1 Eine großartige Idee
Es hätte ein rauschendes Fest werden sollen: 200 Jahre Wiener Kongress bieten reichlich Stoff für die neuerdings begehrte »Erzählung über Europa« – über Frieden und Freuden, Reaktion und nach langwierigen Verhandlungen auch ein paar Fortschritte. Ich habe Kollegen und Freundinnen zu gewinnen versucht, mit wichtigen Leuten gesprochen, habe Partner für einen großartigen internationalen Event gesucht. Wir wollten Europa besichtigen, die Erfolge feiern und die Fehler beachten, um die Vergangenheit neu, besser und selbstverständlich demokratisch zu entwerfen. Die Musikfreunde hätten Haydn und Beethoven nachgespielt, auf Kleinbühnen wären längst vergessene Komödien von damals aufgeführt worden. Künstler sollten »lebende Bilder« inszenieren, sangesfreudige Damen und Herren hätten zur Erinnerung an den Todestag von Ludwig XVI. ein dissonantes Requiem im Wiener Stephansdom aufgeführt, mit kritisch-aufklärerischen Kommentaren über das Ende des Feudalismus und die Gewalt entfesselter Revolutionäre. (Die Konditoreien hätten sich nicht entgehen lassen, Guillotinen zu backen, aber nur außerhalb des offiziellen Programms.)
Abenteurer und Lebenskünstler, Spekulanten und Müßiggänger aus ganz Europa hätten nicht, wie vor 200 Jahren, anreisen müssen, weil wir eine virtuelle Plattform bauen und junge Musiker aller europäischen Länder über elektronische Kanäle in die Gärten österreichischer Botschaften einladen wollten, sie hätten mit allen Raffinessen moderner Medien mit der ganzen Welt gefeiert; Schüler und deren Geschichtslehrer hätten die Mythen über ihre jeweiligen Länder verglichen und sie – nach ein paar furchtbar intelligenten Diskussionsveranstaltungen – umgeschrieben.
Auch eine Vortragsreihe war schon skizziert: 200 Jahre Politik als Event, 200 Jahre Korruption, Verschuldung, Überwachung und bestechliche Intellektuelle – alles wäre vorgekommen, der Staatsbankrott, die Bespitzelung, Krisen, Kompromisse und die mühselige Arbeit in Ausschüssen und Kommissionen, die trotz all der Bälle erledigt wurde. Österreich hätte sein Image verbessert wie damals, als Clemens Wenzel Lothar Fürst von Metternich im Auftrag seines Kaisers die Sieger über Napoleon zu einem internationalen »Friedenskongress« nach Wien eingeladen hat.
An sinnenfrohen Vorgaben für Festlichkeiten hat es nicht gefehlt. Von Herbst 1814 bis zum Frühjahr 1815 wurde bekanntlich viel gefeiert, an manchen Lustbarkeiten durfte auch die Bevölkerung teilnehmen; für die Lasten und Belästigungen wurde sie ein wenig entschädigt, denn die fürstlichen Gäste hatten enormen Bedarf an Personal – Lakaien, Dienstmädchen, Stallburschen, Köchinnen und Kutschern. Deren Einkünfte wurden vom Polizeiminister aufgebessert, er hatte einen erstaunlich hohen Etat, um Zuträgerdienste, Informationen über Besucher, aufgehobene Papierschnipsel und mitgehörte Gespräche zu entlohnen. Die Feste und Empfänge, Bälle, Jagden und Schlittenfahrten ließen – fast – vergessen, dass der österreichische Kaiser vier Jahre zuvor dem französischen Kaiser seine blaublütige Tochter Marie Louise ins Bett gelegt und den »Emporkömmling« durch diese Ehe legitimiert hatte.
Der Plan, kein nationales, sondern ein europäisches Fest zu feiern, erwies sich als undurchführbar. Künstler, Makler und Manager wollten jeweils ihre eigenen Ideen auf den Markt werfen; eine Parallelaktion, in der die preußische und die österreichische Sicht auf das Ereignis konkurriert hätten, oder gar mehrere Parallelaktionen, in denen auch noch britische, polnische, dänische, französische (usw.) Perspektiven ihr Plätzchen gefunden hätten, waren zu aufwendig. Nicht nur die Sprache, auch die Gedenkform warf zu viele Übersetzungsprobleme auf – es zeigte sich schnell, dass dieses wahrhaft europäische Ereignis in jedem Land und je nach politischer Heimat anders interpretiert wird. Viele Widersprüche, viele Einzelinteressen, wenig Gemeinsamkeiten und kein Zwischenraum, um durchzuschau’n, hätten fast dazu geführt, dass die Würdigung dieses europäischen Großereignisses mit Herrschern aus allen Ländern und Ländchen des Kontinents beinahe gescheitert wäre – wie ja auch der Kongress damals.
1 a Zweiter Anlauf
Wie im richtigen Leben ruht die vorletzte Hoffnung auf den Frauen. Während des Wiener Kongresses glänzten sie als Gastgeberinnen und Spioninnen, Geliebte und Schauspielerinnen. Sie taten, was heute Berater und Coaches, Mediatoren und Schlaumeier tun: Sie sorgten für ein freundliches Ambiente, stellten Räume zur Verfügung, in denen Kontakte geknüpft wurden und Verhandlungspartner die Interessen ihrer Kontrahenten kennenlernen konnten. Ihre Salons entwickelten sich zu Vorzimmern der Verhandlungsräume und boten Vorwand für diplomatische Erkundungen. In prunkvollen wie in bescheidenen Zimmern, bei Empfängen und in Boudoirs wurden Stimmungen getestet, Informationen und Standpunkte ausgetauscht und Formulierungen erprobt. Reiche und verarmte Aristokratinnen, Diplomaten-, Beamten- und Bankiersgattinnen, unabhängige Frauen und reiche Witwen agierten an dieser Börse.
