2Mythologie der Führung
»Das Licht der Welt erblickte ich als Führungskraft!« ‒ Das bedeutet, mal ganz gechillt das Säuglingsalter übersprungen, Pickelphase der Pubertät ausgelassen, Ausbildung unnötig, da uncool, und ruckizucki stehe ich nun als Top-Leader im Berufsleben in einem Start-up oder gestalte in einem DAX-Konzern die Unternehmensbelange. Als geborene Führungspersönlichkeit ist es mir auf meine DNA geschrieben und in die Wiege gelegt, Menschen zu führen! Sie halten dies für Blödsinn? ‒ Recht haben Sie!
Und nun auf den Boden der Tatsachen: »Das ist eine richtige Führungspersönlichkeit«, »Bei ihm ist das angeboren!«, »Der hat das mit der Muttermilch eingesogen!« ... Solche Aussagen begegnen uns oft in unserer Coachingpraxis und sind natürlich völlig haltlos und irreführend.
Würde es belegbare Beweise geben zu dem Mythos: »Ich bin als Führungskraft geboren« bzw. »Sie sind als Führungskraft geboren«, wären sämtliche Auswahlverfahren der Personaldiagnostik obsolet. Wieso? Würde der Mythos der geborenen Führungskraft stimmen, bräuchte ich mir nur die Ahnentafel anzuschauen und mit diesem Wissen bestimmen, wer die Position als Führungskraft erhält. Die Ersparnis an Zeit, Geld und Manpower wäre immens. Verblüffend ist zudem, dass sich diese Aussagen meistens auf Männer beziehen. Quasi angeborene Führungsqualitäten bei Frauen scheinen inexistent zu sein ...
2.1Führung ist angeboren!
»No one is born hating another person because oft the color of his skin or his background or his religion« (»Niemand hasst von Geburt an jemanden aufgrund seiner Hautfarbe, seiner Herkunft oder seiner Religion«)
Barak Obama veröffentlichte am 13. August 2017 diesen Tweet. Anhand unserer Beratungs- und Coachingerfahrung können wir dies auf eine Führungspersönlichkeit übertragen: Niemand wird mit Eigenschaften per se geboren, die eine Führungskraft auszeichnet. Lassen Sie uns den Mythos der geborenen Führungskraft bitte über Bord schmeißen! Die Wissenschaft unterteilt aufgrund aktueller Studien in ca. 30 Prozent angeborene und 70 Prozent erlernte Fähigkeiten, die Führungspersonen besitzen. Damit basiert der Großteil unserer Führungskompetenz auf von außen zugeführtes Wissen.
Daher sollten wir uns auf die 70 Prozent fokussieren, die wir aktiv gestalten können mit
Selbstentwicklung durch Selbstreflexion,
Training on und off the Job und
außerbetrieblicher Weiterbildung.
Eigenschaften wie Extraversion und Durchsetzungsvermögen sind zwar im Führungsalltag oft Erfolgsgaranten. Ausschließlich bestimmend sind sie aber nicht! Die Wissenschaftlerin Dr. Connson Chou Locke forscht an der London School of Economics. Sie arbeitet aktiv daran, den Mythos der geborenen Führungskraft zu entzaubern. In ihren Studien wies Locke nach, dass eine Person, die klug oder charismatisch wirkt, schneller respektiert wird. Ein besserer Chef oder eine bessere Chefin ist er oder sie deshalb noch lange nicht.1
2.1.1Stelle frei ‒ Führungskraft her
Wird im Unternehmen eine Führungsposition neu besetzt, werden unterschiedliche Diagnostikverfahren verwendet. Auf Ebenen mit höherer Führungsverantwortung ist das Development Center bzw. Assessment Center ein häufig eingesetztes Instrument. Hier darf sich der potenzielle Kandidat einem geschulten Auswahlgremium stellen. In einer Simulation durchlebt der Bewerber den Führungsalltag mit den unterschiedlichsten Herausforderungen. Es gilt z. B. ein Konfliktgespräch zu gestalten, unangenehme Nachrichten seinem Team mitzuteilen oder sich mit Kollegen auf gleicher Führungsebene auseinanderzusetzen, wie das jährliche Budget vergeben wird. Das Ergebnis solch einer Führungssimulation ist das »Soziale-Intelligenz-Profil«. Dieses Profil zeigt auf, wie individuell soziale Situationen eingeschätzt werden. Es spiegelt ebenso, wie der Kandidat Prozesse erfasst und versteht. Beides Fähigkeiten, die eine Führungspersönlichkeit besitzen sollte.
