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Clean - Sucht verstehen und überwinden

Ein revolutionärer Erklärungsansatz und neue Chancen für die Therapie

AutorMaia Szalavitz
Verlagmvg Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl416 Seiten
ISBN9783961210879
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR
Alkohol, Drogen, verschreibungspflichtige Medikamente, Sex, Glücksspiel, Pornografie oder das Internet - heute gibt es mehr Menschen denn je, die von einer Sucht betroffen sind. Doch trotz der hohen medialen Aufmerksamkeit beruhen unser Erklärungsansatz und unsere Therapiemethoden auf veralteten Ideen und Annahmen. Mit ihrem New York Times-Bestseller bietet Maia Szalavitz einen Denkansatz, der Sucht völlig neu definiert. Sie widerlegt, dass Süchtige ein 'kaputtes Gehirn' oder eine 'Suchtpersönlichkeit' haben, und betrachtet Süchte stattdessen als Entwicklungsstörungen. Indem wir Sucht auf diese Weise betrachten, können wir nicht nur die Fehler herkömmlicher Therapiemethoden erkennen, sondern finden auch bessere Alternativen. Es sind die persönliche Geschichte, die Familie, Freunde, die Kultur sowie Chemikalien in der Umwelt, die eine Sucht auslösen. Wenn wir verstehen, wie diese Faktoren zusammenspielen und die Krankheit ausgelöst haben, liegt darin auch der Schlüssel zur Heilung. Maia Szalavitz, die früher selbst heroin- und kokainabhängig war, verbindet in ihrem Buch ihre eigenen Erfahrungen mit den Erkenntnissen aus mehr als 20 Jahren Forschung auf dem Gebiet Sucht und Abhängigkeit - eine einzigartige Kombination aus Authentizität und wissenschaftlichem Fachwissen.

Maia Szalavitz ist eine der führenden amerikanischen Journalistinnen, die über Süchte und Drogen schreiben. Ihre Arbeiten erscheinen unter anderem in der New York Times und im Scientific American. Ihr Buch Help at Any Cost war der erste ausführliche Enthüllungsbericht über die 'liebevolle Strenge', die unsere Drogentherapie dominiert, vor allem bei Teenagern. Sie war 2015 und 2016 Soros-Justice-Stipendiatin und erhielt von der amerikanischen psychologischen Gesellschaft, der Allianz für Drogenpolitik und dem amerikanischen College für Neuropsychopharmakologie wichtige Preise für ihre Arbeiten über Neurowissenschaft und Sucht.

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Leseprobe

Einführung


Zwischen den Mächten der Pathologie und der Schöpfung kommt es häufig zu einem Kampf und, noch interessanter, bisweilen zu einem heimlichen Einverständnis.

Oliver Sacks

Ich liege im dünnen Metallrohr des Gehirnscanners im Semel-Institut für Neurowissenschaft und menschliches Verhalten der UCLA und versuche, nicht an Särge und Erdbeben zu denken. Auf meinem Oberschenkel liegt ein Gummiball, den ich drücken soll, wenn ich in Panik gerate, und der mich sofort von der riesigen, donutförmigen weißen Maschine befreien kann. Jetzt liegt mein Kopf mitten im Loch. Vorher wurde ich auf Gleitschienen hineingeschoben und musste unwillkürlich an die Schubladen denken, in denen die Toten im Leichenschauhaus liegen. Obwohl ich Ohrstöpsel trage, kommt mir das Dröhnen des Gerätes, begleitet von gelegentlichem Rütteln und schrillem Piepen, ohrenbetäubend vor. Da ich an Platzangst leide und lauten Lärm verabscheue, versuche ich, mich auf meine Atmung zu konzentrieren. Eine meiner Aufgaben besteht darin, meine Impulskontrolle zu messen, aber es erfordert fast meine ganze Willenskraft, um den Ball nicht sofort zu drücken und zu fliehen.

