1 Einleitung
1.1 Problemstellung und Forschungsziele
Wenn Lehrerinnen und Lehrer ihren Unterricht planen und gestalten, dann strukturieren sie dabei unter anderem den zeitlichen Verlauf des Unterrichts. Ausgehend von der jeweiligen Zielsetzung, gliedern sie die einzelnen Schulstunden in verschiedene Phasen, mit unterschiedlichen Aufgabenstellungen und Organisationsformen. Dabei strukturieren sie – bewusst oder unbewusst – auch den zeitlichen Verlauf der Lernprozesse ihrer Schülerinnen und Schüler. Videostudien im Physikunterricht und in anderen Fachbereichen haben gezeigt, dass diese Strukturierung der Lernverläufe entscheidend zu einem gelingenden Lernen beitragen kann (Draxler, 2006; Haenni, 1996; Sarasin, 1995; Trendel, Wackermann & Fischer, 2007, 2008; Wackermann, 2008; Wagner, 1999) und dass eine theoriegeleitete Strukturierung des Lern-Lehr-Prozesses auf der sogenannten Basis- oder Tiefenstruktur des Unterrichts ein entscheidendes Qualitätsmerkmal guten Unterrichts darstellt (Bähr, 2009; Helmke, 2009; Kiper & Mischke, 2004; Klette, 2007; Kunter & Voss, 2011; Meyer, Pfiffner & Walter, 2007; Pauli & Reusser, 2006; Prenzel, 2009; Messner & Reusser, 2006).
Lehren, so die viel geteilte Meinung unter Unterrichtsforschern und Didaktikern, sollte konsequent aus der Perspektive der Lernenden geplant werden, und die Kunst des Unterrichtens besteht im Wesentlichen darin, den Unterrichtsverlauf mit dem Lernverlauf der Schülerinnen und Schüler in Einklang zu bringen (Alexander, Schallert & Reynolds, 2009; Helmke, 2009; Mayer, 2008; Meyer, 2004; Prenzel, 2009; Sawyer, 2006). Hascher (2009, S. 169) fordert für die Schule der Zukunft, dass Lehrpersonen sich zu Expertinnen und Experten des Lernens entwickeln müssen, welche ihr Lehren primär am Lernen der Schülerinnen und Schüler ausrichten, und Helmke (2009) gibt zu bedenken, dass die Wirksamkeit des Unterrichts eigentlich nur dann begriffen werden kann, wenn man „vom Lernen her denkt“ (S. 15). Dieser Grundgedanke liegt auch einer allgemeindidaktischen Theorie von Oser und Patry (1990) zugrunde. Ihnen ist es gelungen, Lernverläufe aus der Sicht von Schülerinnen und Schülern zu beschreiben, und als Lern-Lehr-Modelle (Basismodelle) so aufzubereiten, dass Lehrpersonen bei der Unterrichtsplanung und -gestaltung darauf Bezug nehmen können. Zahlreiche fachdidaktischen Adaptionen dieser Theorie haben den Nutzen der Basismodelle für die variable Lernverlaufsgestaltung unter Beweis gestellt. Im Fachbereich Bewegung und Sport hingegen finden wir bisher keine gleichermaßen elaborierte und empirisch geprüfte Lern-Lehr-Theorie.
In der Vergangenheit wurde das Verhältnis zwischen Lernen und Lehren zu einseitig interpretiert und man begnügte sich damit, methodische Hinweise zum Lehren zu formulieren, die sich direkt auf das Lernen der Schülerinnen und Schüler auswirken sollten. Erdmann und Amesberger (2008) bilanzieren im historischen Rückblick, dass lange Zeit das Sportlehrerhandeln im Mittelpunkt pädagogisch-didaktischer Überlegungen für den Sportunterricht stand und eine „nahezu deterministische Verknüpfung von Lehren und Lernen die Ansätze bestimmte“ (S. 663). Während man in älteren Didaktik- oder Methodiklehrbüchern (z. B. Egger, 1991; Grössing, 2007: Erstauflage 1977; Fetz, 1996: Erstauflage 1979; Bielefelder Sportpädagogen, 2007: Erstauflage 1998) noch allgemeine Hinweise zur Lernverlaufs- oder Lernwegsgestaltung findet, fehlen entsprechende Angaben in neueren Werken teilweise vollständig. Lernen wird von Autoren wie Lange und Sinning (2010) oder Prohl (2012) in einem bildungstheoretischen Verständnis als selbstverantwortender Lernprozess betrachtet, der möglichst frei zu gestalten und deshalb auch nicht näher (schon gar nicht bewegungswissenschaftlich) zu bestimmen ist.