Aus heutiger Sicht scheint mir besonders reizvoll, dass diese Frauen klug und attraktiv sein durften. Sie standen nicht am Herd, dafür gab es Personal, sie wussten, was verhandelt wurde, und mischten – keineswegs nur hinter den Kulissen oder im Bett – mit. Man wird ihnen nicht gerecht, wenn man sie nur mit Liebesgeschichten und Korkenzieherlöckchen in Verbindung bringt.
Kenner der Zeit haben immer wieder betont, es sei »unendlich wichtig, die Rolle der Frauen in der Geschichte eifrig zu erforschen, weil sie eine viel größere ist, als man gemeinhin annimmt«.1 »Les femmes, c’est la politique« meinte der raffinierte französische Gesandte Charles-Maurice de Talleyrand. Der österreichische Außenminister Clemens von Metternich, kurz vor dem Kongress zum Fürsten erhoben, hat sich mit großem Gewinn dieser Erkenntnis bedient, seine kluge Mutter hatte ihm schon zu Beginn seiner Karriere erklärt, dass der Weg zum Erfolg in der Politik nicht zuletzt über die Frauen führe. Berichterstatter über den Wiener Kongress haben stets darauf hingewiesen, dass die Salondamen »auf den Gang der politischen Ereignisse einen unzweifelhaft großen Einfluß« ausgeübt haben.2
1 E.C.C. Corti, Metternich und die Frauen, S. 7
2 S. Baron, Die Judenfrage, S. 129
Kaum eine Rolle spielen sie, trotz all der Forschungen und Anerkennung weiblicher Leistungen, in der Frauen- oder Genderliteratur der letzten Jahrzehnte. Das könnte damit zusammenhängen, dass sie reich, adelig, anerkannt und in manchen Fällen von ihren Männern unabhängig waren, auch finanziell. Es ist an der Zeit, sie in die Geschichte bedeutender Menschen zu integrieren, jetzt, wo Frauen in der Politik mitmischen, über ihr Liebesleben selbst bestimmen können, genug zu essen haben und anständig wohnen, wie dies Anfang des 19. Jahrhunderts nur Prinzessinnen und Frauen der Oberschicht konnten.3
3 Ansätze zur Berücksichtigung bei G. Erbe, Dorothea Herzogin von Sagan; J. Frindte, S. Westphal, Handlungsspielräume; C. Diemel, Adelige Frauen.
»Nie zuvor oder danach hat eine Versammlung von Staatsmännern und Politikern, die einzig und allein mit Dingen des Gemeinwesens befaßt war, so weitreichend und ausschlaggebend unter dem Einfluß von Frauen gestanden …«, behauptet Hilde Spiel 19654 und fährt fort: »Nie zuvor oder danach haben Frauen eine solche Zusammengehörigkeit bewiesen wie auf dem Wiener Kongreß, eine solche Gemeinsamkeit der Ziele und des Gehabens, die alle Klassen, Stände und Familien umfaßte … Nie zuvor oder danach … ist ein Kreis von Geschlechtsgenossinnen so geschlossen und so mühelos aus der Vergangenheit aufgestiegen und in die Zukunft eingegangen wie jene Damen, Dämchen, Fürstinnen, Abenteuerinnen, Hocharistokratinnen und (französische) Emigrantinnen aus niederem Adel.«5
4 H. Spiel, Wiener Kongreß, S. 309 ff.
5 H. Spiel, Wiener Kongress, S. 309
Stimmt das? Was hat die Grande Dame der österreichischen Nachkriegsliteratur bewogen, das zu behaupten? Von welchen Frauen spricht sie? Was hat sie an dieser Zeit und diesen Figuren interessiert?
Der Wiener Kongress lädt dazu ein, nicht nur die Teilung in eine tätige männliche und eine dekorative weibliche Welt, sondern auch andere Gegensatzpaare zu prüfen, die uns das 19. Jahrhundert beschert hat: Adel versus Bürgertum, Reaktion versus Fortschritt, Muße gegen Arbeit oder eben die Unterscheidung zwischen Frauen, die entweder schön oder klug sein durften. Es geht dabei nicht um Geschlechtsmerkmale bzw. -zuschreibungen. Mich interessiert, was Wilhelm von Humboldt, kurz nachdem er die kluge, selbstbewusste Caroline von Dacheröden kennengelernt hat, als »weibliches Prinzip« bezeichnet.6 Heute würden wir das vielleicht als Gestus bezeichnen, wobei Humboldt betont, dass Männlichkeit und Weiblichkeit nirgends in reiner Form existieren, »es kommt immer der eigenthümliche Charakter des Individuums dazwischen«. Sein Interesse richtet sich auf Vielfalt, Reichtum an Erfahrungen, auf Kreativität und Genuss; Neues und Lebendiges entstehe aus der Vereinigung von Zartheit und Festigkeit, Verstand und Gefühl, Geist und Sinnlichkeit, männlicher und weiblicher Form. Der Freund kluger Frauen hebt immer die Wechselwirkung hervor. In diesem Sinne wäre das Weibliche ein Kontrapunkt zu den...