Ich werde nicht gescannt, weil ein Arzt es mir verordnet hat. Nein, ich habe selbst beschlossen, mich als Teil eines Experiments in diese enge Röhre zu begeben. Ich will Süchte und meine eigene Suchtgeschichte besser verstehen lernen. Wie konnte es passieren, dass ich, ein »begabtes« Kind und eine Stipendiatin einer Eliteuniversität, mir bis zu 40 Mal am Tag Kokain und Heroin spritzte? Warum wurde ich mit 23 geheilt, obwohl viele andere dafür viel länger brauchen oder nie genesen? Wichtiger noch, welche Faktoren bestimmen, wer süchtig wird, wer die Sucht überwindet und wer es nicht schafft? Und wie können wir als Gesellschaft besser mit der Sucht umgehen? Während ich im Scanner warte, erinnere ich mich an die letzten Tage meines Drogenkonsums, eine verstörende Phase im Jahr 1988, als ich meine Zeit ausschließlich damit verbrachte, mir eine Spritze zu verabreichen, Drogen zu verkaufen oder mir welche zu beschaffen. Ich überlege, was sich geändert hat – und was sich nicht geändert hat.

Wäre ich in den 1980er Jahren eingenickt und 2015 irgendwie wiederbelebt worden, hätte ich leider kaum einen Unterschied bemerkt, was den Umgang mit Süchten und die damit verbundene Terminologie anbelangt. Sicher, mindestens vier amerikanische Bundesstaaten und Washington haben den Verkauf von Marihuana als Partydroge erlaubt. Das würde alle schockieren, die sich nur noch an die Jahre des »Keine Macht den Drogen« erinnern. Und ja, Suchtverhalten ist wieder Thema in den Medien. Allerdings geht es heutzutage nicht um Crack, sondern um Internetsucht, Sexsucht, Esssucht und Spielsucht. Am meisten Aufmerksamkeit erregt der tragische Tod von Stars und anderen Menschen durch Überdosierung von Medikamenten. Überdosen sind heute sogar die Hauptursache für Tod durch Unfall, noch vor Verkehrsunfällen.1

Mehr Menschen denn je zuvor betrachten sich heutzutage als süchtig oder glauben, nach übermäßigem Substanzgebrauch auf dem Weg der Besserung zu sein. In einer großen, landesweiten Umfrage im Jahr 2012 erklärte einer von zehn erwachsenen Amerikanern, er habe irgendwann in seinem Leben Drogen- oder Alkoholsucht überwunden.2 Das sind mehr als 23 Millionen Menschen. Mindestens weitere 23 Millionen leiden derzeit an irgendeiner Störung, die mit übermäßigem Substanzgebrauch zusammenhängt.3 Nicht berücksichtigt sind die Millionen Menschen, die nach eigenen Angaben süchtig nach Sex, Glücksspielen oder Online-Aktivitäten sind oder sich gerade davon erholen. Berücksichtigt sind auch nicht die Millionen, die an Essstörungen leiden. Nachdem die American Medical Association im Jahr 2013 verkündete, Fettleibigkeit sei eine mit Sucht vergleichbare Krankheit, könnte einer von drei Amerikanern wegen seines Übergewichts nunmehr als süchtig gelten.4

Gleichzeitig scheinen die Konzerne, die Medikamente, Nahrung, Tabak, Alkohol und andere Produkte verkaufen, genau zu wissen, was Süchte sind und wie man sie manipuliert. Die meisten Amerikaner – auch die meisten Menschen mit Drogenproblemen und ihre Angehörigen – wissen das nicht. Gefangen in überholten Ideen – von denen sich viele seit den Tagen der Prohibition nicht verändert haben –, führen wir immer wieder die gleichen müden Debatten und setzen kontraproduktive Strategien durch, die Menschen kriminalisieren. Das muss nicht sein.

Ich schlage in diesem Buch einen neuen Blickwinkel vor, der dazu beitragen könnte, diese Stagnation zu beenden und mit neuen Methoden Suchtverhalten zu behandeln, zu verhindern und in den Griff zu bekommen. Wie ich in diesem Buch zeigen werde, ist Sucht keine Sünde und keine freie Wahl. Aber sie ist auch keine chronische, fortschreitende Gehirnkrankheit wie Alzheimer. Eine Sucht ist vielmehr eine Entwicklungsstörung, ein Problem, bei dem es um Timing und Lernen geht. Sucht ähnelt eher dem Autismus, dem Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) und der Legasthenie als Krankheiten wie Mumps oder Krebs. Das geht sowohl aus vielen Daten als auch aus den gelebten Erfahrungen von Menschen mit Süchten eindeutig hervor.