Der rote Faden einer Sportlektion wird in der Regel in einer thematischen Schwerpunktsetzung gesehen und die Wahl der Aktions- und Organisationsformen orientiert sich am Thema und weniger an den Lernprozessen der Schülerinnen und Schüler (vgl. Eidgenössische Sportkommission, 2005; Gower, 2010; Mally, 2009; Reckermann, 2004). Gemäß einer empirischen Untersuchung von Schmoll (2005, S. 215) folgt die Unterrichtsplanung von Sportlehrpersonen einem fixen Schema. Zuerst wird ein Themenbereich festgelegt und nach einer inhaltlichen Klärung des gewählten Themas folgt eine Planung über den zeitlichen Verlauf des Unterrichtsvorhabens. Zielführende und erfolgreiche Stundenverläufe werden von der Lehrperson abgespeichert und bei Bedarf in gleicher oder ähnlicher Form mit neuen Klassen reproduziert. So entwickeln Lehrpersonen über kurz oder lang ein „individuelles Strickmuster“ (Meyer, 1987, S. 133) der Phasierung des Unterrichts. Meyer (2004) sieht eine der wichtigsten Aufgaben der Didaktik darin, solche erfahrungsbasierten Muster immer wieder zu durchbrechen und auf einer theoretischen Basis kritisch zu hinterfragen. Diese theoretische Basis ist aber im Unterrichtsfach Bewegung und Sport bislang erst auf der sogenannten Oberflächenstruktur des Unterrichts hinreichend begründet und soll mit dieser Arbeit um den tiefenstrukturellen Aspekt der Lernverlaufsplanung ergänzt werden (vgl. Oser & Patry, 1990).
Die Bedeutung einer theoriegeleiteten Lernverlaufsgestaltung für die Unterrichtspraxis wird von Laging (2006) wie folgt beschrieben: „Auch wenn sich nur sehr schwer, und je nach Theorie in unterschiedlicher Weise, Aussagen über den Prozess des Lernens machen lassen, so muss jedes methodische Handeln und jedes Methodenkonzept eine Vorstellung davon haben, was Lernen ist“ (S. 71). Die Frage, was Lernen ist, oder präziser, wie Lernen im zeitlichen Verlauf theoriegeleitet gestaltet werden kann, muss deshalb je nach gewählter theoretischer Position jeweils neu gestellt werden. Was ist für einen Lernenden wichtig, um an einem Modell lernen zu können? Was sind wichtige Zwischenziele auf einem erfahrungsorientierten Lernweg? Was kann eine Schülerin oder ein Schüler bei der Lösung eines Problems lernen? Wie lerne ich in möglichst kurzer Zeit eine sportliche Bewegungsfertigkeit? Auf solch vielfältige Fragen wollen wir im Rahmen dieser Forschungsarbeit Antworten finden, um Lehrkräften Orientierungshilfen für eine theoriegeleitete Lernverlaufsplanung bieten zu können. Wie sehen theoretisch begründete und empirisch überprüfbare Lernverläufe im Sport aus und wie lassen sie sich im Unterricht realisieren, lautet die übergeordnete Forschungsfrage, an der wir uns in dieser Entwicklungsarbeit orientieren. Daraus lassen sich drei miteinander verbundene Forschungsziele ableiten. Die vorliegende Dissertation soll
1. … einen Beitrag zur fachdidaktischen Theorieentwicklung liefern, indem Lern-Lehr-Modelle (Basismodelle) zur Lernverlaufsgestaltung im Sportunterricht entwickelt, überprüft und optimiert werden.
Wir teilen die Auffassung von Kinchin (2010), Metzler (2005) sowie Dyson, Griffin und Hastie (2004), dass Lern-Lehr-Modelle oder Instruktionsmodelle ein geeigneter Weg sind, um Sportlehrkräfte für Planungs- und Gestaltungsaspekte im Sportunterricht zu sensibilisieren und ihnen einen praxisbezogenen Orientierungsrahmen für ein lernerzentriertes Lehrerhandeln bieten. Die Modelle erheben den Anspruch, nicht bloß praxisbezogen, sondern praktikabel zu sein. Um dies zu gewährleisten, werden die Basismodelle in enger, partnerschaftlicher Zusammenarbeit mit Sportlehrpersonen im Feld entwickelt. Daraus ergibt sich das zweite Entwicklungsziel. Die Dissertation soll
2. … auf lokaler Ebene dazu beitragen, Unterrichtspraxis theoriegeleitet zu verbessern und mithilfe einer Lern-Lehr-Broschüre Orientierungsgrundlagen zur modellbasierten Lernverlaufsgestaltung im Sport zu schaffen.
Die Lern-Lehr-Broschüre als Informationsträger soll die Lehrpersonen bei der Umsetzung eines basismodellorientierten Sportunterrichts unterstützen und sie soll auf einen Entwicklungsstand gebracht werden, der weitere Vermittlungszwecke ermöglicht. Die Umsetzung wird im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit mittels einer videogestützten Unterrichtsbeobachtung erfasst und anschließend ausgewertet. Für den Fachbereich Bewegung und Sport liegen noch keine Erhebungsinstrumente zur Erfassung der sogenannten Basis- oder Tiefenstruktur des Lernens im Unterricht vor (vgl. Jeisy, 2009). Aus diesem Defizit in der Methodenentwicklung leitet sich das dritte Forschungsziel dieser Arbeit ab. Die Dissertation soll
3. … das Methodeninstrumentarium der sportbezogenen Lehr-Lern-Forschung um ein systematisches Beobachtungsinstrument zur Lernverlaufsanalyse erweitern.
Anstelle von sportbezogener Lehr-Lern-Forschung könnte es auch „Schulsportforschung“ (Kleiner, 2009a), „Schulsportentwicklungsforschung“ (Balz, 2011a) oder „empirische Unterrichtsforschung auf der Grundlage sportpädagogischer Theorie“ (Bähr, 2008) heißen. Wir teilen die Auffassung von Gräsel (2006a, S. 98), dass Unterrichtsforschung grundsätzlich interdisziplinär ausgerichtet ist, und wir orientieren uns bei der Methodik an...