IX. Der Kapitalzins als Vorbedingung des volkswirtschaftlichen Kredites und als Ursache der Massenarmut.
Eine allgemeine Begleiterscheinung des modernen Kapitalismus, bildet die Armut greller Volksmassen, bei gleichzeitiger Aufhäufung riesiger Reichtümer in den Händen einzelner. Während die einen trotz aller Arbeit immer arm bleiben, vermehrt sich der Reichtum der anderen schließlich sogar ohne eigene Arbeit.
Nachdem es durch die Beschaffenheit des Geldes ermöglicht wurde, die Arbeit beim Austausch ihrer Produkte mit einem beständigen Tribut (Zins) zu belasten und es sich zur Sicherung dieses Tributes als zweckmäßig erwies, die Gütererzeugung außerdem willkürlich zu hemmen und zu beschränken, musste sich die Massenarmut als notwendige Folge einstellen.
Aber diese Millionen Besitzloser können als Kulturmenschen nicht mehr wie Wilde leben. Bei Urwirtschaft, d. h. ohne Arbeitsteilung und ohne die hochentwickelte Technik, die riesiger „Kapitalanlagen“ bedarf, würde zudem Europa kaum den zehnten Teil seiner heutigen Bevölkerung ernähren, und selbst dieser Bruchteil müsste — wie bereits erwähnt — ein kümmerliches Dasein führen.
Infolge der immerwährenden Unterbrechung und Einschränkung, die der volkswirtschaftliche Produktions- und Tauschprozess durch das „Sparen“ seit jeher erleidet, kann dieser Prozess heute nur noch auf der Grundlage des Kredites stattfinden, den die „Sparer“ (Geldbesitzer) der Volkswirtschaft gewähren, indem sie gegen Zins ihr erübrigtes Geld der Produktion und dem Güteraustausch zur Verfügung stellen.
Da aber einerseits kein Krösus so reich ist, dass er alle Dinge, die der Kulturmensch gebraucht, selbst besitzt, da ferner der größte Teil der Bevölkerung aller Kulturstaaten aus „Proletariern“, d. h. Besitzlosen besteht, so beruht die ganze heutige Volkswirtschaft auf einem allgemeinen Kreditverhältnis.
Demgemäß tritt auch der Zins in allen seinen Formen als ein „Darlehnszins“ in die Erscheinung, d. h. es liegt ihm immer ein persönliches oder ein volkswirtschaftliches Kreditverhältnis zugrunde.
Hat der einzelne Besitzende nicht alles, so haben die besitzlosen Proletarier überhaupt nichts weiter, als ihre beiden Arme und notgedrungen den guten Willen zur Arbeit, um sich und ihre Familien zu ernähren. Dazu gebrauchen sie aber — außer dem Erdboden — sowohl Wohnhäuser als auch Produktionsmittel, d. h. Fabriken, Verkehrsmittel, Maschinen, Rohstoffe, Bergwerke, Arbeitstiere, Vieh, landwirtschaftliche Anlagen usw.
Alle diese Dinge sind aber, wie bereits nachgewiesen wurde, unter der Herrschaft des herkömmlichen Geldwesens „Kapital“. Und alle, die kein eigenes Wohnhaus, keine eigenen Produktionsmittel besitzen, diese aber gebrauchen, weil sie als Kulturmenschen nicht unter freiem Himmel wohnen, sich nicht mit ihren bloßen zehn Fingern ernähren können, müssen sich dies „Kapital“ daher „leihen“, indem sie die Wohnung in einem Hause, das ihnen nicht gehört, „mieten“, indem sie „Arbeit suchen“, um mit Maschinen, Rohstoffen usw., die ihnen nicht gehören, arbeiten und sich ernähren zu dürfen, indem sie Waren kaufen, die ihnen das Kapital des Kaufmanns zur Verfügung stellt. Die Besitzlosen müssen also ständig bei den Besitzenden „Kredit“ nachsuchen, Nachfrage nach „Kapital“ halten. Aber auch die Besitzenden untereinander müssen ihre Kredite gegenseitig in Anspruch nehmen und sie sich gegenseitig verzinsen, weil eben niemand im Besitze aller Dinge ist (z. B. Schiffe, Bahnen usw.), die der Kulturmensch gebraucht, oder weil das eigene Kapital nicht ausreicht.
„Kapital — Kapital!“ — Das ist der große volkswirtschaftliche Hunger der Kulturmenschheit!
Und das „Kapital“ sorgt dafür, dass dieser Hunger nie gesättigt wird, denn sobald er wirklich gesättigt wäre, d. h. sobald das Angebot von Kapital ebenso groß oder größer wäre, als die Nachfrage, hört das „Kapital“ als solches auf, zu existieren. Wenn — um es recht deutlich zu machen — neben jeder Fabrik eine zweite, neben jeder Schiffswerft eine zweite, und dritte, neben jedem Bergwerk, jedem Hause usw. je ein zweites entstehen würde, ohne dass die Bevölkerung und ihre Nachfrage sich in gleichem Umfange vermehrt hat, wo sollte da noch die übliche „Verzinsung“ herausgewirtschaftet werden? Dies „Realkapital“ könnte — wie sich noch zeigen wird den bisherigen Zinstribut nicht mehr beanspruchen; es müsste infolge seines vermehrten Angebotes schließlich seine „Kredite“, d. h. sich selbst, unentgeltlich zur Verfügung stellen, also gegen bloße Abnutzungsentschädigung oder bloße Rückgabe des geliehenen Gutes.