Wie der Autismus führt auch eine Sucht zu Schwierigkeiten im Umgang mit anderen. Und wie beim ADHS können überraschend viele Menschen aus ihrer Sucht herauswachsen. Mehr noch, eine Sucht kann wie andere Entwicklungsstörungen mit Talenten und Vorteilen einhergehen – nicht nur mit Defiziten. Viele Menschen mit ADHS sind beispielsweise erfolgreiche Unternehmer oder Forscher,5 während autistische Menschen oftmals in detailorientierten Aufgaben glänzen, hochbegabte Musiker, Künstler, Mathematiker oder Programmierer sind.6 Legasthenie wiederum kann die Verarbeitung visueller Informationen und das Erkennen von Mustern verbessern,7 was auch in Naturwissenschaften und in der Mathematik hilfreich ist. Sucht ist häufig mit einem starken Antrieb und mit Besessenheit verbunden, was, richtig kanalisiert, Leistungen aller Art begünstigen kann. In allen diesen Fällen verschwimmen die Grenzen zwischen normalem und gestörtem Verhalten.

Natürlich scheinen die Unterschiede zwischen einer Sucht und anderen Entwicklungsstörungen in mancher Hinsicht extrem groß zu sein, vor allem weil eine Sucht offenbar bewusste und wiederholte Entscheidungen voraussetzt, von denen einige, etwa der Konsum illegaler Drogen, als grundsätzlich unmoralisch gelten. Frühkindliche Traumata können bei der Sucht ebenfalls eine wichtige Rolle spielen, während all dies beim Autismus nicht der Fall ist. Diese Unterschiede verdecken jedoch wichtige Gemeinsamkeiten. Sowohl beim Autismus als auch bei Süchten wird beispielsweise wiederkehrendes Bewältigungsverhalten häufig als Ursache des Problems fehlinterpretiert, anstatt es als Lösungsversuch zu werten. Bei schwer vernachlässigten Kindern ist sogar oft autismusähnliches Verhalten zu beobachten.8 Sie schaukeln zum Beispiel ständig hin und her, um sich zu beruhigen oder anzuregen. Misshandelte Kinder leiden scheinbar oft an ADHS, weil sie hypervigilant sind, das heißt extrem anfällig für »Ablenkungen«, etwa für Türknallen.

Bei allen diesen Störungen – auch beim Autismus selbst – sind wiederkehrende, hyperwachsame oder destruktive Verhaltensweisen meist nicht das Hauptproblem; für gewöhnlich handelt es sich um Bewältigungsverhalten (Coping), um den Versuch, mit einem Umfeld zurechtzukommen, das häufig als bedrohlich oder überwältigend wahrgenommen wird. Ähnlich ist es beim Suchtverhalten: Es ist oft eine Suche nach Sicherheit, nicht ein Versuch, zu rebellieren oder sich egozentrisch nach innen zu wenden – was früher auch autistischen Kindern vorgeworfen wurde. In diesem Buch wird immer wieder deutlich werden, dass Menschen mit Entwicklungsstörungen einschließlich Sucht unnötig stigmatisiert werden, wenn man ihre verständlichen Bemühungen, sich selbst zu schützen, als hedonistisch, egoistisch oder »verrückt« bezeichnet. Dadurch helfen wir ihnen nicht, sondern verstärken ihre Störungen noch.

Kritisch anzumerken ist, dass eine Sucht nicht einfach dadurch entsteht, dass jemand mit Drogen in Berührung kommt. Sie ist auch nicht die unvermeidliche Folge eines bestimmten Persönlichkeitstyps oder der Gene, obwohl diese Faktoren eine Rolle spielen. Sucht ist vielmehr eine erlernte Beziehung zwischen dem Timing und dem Muster der Konfrontation mit Substanzen oder anderen potenziell süchtig machenden Erfahrungen einerseits und der Veranlagung eines Menschen, seiner kulturellen und physikalischen Umwelt sowie seiner sozialen und emotionalen Bedürfnisse andererseits. Das Stadium der Gehirnreifung ist ebenfalls wichtig: Süchte kommen weitaus seltener bei Menschen vor, die Drogen zum ersten Mal konsumieren, wenn sie älter als 25 Jahre sind, und sie legen sich häufig mit oder ohne Behandlung bei Menschen Mitte zwanzig, wenn...

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