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Chronik des unterschätzten Menschen. Alexander Kluge im Kontext der Kritischen Theorie

Alexander Kluge im Kontext der Kritischen Theorie

AutorSilvio Wolff
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2007
Seitenanzahl81 Seiten
ISBN9783638780674
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis27,99 EUR
Magisterarbeit aus dem Jahr 2003 im Fachbereich Philosophie - Theoretische (Erkenntnis, Wissenschaft, Logik, Sprache), Note: 1,5, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald (Philologie), 20 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Am Ende des 20. Jahrhunderts, genau im Jahre 2000, veröffentlicht Alexander Kluge seine 'Chronik der Gefühle', ein über 2000seitiges Kompendium von Geschichten der Moderne. Sie enthält einen Rückblick auf die 4,2 Milliarden Jahre der Menschwerdung, auf die Entwicklung der menschlichen Zivilisation und ihre Organisation des Zusammenlebens. Gleichzeitig untersucht Kluge in literarischer Form die Gegenwart, die Moderne, ihre Ziele und ihre Verfehlungen. Daraus ergeben sich folgende Fragen: Was ist schiefgelaufen? Wer oder was ist schuld daran? Ist der Mensch dazu verdammt, in einer von Krieg und anderen Katastrophen beherrschten Welt zu leben? Gibt es Auswege? Diese Fragen weisen auf eine lange Tradition zurück. Der Begriff 'Kultur' spielt eine entscheidende Rolle. An diesem Punkt setzt Georg Simmel in seinem 1911 erschienenen Aufsatz 'Der Begriff und die Tragödie der Kultur' an und entwickelt seine Kulturtheorie, die Ausgangspunkt dieser Arbeit sein soll. Er beschreibt das tragische Spannungsverhältnis von Subjekt und Objekt, von Mensch und kulturellen Produkten, wodurch sich die moderne Fehlentwicklung ergibt. Simmel bildet mit seiner grundlegenden Analyse des Subjekt-Objekt Verhältnisses den Anfang der theoretischen Grundbestimmung dieser Arbeit. Daran knüpfen die Kulturtheorien von Adorno/Horkheimer und Habermas an, die für Alexander Kluge von entscheidender Bedeutung sind. Er selbst hat sich zusammen mit Oskar Negt in einer eigenen Theorie mit dem Thema auseinandergesetzt. Es ergeben sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede der vier Kulturanalysen, die in ihren Grundzügen herausgearbeitet werden sollen. Von Bedeutung sind die verschiedenen Ansätze der Betrachtung des Kulturproblems, um den Kontext der Arbeit Kluges zu verdeutlichen. Der Subjekt-Objekt Dualismus, das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft stellt sich als zentrales Thema heraus. Auch Kluges 'Chronik der Gefühle' behandelt dieses Problem und es wird sich zeigen, wie es in seinen Geschichten realisiert wird. So ergeben sich die leitenden Fragen an die 'Chronik der Gefühle'. Wie verwirklicht Alexander Kluge die Ergebnisse der theoretischen Analysen? Wie verarbeitet er sie? Welche Möglichkeiten und Auswege aus der Krise der Moderne und der Tragödie der Kultur gibt es?

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Leseprobe

3. Alexander Kluge – Die "Chronik der Gefühle"


 

Dieses Kapitel wendet sich nun Kluges literarischem Schaffen zu, welches eng mit seiner theoretischen Arbeit, die im Kontext der sogenannten Kritischen Theorie steht, verbunden ist.

 

Dabei beziehe ich mich in erster Linie auf die im Jahre 2000 erschienende "Chronik der Gefühle", die neben neueren Erzählungen auch eine Sammlung älterer Geschichten enthält, so daß dieses Werk mit seinen 2000 Seiten einen Querschnitt des literarischen Schaffens Alexander Kluges darstellt.

 

Durch die Vielzahl der einzelnen, großteils lose geordneten Erzählungen verwirklicht Kluge sein Konzept einer Chronik. Eine Chronik, die sich zum einen diachron auf die 4,2 Milliarden Jahre der Menschwerdung bezieht, und zum anderen sich allgemein bemüht die Vielfalt und Eigentümlichkeit des menschlichen Individuums episodisch zu erfassen. Auch wenn Kluge nicht versucht, ein abgeschlossenes System zu entwickeln, ist es immer der Anspruch auf Vollständigkeit, der die Vielzahl der Geschichten motiviert.

