeiten gar wohl das Leben eines Bauernvolkes unter patriarchalischen Einrichtungen bewegen konnte. Allein die Not der Zeit brachte neue Fragen und Aufgaben mit sich, auf die man sich in neuer Weise einstellen mußte. So finden sich denn auch im Liederbuch gar manche Ansätze einer inneren Durcharbeitung der Fragen, die so drohend und unausweichlich am Himmel standen. Natürlich sind die Stimmungen verschieden nicht nur nach den Verhältnissen, sondern auch nach der Gemütsart der verschiedenen Volksschichten, denen die Dichter angehörten. Wir finden eine Richtung, die sich einfach der Klage hingibt. Man liebt das Vaterland, man möchte das Beste, aber die Not der Zeit ist zu übermächtig. Teuerung und Hungersnot kommen nach dazu. Ach, daß doch Gott vom Himmel dreinsehen wollte! Aber wo ist er? Hört er überhaupt auf Menschenflehen, da droben der weite, mitleidlose, blaue Himmel? So kommen mit der Klage Zweifel hervor: keine Lästerungen, keine radikale Gottesleugnung, aber die Anschauung, daß eben auch der Himmel seine Schwächen und Fehler hat – ein anderes Mal hilft er ja wieder, und in der Regel zeigt er sich gut und mild –, so daß es eben überhaupt nichts Vollkommenes gibt. Eine andere Richtung ging über diese sanfte Trauer hinaus. Sie wandte sich dem prinzipiellen Pessimismus zu. Es ist alles hoffnungslos schlecht, was ist. Viel besser nie geboren als solches Elend durchmachen müssen. Hier finden wir auch die Vorbilder der stolztrotzigen Einsiedler, die entschlossen der Welt den Rücken kehren und untertauchen in den Fluten der Anonymität. Man findet sie als Bauern, als Sklaven, als Knechte, in Wäldern, am Meeresstrand. Sie sind sarkastisch. Sie wissen, es hilft alles nichts, darum geben sie sich keine vergebliche Mühe. Manche unter ihnen kannten auch wohl eine geheimnisvolle Innenwelt, in die man Eingang findet durch mystische Schau, indem man Verzicht leistet auf alles äußere Handeln und Machen. Kungfutse hat unter solchen „verborgenen Heiligen“ gar viel zu leiden gehabt, die mit unbarmherziger Kritik sein Bestreben geißelten. Lautse stand ihnen nahe.
Eine weitere Richtung war die Gesinnung frommer Ergebung ins Schicksal. Wenn es schlecht ging, so war das Fügung des Himmels, des Übermächtigen, gegen den kein Menschentrotz half. Was will der kleine, machtlose Mensch in solchem Falle machen? Nichts bleibt ihm übrig als sich zu fügen und ruhig zu sein, ob etwa der Sturmwind wieder vorüberginge und auf Regen bald wieder Sonnenschein folgen möchte.
Andere wieder wandten sich mehr einer unmittelbar praktischen Lebensweisheit zu. Sie hatten weltverachtende Grundsätze und sahen, daß man nichts machen könne, um die Welt zu verbessern. Warum also sollte man an solche fruchtlosen Gedanken seine besten Kräfte setzen? Noch hatte man ja die Genußfähigkeit. Noch hatte man den Wein, den Sorgenlöser, und noch konnte man singen und so seinem Herzen Luft machen. Wozu also den grauen Ernst? Iß und trink und sei guter Dinge. Ganz wie es im Prediger Salomonis heißt: „So gehe hin und iß dein Brot mit Freuden, trink deinen Wein mit gutem Mut. Laß deine Kleider immer weiß sein und laß deinem Haupt Salbe nicht mangeln. Brauche das Leben mit deinem Weibe, das du lieb hast, solange du das eitle Leben hast, das dir Gott unter der Sonne gegeben hat ... Alles was dir von Händen kommt, zu tun, das tue frisch; denn bei den Toten, dahin du fährst, ist weder Wort, Kunst, Vernunft noch Weisheit.“
Es gab aber endlich auch Leute, die gegenüber den finstern Zeitverhältnissen und einer verrotteten Gesellschaft nicht gewillt waren, gesenkten Hauptes sich in all das Unrecht freiwillig zu fügen, sondern ihrer Unzufriedenheit im Liede Luft machten. Und manchmal auch kam es vor, daß, wenn solche Stimmungen sich erst in der Tiefe angehäuft, gelegentlich ein Ausbruch kam, der oft ganz unerwartet einem Tyrannen und Volksbedrücker das Leben kostete.
Aus dieser Not der Zeit heraus ist nun die chinesische Lebensweisheit geboren worden. Am königlichen Hofe lebte ein Mann. Er ist bekannt unter dem Namen Lautse („alter Meister“). Man wußte wenig von ihm, er war beschäftigt an der königlichen Bibliothek. Und unter der Beschäftigung mit den vielen Bambustafeln, auf denen die Reste der Literatur des Altertums verzeichnet waren, ist ihm die große Erleuchtung gekommen. Er fand nicht seine Befriedigung im Lesen und Lernen, im Nachdenken, was andere zuvor gedacht. Er hatte aber auch keine Lust zu wirken und sich einen Namen zu machen. Wohl überschaute er mit souveränem Blick die Reiche der Welt. Er sah, woran es ihnen fehlte, und sah auch wohl die Mittel, wie zu helfen wäre. Aber er wußte auch, daß seine Ratschläge unzeitgemäß waren und daß nicht damit zu rechnen war, daß so bald ein Fürst sich finden werde, der seinen Paradoxien Gehör schenken würde. So verzeichnete er denn seine Gedanken – oft in Form von Knittelversen, wie sie im Altertum zur Unterstützung des Gedächtnisses üblich waren – auf, ganz zwanglose Aphorismen, wie sie das Erlebnis brachte. Auch hier war er nicht auf Stil und Feinheit des Ausdrucks bedacht. Höchstens, daß es ihm Spaß machte, alles möglichst scharf und prägnant auszudrücken und alle vorsichtigen Wenn und Aber beiseite zu lassen. Auf Wirkung verzichtete er. Eigentlich ist es fast eine Inkonsequenz von ihm gewesen, daß er diese Selbstgespräche überhaupt aufgezeichnet hat. Die Sage empfand das...