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E-Book

CrimeWelten

Blicke auf Autoren

AutorFrank Göhre
VerlagCULTurBOOKS
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl100 Seiten
ISBN9783959880411
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,99 EUR
Es ist eine Reise auf den Spuren einiger zu Unrecht vergessener und neu zu entdeckender Autoren in Europa und in den USA. Es sind Porträts nach den Romanen und Stories, den Erzählungen und Selbstdarstellungen von Janwillem van de Wetering, Charles Willeford, James Crumley, Daniel Woodrell u.a. Es sind Lebens- und Werkgeschichten, Psychogramme von Schriftstellern, die sich der harten Realität verpflichtet sehen. Zu schreiben nämlich, wie es ist, den Alltag zu leben und zu überleben, zu Boden zu gehen und wieder aufzustehen, um den Kampf neu zu beginnen - bis zur endgültig letzten Runde. 'Frank Göhre schafft es, dass sich die Essenz eines Autors vermittelt ... er fühlt in die Welt und in sich, er redet über das Selbstverständnis eines anderen und zugleich über sein eigenes. Ohne viel Aufhebens davon zu machen'. Alf Mayer Das ist der typische Frank-Göhre-Sound: stets präzise und zugespitzt auf den Punkt, eindrucksvoll in seiner Lakonie und sprachlichen Direktheit.« WESTFALEN-SPIEGEL, Jochen Grywatsch

Frank Göhre, Jahrgang 1943, arbeitete als Buchhändler, Bibliothekar, Verlagsangestellter und Hörfunkautor. Er lebt in Hamburg und schrieb neben Romanen (siehe www. pendragon.de) u. a. die Drehbücher zu den Kinofilmen »Abwärts«, »Die Ratte« und das mit dem Deutschen Drehbuchpreis ausgezeichnete Drehbuch »St. Pauli Nacht« (Regie: Sönke Wortmann). Göhre ist Mitarbeiter bei CULTurMAG (www.culturmag.de).

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Leseprobe

The Family


Der Rock-’n’-Roll-Reporter Ed Sanders

 

Es waren die letzten Septembertage des Jahres 1968. Am 11. April war das Attentat auf Rudi Dutschke verübt worden. »Ach, Deutschland, deine Mörder! Es ist das alte Lied. Schon wieder Blut und Tränen. Was gehst du denn mit denen, du weißt doch, was dir blüht!« (Wolf Biermann) Sieben Tage zuvor, »am 4. April 1968 knallte ein haltloser, rassistischer Lump, ein gedungener Mörder, in Memphis (Tennessee) Martin Luther King ab« – es war eine mörderische Zeit.

Es war das Jahrzehnt, zu dessen Beginn der Sowjetrusse Gagarin als erster Mensch sanft durchs All schwebte, die Amerikaner sich das Castro-Kuba wieder unter den Nagel reißen wollten, der Genosse Ulbricht den Mauerbau anordnete und im sogenannten freien Westen die Haare der Männer länger und die Röcke der Frauen kürzer wurden.

Die Spiegel-Affäre erschütterte die Bundesrepublik, John F. Kennedy gab sich auf dem Charlottenburger Rathausplatz als Berliner aus, Ludwig Erhard wurde Bundeskanzler und Cassius Clay Boxweltmeister aller Klassen. Rolling-Stones-Fans richteten nach einem Konzert in der Berliner Waldbühne Sachschäden in Höhe von vierhunderttausend Mark an, in China begann die Kulturrevolution, in Amsterdam machten die Provos Rabatz, in Paris stiegen auch Dichter und Denker auf die Barrikaden. Und die Amis legten einen Bombenteppich über Vietnam und massakrierten sämtliche Bewohner des Dorfes My Lai.

Es war die Zeit der Gemetzel, und es war die Zeit der Revolten gegen das Morden und Schlachten, gegen Imperialismus und Notstandsgesetzgebung.

Wer noch keine Dreißig war und auch nur einen Funken kritisches Bewusstsein hatte, reihte sich ein und machte Front gegen das Schweinesystem, gegen Bullen und Ausbeuter-Bosse: »Zu singen wenig, aber zu handeln genug« (Peter Rühmkorf).