 

In Verbindung mit dem Thema meiner Arbeit ergeben sich verschiedene Grundmotive Kluges, die Ausgangspunkt für die weitere Gliederung dieser Arbeit darstellen. Dabei ist zu beachten, daß die verschiedenen Motive sich gegenseitig bedingen und deshalb auch nur schwer voneinander getrennt werden können. Diesem Umstand wird im folgenden Rechnung getragen. Gleichzeitig bedarf es einer systematischen Auseinandersetzung und so ergeben sich bestimmte Schwerpunkte, woraus die weitere Vorgehensweise resultiert.

 

Ein primäres Anliegen der Klugeschen Texte ist die Analyse der Gesellschaft. Auf unterschiedlichste Weise werden Strukturen und komplexe Zusammenhänge des Lebens und der Gesellschaft aufgezeigt, wobei die Krise der Moderne zutage tritt. Diesem wird im Kapitel 3.1. nachgegangen. 

 

Daraus ergibt sich eine Besonderheit der Erzählweise Kluges und ein zentrales Motiv: das Gefühl. Welche Bedeutung das Gefühl für den Autor und die Geschichten einnimmt, wird in Kapitel 3.2. ausführlich behandelt.

 

Kapitel 3.3. beschäftigt sich mit der Frage, in wie weit sich die bereits angesprochenen Ideen der Aufklärung in den Texten wiederfinden. Welche Gedanken der Aufklärung greift Kluge auf und wie werden sie gegebenenfalls umgesetzt?

 

Insgesamt wird die Bearbeitung der Texte immer auf dem Hintergrund der dargestellten Theorien stattfinden. Welche theoretischen Motive verwendet Kluge in seiner „Chronik der Gefühle“? Wie veranschaulicht er sie? Wie verwirklicht er sein optimistisches Konzept der Förderung eines kritischen und aufgeklärten Menschen?

 

3.1.  Der Mensch und seine Gesellschaft


 

Alexander Kluge versteht "die Realität als einen vielfach übereinandergeschriebenen Geschichtstext, der die ursprünglichen Motive, die subjektive Zuarbeit konkreter Menschen mehr und mehr überlagert hat."[46] Er sieht nun seine Aufgabe in der Abarbeitung dieser verschiedenen Schichten, um die eigentlichen Zusammenhänge von Realität und Gesellschaft wieder freizulegen und die Position des Menschen herauszustellen.

 

3.1.1. Die Macht der Geschichte


 

Große und bedeutende Ereignisse der Geschichte wie der zweite Weltkrieg, die studentischen Protestbewegungen oder die Vereinigung der BRD und der DDR im Jahre 1989 bilden den Hintergrund der Erzählungen in der „Chronik der Gefühle“. Die Helden der Geschichten sind Berühmtheiten der Weltgeschichte, wie Heidegger, Hitler oder Gorbatschow, aber auch Menschen, die sonst als Statisten fungieren wie Soldaten, Hausfrauen oder Ehemänner.

 

Kluge versucht in seiner Chronik nicht, objektive Geschichte darzustellen und zu vermitteln, sondern „Chronik der Gefühle“ bedeutet, daß er „nach der subjektiven Seite der Geschichte“[47] sucht. Dabei geht es ihm, um eine Verbindung von Geschichte und Individuum, von subjektiver Erfahrung und objektiver Realität.

 

Es wird herauszustellen sein, in wie weit diese zwei Komponenten inhaltlich behandelt werden und wie Kluge analog dazu versucht, die Form dem Inhalt anzupassen. Dazu sollen einzelne Geschichten exemplarisch untersucht werden, wobei das Verhältnis einzelner Menschen zum historischen Geschehen besonders deutlich in dem Kapitel Lebensläufe[48] zutage tritt. Erzählt werden Geschichten verschiedener Personen im Handlungszeitraum des Dritten Reiches und der Nachkriegszeit. Es wird der Frage nachgegangen, in wie weit die geschichtliche Entwicklung und die daraus resultierende Gesellschaft das Individuum prägen.

 

Anita G.[49]

 

Das Leben der Anita G. wird von einem Akt geschichtlicher Gewalt ergriffen: dem Dritten Reich. Eine Macht trennt sie von ihren Eltern und Großeltern, wodurch sie völlig isoliert der Welt gegenübergestellt wird. "Unter dem Treppenaufbau hockend"[50] verbirgt sich das Kind im Dunklen und duckt sich somit unter der Macht der Geschichte. Auch wenn diese Macht anonym bleibt, zieht Kluge das ganze deutsche Volk zur Verantwortung. Wenn er in einem Nebensatz erwähnt, daß "keiner geglaubt hätte"[51], daß die Eltern nach der Kapitulation aus dem KZ zurückkommen, impliziert dies das Wissen aller über die Greuel, welche vom Naziregime ausgingen. Die anschließende Bewertung der deutschen Niederlage als "Kapitulation" verstärkt die Zugehörigkeit aller zu dieser anonymen Macht.