Wird eine Führungskraft aus den eigenen Reihen des Betriebs benannt, ist häufig die Erfahrung der Entscheidungsträger ausschlaggebend. Eine extravertierte Persönlichkeit wird schneller wahrgenommen als eine introvertierte. Hier stolpern Entscheidungsträger leider über das psychologische Wahrnehmungsphänomen des Halo-Effektes.
Beispiel: Stolperstein Überstrahlung
Lukas Holzner beeindruckt durch seine imposante Gestalt. Er misst 1,98 Meter. Als aktiver Handballspieler wirkt er wie ein Model in seinem Boss-Anzug ‒ die perfekte Teamleitung in der Unternehmensberatung. Seine Bassstimme klingt wohltuend und gekrönt ist diese positive Ausstrahlung mit seinem eloquenten Auftreten. Schwuppdiwupp können diese Äußerlichkeiten zum Halo-Effekt führen und Lukas Holzner werden Eigenschaften wie Diplomatie, Durchsetzungskraft, Konfliktfähigkeit und Führungsstärke »unterstellt«. Dabei sieht er einfach nur gut aus und verfügt über eine tiefe Stimme.
Der Halo-Effekt begegnet uns tagtäglich. Wir blicken eher auf die Verpackung als in die Schachtel. Top-Führungskräfte besitzen die Fähigkeit, sich perfekt zu verpacken, und sie kennen die Spielregeln der Macht. Der Halo-Effekt ist eine Fata Morgana, die uns verzaubert und uns Bilder vorgaukelt.
Tipp
Egal, wie reflektiert wir sind, über den Stolperstein Halo-Effekt purzeln wir immer wieder. Minimieren lässt er sich durch das Mehr-Augen-Prinzip. Holen Sie sich aktiv Feedback zu Ihrer Wahrnehmung ein und prüfen Sie so diese.
2.1.2Schüttle meine Hand und ich sage dir, wer du bist
Die Mythologie der Führung lässt sich u. a. erklären mit dem Erster-Eindruck-Automatismus. Stereotypen bzw. Vorurteile erleichtern es uns, die komplexe Welt zu verstehen.
Übung: Gedanken laut denken ‒ die Magie des ersten Eindrucks
Kommen Sie mit auf eine Gedankenreise. Nehmen Sie sich bewusst fünf Minuten Zeit und prüfen Sie, welche Gedanken in Ihrem Kopf entstehen. Sie können diese Gedankenreise ebenso mit Kollegen oder Freunden durchführen. Wichtig ist: Lesen Sie erst eine Aussage ‒ stopp, nicht gleich die zweite Aussage lesen! ‒ und spüren Sie nach, welche Bilder in Ihnen aufkommen. Führen Sie die Übung mit anderen Personen durch, sollten Sie ebenfalls immer nur eine Aussage vorlesen und dann zuhören, welche Phantasien Ihrem Gegenüber im Kopf umhertanzen.
1.Aussage: Ihr Knie ist verletzt. Sie gehen zum Orthopäden Ihres Vertrauens. Wie könnte dieser Arzt aussehen?
STOPP
2.Aussage: Wieder ist Ihr Knie verletzt. Ein Orthopäde mit Professorentitel untersucht Sie. Der Kittel des Professors ist blutverschmiert. Seine Schuhe sind mit Blutspuren übersät.
STOPP
3.Aussage: Beim Bewerbungsgespräch werden Sie vom Geschäftsführer begrüßt. Sein Händedruck ist weich und lasch.
STOPP
4.Aussage: Ihr Gesprächspartner begrüßt Sie mit einem festen Händedruck.
Diese kurzen Gedankenspiele zeigen, wie schnell wir dabei sind, Menschen in Schubladen zu stecken. Beim Arzt gehen wir eher davon aus, dass der Kittel sauber und rein ist. Ein blutbeschmierter Kittel wirkt unprofessionell. Bei der zweiten Aussage hätte es aber sein können, dass der Professor direkt von einer Hüftoperation zu Ihnen ins Behandlungszimmer geeilt ist, um Sie zügig zu untersuchen.
Was die nächsten beiden Aussagen betrifft: Wussten Sie, dass in Peru ein fester Händedruck das genaue Gegenteil von dem positiven Empfinden in Deutschland auslöst, nämlich Antipathie? Eine Negativ-Wahrnehmung können Sie bei uns hingegen mit einem schlaffen Händedruck auslösen. Viele Menschen interpretieren diesen als Zeichen für eine Person mit wenig Durchsetzungsvermögen und Sympathiepunkten.
Sie können Ihren Händedruck aktiv üben, um als Führungskraft wahrgenommen zu werden. Da in unseren Breitengraden das Händeschütteln zum Begrüßungsritual gehört, können Sie bewusst Ihre Ausstrahlung sympathisch gestalten.
Tipp: Cocktail Händeschütteln ‒ leicht gemacht