 

In jener letzten Septemberwoche des Jahres 1968 aber sollte lautstark und solidarisch gesungen werden. Ein europäisch-amerikanischer Braintrust hatte in der Kruppstahl-Stadt Essen ein Fünf-Tage-Festival organisiert, die ersten »Internationalen Essener Song Tage«. Väterchen Degenhardt und Dieter Süverkrüp klampften, und Wolfgang Neuss hatte den bösen Biss. Es gab Free Jazz und satten Blues aus dem Mississippi-Delta, Chansons aus Frankreich und allerlei internationale Folklore. Höhepunkte aber waren Frank Zappa mit seinen Mothers of Invention und – »Hey, Leute, hier sind sie, direkt aus New York City – The Fugs!«.

 

Es war ein Samstag, und keiner der zigtausend Jugendlichen in der Gruga-Halle wusste, ob es draußen noch Tag oder bereits Nacht war. Vollgedröhnt mit erstklassigem Shit, aufgeputscht durch Speed schnellten die Fäuste hoch, und wild schreiend wurde der infernalische Einstieg der sieben wüst aussehenden Rock ’n’ Roller auf der Bühne wiederholt: »Fuck you President Johnson ... FUCK YOU ... I mean you’re not gettin enough good lovin, are you ... NOT ENOUGH LOVIN ... & I’m not & Mao Tse Tung don’t look like enough ... MAO TSE TUNG ... or Ho Chin Minh ... HO HO HO CHIN MINH ... & you can’t fuck too good o­n o­ne bowl of rice per day ... FUCK FUCK FUCK FOR PEACE ...« – So fing die Show an.

 

Es war der erste bundesrepublikanische Gig der amerikanischen Kult-Band The Fugs, und es sollte der einzige bleiben: »Die Fugs verabschiedeten sich 1969 in den Staaten mit einem Konzert neben Grateful Dead und dem Album ›The Belle of Avenue A‹. Zum Sextett geschrumpft holten sie noch einmal zu einem fröhlich-bösen Pop-Comic aus. Die Fugs-Initiatoren zogen sich zurück.« (Christian Graf, Rock Musik Lexikon, Hamburg, 1989)

Es waren drei nicht mehr ganz junge New Yorker Underground-Poeten, »perverse Spät-Beatnik-Dichter«, die 1965 im Künstlerviertel Greenwich Village die Band gegründet hatten: Tuli Kupferberg, Ed Sanders und Ken Weaver. Zwei von ihnen, Tuli Kupferberg (geboren 1923) und Ed Sanders (geboren 1939), waren der deutschen Szene schon vor dem legendären Essener Auftritt bestens bekannt. Frankfurter und Kölner Freaks hatten von ihren Amerika-Trips Artikel, Manifeste und Gedichte der beiden Kultur-»R-r-r-evolutionäre« mitgebracht und übersetzt. Auf hektographierten Seiten kursierten Auszüge aus East Village Other, der größten Underground-Zeitung in den Staaten, und Kopien von »Fuck You: A Magazine of the Arts«, herausgegeben durch Ed Sanders und immer wieder von der New Yorker Polizei beschlagnahmt – laut Sanders, um sich daran aufzugeilen. Die radikalsten Texte verfasste Ed Sanders selbst, ein aus Kansas City stammender, hochaufgeschossener Typ, der mit einer Bestnote in Griechisch promoviert hatte. Er forderte den »totalen Angriff auf die Kultur« – durch permanente Aktionen von außen, von »Kriminellen, Süchtigen und Farbigen«. Sanders große Themen waren Sex, Drugs & Brutality, sein gesellschaftspolitisches Credo lautete Kill, Kill, Kill for Peace!

 

Im Oktober 1969 aber wurde Ed Sanders nachhaltig erschüttert. Der intellektuelle Wortführer der amerikanischen Subkultur und Frontmann der Fugs las von »einer Bande nackter, langhaariger Diebe«, die in Kalifornien umherstreifte und offenbar wirklich schlimme Dinge trieb. Sechs Wochen später redete man auf der ganzen Welt von Charles Manson, dem »Mörder mit dem glasigen Blick«, und seinen »Satanssklaven«. Was von Ed Sanders und anderen Underground-Syndikalisten lautstark thematisiert worden war, hatte ein abgedrehter Kleinkrimineller in die Tat umgesetzt. Charles Manson hatte ein abscheuliches KILL IN initiiert, ein blutiges Helter Skelter praktizieren lassen.