 

Kluge skizziert zu Beginn der Geschichte in kurzen Zügen den historischen Kontext und die damit verbundene Erfahrung der Heldin, da dadurch ihr weiteres Leben und Verhalten bestimmt wird. Als Folge der Isolation beginnt Anita G. nach Beendigung des Krieges ihre ständige Flucht, welche durch diverse Straftaten begleitet wird. Als Zeichen der brutalen Macht prägen sich ihr "die Stiefel" ein, wodurch die gewaltausübende Gruppe entpersonalisiert wird. Die Stiefel stehen für die politische Herrschaft, die mit brutalen Unterdrückungsmechanismen der Nationalsozialisten verbunden ist. Die Prägung zeigt sich im weiteren Verlauf der Geschichte durch eine ähnliche Reduzierung der Vermieterin Schepp auf: "großer, ungewöhnlicher Hut, große, funkelnde Augen, voller Eitelkeiten."[52] Auch sie tritt analog der SS-Männer nicht als Individuum auf, sondern vielmehr steht auch sie für eine anonyme und abstrakte Macht. Sie besitzt Geld und übt somit eine ökonomische Herrschaft aus. Anita G. begegnet also einer weiteren Macht, die der ökonomischen, die durch Frau Schepp verkörpert wird.[53]

 

Deutlich wird dabei die Funktionalisierung der Personen, welche auch bei der Heldin selbst nicht halt macht, da auch sie nicht als individuelle Person dargestellt wird, sondern Modelfigur bleibt. Alexander Kluge benutzt sie, um Grundzüge der deutschen Gesellschaft darzustellen.

 

Die gezeigten Machtverhältnisse erzeugen Angst und drängen Anita G. zu einer ständigen Flucht, was zwar als eine aktive Handlung verstanden werden kann, aber eigentlich von Passivität gegenüber der Gesellschaft zeugt. Sie stellt sich ihr nicht gegenüber oder versucht sie gar zu verändern. Sie paßt sich auch nicht an oder fügt sich ein, sondern läuft einfach davon und ändert nichts an den objektiven Gesellschaftsstrukturen. Während der ganzen Erzählung ist Anita G. einem ständigen Druck ausgesetzt. Zu Beginn wird sie von den SS-Männern bedroht, anschließend von Normen, von Gefängnismauern und letztendlich im Krankenhaus mit Penicillin "eingekreist".[54] Die gesellschaftlichen Normen und Strukturen umgeben sie immer und überall, so daß ihre Flucht letztendlich vergeblich ist.

 

E. Schinke[55]

 

In dem Lebenslauf des E. Schinke wirkt sich die Macht der Geschichte an dem Oberstudiendirektor Eberhard Schinke aus, der einen deutschen Intellektuellen verkörpert. Er schließt sich anfänglich dem Naziregime an, da er seine Ideale und Hoffnungen eines konservativen Weltbildes damit verbindet. Als er seinen Irrtum bemerkt, ändert er seine Meinung und wendet sich vom System ab, aber nicht ihm entgegen. Er sieht nicht die Veranlassung, "sich gegen etwas zu wenden, das ihn nicht unmittelbar bedrohte, wenn es ihn nur am Rande belästigte."[56]

 

Die Erzählung schildert dann einen Versuch, aus dem Geschehen auszuscheiden, indem er mit einem Schüler-Transport das vorgegebene Ziel nicht erreicht, sondern sich in einer Scheune versteckt. Schinke versucht, eine Position jenseits des historischen Geschehens einzunehmen, jedoch läßt die Geschichte nicht zu, daß die Menschen sich ihr entziehen und so werden er und seine Schüler wieder auf den Hauptweg der Geschichte zurückgeführt. Genau wie auch Anita G. muß sich Schinke mit den realen Begebenheiten auseinandersetzen und entscheidet sich für die Flucht, welche erfolglos bleibt. Nach dem Versuch der physischen Flucht wendet sich Schinke seiner wissenschaftlichen Arbeit über die Bildungsreform Karls des Großen zu, was einer geistigen Flucht entspricht. Ironischer Weise beinhalten seine mittelalterlichen Texte eine seiner genau entgegengesetzten Handlungsweise. Der Kleriker Alkuin fordert keinen Privatismus, sondern spricht sich eher für ein...

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