Der Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Kapitalmarkt würde also zu „Zinsfreien Darlehen“ führen, oder wie V. J. Proudhon es nannte und erstrebte, zur „Unentgeltlichkeit des Kredites“.
Es ist ein Irrtum, wenn Karl Marx und durch ihn die meisten Sozialisten der Ansicht sind, dass das Privateigentum des Kapitalisten an den Produktionsmitteln diese zu Ausbeutungs-Instrumenten gegenüber den Arbeitern mache. Was wohl auf den Grund und Boden zutrifft, ist beim „Kapital“ durchaus unzutreffend.
Das mit dem Privateigentum an Grund und Boden verbundene arbeitslose Einkommen — also die Grundrente — beruht sowohl auf natürlichen Vorzügen einer Bodenfläche, wie auch auf der Bevölkerungsdichtigkeit und der allgemeinen kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung. Es kann sich deshalb bei der Grundrente nie darum handeln, sie — wie den Kapitalzins — zu beseitigen, sondern immer nur darum, sie so zu verteilen, dass sie der ganzen Bevölkerung gleichmäßig zugute kommt. Die „Ausbeutung“ liegt hier nicht im Vorhandensein der Grundrente, sondern darin, dass sie immer nur den jeweiligen Eigentümern des Erdbodens zufällt und nicht der Allgemeinheit, die sie doch erzeugt und auch das gleiche Anrecht auf die natürlichen Vorzüge des Bodens hat.
Mit Bezug auf den Grund und Boden ist also das Privateigentum insofern die Ursache der Ausbeutung, als es einer gerechten Verteilung der Grundrente im Wege steht. Ganz anders verhält es sich dagegen mit dem aus Arbeitsprodukten bestehenden Kapital.
Nicht das Privateigentum, sondern das Missverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage macht die Produktionsmittel zu Ausbeutungsinstrumenten, also zu „Kapital“. Sobald das Geldkapital es gestatten würde, ließe sich das gesamte Realkapital beliebig vermehren, bis das bestehende Missverhältnis ausgeglichen wäre. Und da ein Ausgleich von Nachfrage und Angebot auf dem Kapitalmarkt zur „Unentgeltlichkeit des Kredites“ führt, so könnte dann trotz des fortbestehenden Privateigentums kein Kapitalist die Arbeiter „ausbeuten“; sein „Kapital“ würde sich nicht mehr „rentieren“, denn er müsste den Arbeitern seine Fabrik, seine Maschinen usw. unentgeltlich, d. h. nur gegen Erstattung der Abnutzung, zum Gebrauch überlassen.
Aber gerade auf den Zinstribut, auf dies mühe- und arbeitlose Einkommen hat es ja der Kapitalist abgesehen: Der Zins ist nicht nur der Zweck jeder Kapitalanlage, sondern auch die Voraussetzung des volkswirtschaftlichen Kredites. Demgemäß sorgt das Ur-Kapital (Geld) dafür, dass sich auf dem Kapitalmarkt Angebot und Nachfrage nie ausgleichen, sondern dass die Nachfrage nach Kapital stets größer ist, als das Angebot. Daher kommt es z. B. auch, dass die Betriebe und Arbeitsgelegenheiten nie ausreichen, um alle, die arbeiten wollen, vollauf zu beschäftigen. Es muss also immer eine „Arbeitslosen-Reservearmee“ vorhanden sein, damit nicht infolge von Knappheit an Arbeitern die Löhne so hoch steigen, dass dadurch der Zins („Mehrwert“) gefährdet und das Real-Kapital in die Zwangslage versetzt werden könnte, seine Kredite unentgeltlich gewähren zu müssen.
Die besitzlosen Arbeiter müssen also (im Hinblick auf die mit Zins belastete Lebenshaltung) durch eine beständige Unter-Entlöhnung den Zinstribut für alle Produktionsmittel und sonstigen Kapitalanlagen aufbringen, die sie nur „leihweise“ benutzen. Ihr Lohn als Produzenten ist immer so bemessen, dass der Preis, den sie und auch alle anderen Konsumenten zu zahlen haben, die übliche Zinsrate für alles Kapital verbürgt, welches von der Entstehung des Produktes an, bis zu seinem endgültigen Konsum durch den Verbraucher, beteiligt war. Die Arbeiter erhalten also immer so viel Lohn zu wenig, wie die Verzinsung des gesamten Kapitals ausmacht, dessen sie zur Arbeit und bei ihrer Lebenshaltung bedürfen.
Aber auch alle anderen Erwerbsklassen, die in irgendeiner Form „Kapital“ benutzen, das ihnen nicht gehört, das sie sich also „leihen“ müssen, haben zur Verzinsung des gesamten Anlage- und Betriebskapitals beizutragen.
Ob wir uns durch Arbeitsvertrag Produktionsmittel leihen (arbeiten), ob wir uns durch Mietsvertrag eine Wohnung leihen (mieten), ob wir uns durch eine Fahrkarte die Bahn oder ein Schiff leihen (reisen), oder ob wir als Konsumenten das Kapital des Kaufmanns, seines Lieferanten und seines Hauswirtes in Anspruch nehmen — auf Schritt und Tritt sind wir alle Zinssklaven des Kapitals.
Schadlos halten können sich nur diejenigen, deren eigenes Zinseinkommen mindestens ebenso groß ist, wie die Zinsrate, die sie selbst durch ihre Lebenshaltung oder ihren Betrieb an andere Kapitalisten zahlen müssen.
Die große Masse jedoch wird durch den ständigen...