 

»Ich hatte mich mit jemandem, der in die Sache verwickelt war, zum Mittagessen verabredet ... Plötzlich streckte er seine Hand vor und schnippte mit seinen sauberen, weißen Fingern ein kleines Foto quer über den Tisch, sodass es genau vor meiner Nase landete: Sharon Tate war darauf zu sehen, tot auf dem Teppich liegend mit der Schlinge um den Hals ... Mit ihrer linken Hand hielt sie den Strick gepackt, als ob sie versuchen wollte, ein letztes Mal Atem zu holen, ihr schwangerer Bauch neigte sich zum Fußboden, die langen und eleganten Beine lagen in einem verdrehten Winkel zu ihrem Körper. Hinter ihr sah man die amerikanische Flagge, verkehrt herum über das Sofa drapiert ... der Boden war voller Blut ... Bis zum heutigen Tage befällt mich Horror, wenn ich an dieses Bild zurückdenke. An diesem Punkt realisierte ich damals, dass ich den wahren Charakter der Manson Family enthüllen und die Morde so beschreiben musste, dass für alle Zeiten geklärt war, was es mit diesen Leuten auf sich hatte.«

 

Es war nicht allein dieses Entsetzen, das Ed Sanders veranlasste, der Spur des Charles Manson und seiner »Strand-Buggy Streitmacht« zu folgen und die Geschichte dieser Hippie-Kommune penibel zu recherchieren. Manson und seine »Satanssklaven« erschienen ihm wie Totengräber der gesamten Gegenkultur und Hippiebewegung. Sanders, der Fuck-&-Kill-Propagandist, wollte sich nachdrücklich von diesen Gräueltaten distanzieren, er musste die eigene Position und auch die seiner Leute dezidiert neu bestimmen. So ist es sicher nicht beliebig, dass er für sein Buch jene Form wählte, die in Amerika seit den frühen Sechzigern als »New Journalism« Schule gemacht hatte.

 

Die Methode des »Neuen Journalismus« besteht, verkürzt gesagt, darin, dokumentarische Texte als großangelegte Erzählung zu gestalten, in der die persönliche Haltung des Schreibers deutlich wird, ohne sie explizit zu benennen. Ein Balanceakt also zwischen größtmöglicher Nähe zum Gegenstand und unbestechlicher Berichterstattung. Es geht nicht allein um die Fakten, sondern auch um deren literarische Umsetzung, um einen klaren und dennoch virtuosen Stil. Die Debatte zwischen Norman Mailer und Truman Capote bringt das auf den entscheidenden Punkt.

 

Truman Capote, der mit »Kaltblütig« das große Meisterwerk des New Journalism geschrieben hatte, kritisierte Mailer als Autor von »Gnadenlos« in einem Interview: »Mir gefiel das Buch nicht. Mit gefiel seine Einstellung zu den Figuren nicht. Mir gefiel seine Betrachtungsweise nicht. Mir gefiel der Stil nicht ... Norman hat meine Auffassung von Nonfiktion als narrative Schreibweise nicht verstanden.« Und: »Ich wurde so absolut, so persönlich (in die Geschichte der beiden Mörder aus Kansas) hineinverwickelt, dass sie mich beherrschte und mein Leben auffraß. All diese Gerichtsverhandlungen, Berufungsverfahren, die endlosen Recherchen, die ich anstellen musste – etwa achttausend Seiten reine Recherchen –, und mein Engagement für die zwei Jungs, die das Verbrechen begangen hatten. Alles. Es war so etwas wie ein Miterleben von einem Tag zum anderen. Und das ist’s, warum ich keinen Respekt vor ›The Executioner’s Song‹ habe, Mailers Buch, das meiner Meinung nach ein Un-Buch ist. Er hat es nicht miterlebt, Tag für Tag, er kannte Utah nicht, er kannte Garry Gilmore nicht, ja, er hat Gary Gilmore nie gesehen, er hat keine Unze Recherchearbeit für das Buch geleistet, zwei andere Leute machten die ganzen Recherchen.«

 

Ed Sanders aber kann in diesem Sinn als legitimer Nachfolger von Truman Capote und dessen eindringlicher Erzählreportage angesehen werden. Während seiner Arbeit an »The Family« tauchte Capote selbst plötzlich beim Manson-Prozess auf. Sanders war verunsichert. Wollte der Meister etwa auch ein Buch über die Family schreiben? Nein, versicherte ihm Capote und schlenderte hinüber zu den Geschworenen, um mit ihnen zu plaudern.

 

Sanders hatte sich zu...

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