DER ROTE FADEN
Begegnungen von heute führen in die Welt von gestern
Wie kommt man auf die Idee, ein Kaleidoskop verschiedener Menschen zusammenzustellen, die auf den ersten Blick gar nichts miteinander zu tun haben? Meine große Leidenschaft ist es seit Jahrzehnten, größere soziale Zusammenhänge herauszufinden, ob familiär oder gesellschaftlich. Ich habe schon mit vierzehn Jahren einen Riesenstammbaum meiner Familie gezeichnet und bis heute fragen mich meine zahlreichen Cousinen immer wieder, wie wir denn genau miteinander verwandt sind. Die Antwort lautet fast immer: Unsere Ururgroßmütter waren Schwestern. Und da sieht man schon, dass das familiäre Netzwerk sehr weit gespannt ist. Mittlerweile ist es ein Sport geworden, mit Freunden Verwandtschaften zu konstruieren – und über mehrere Verschwägerungen und einige Ecken kommen wir auch erstaunlich oft zu einem positiven Ergebnis.
Aber vielleicht ist das weniger erstaunlich als historisch erklärbar. Dieses Buch unternimmt den Versuch, eine Gesellschaftsschicht zu rekonstruieren, die viele Gemeinsamkeiten, aber auch viele Unterschiede aufweist. Sie ist geprägt von enormer Vielfalt, großer Kreativität und wachem Innovationsgeist und hat einen gemeinsamen Nenner: Alle diese Familien, von denen in diesem Buch erzählt wird, haben ihre Wurzeln im Judentum. Manche waren sich dessen bewusst und übten die Religion auch aus. Andere stammten aus Familien, in denen Eltern oder Großeltern konvertiert waren und die Abstammung damit ad acta gelegt hatten. Erst 1933 resp. 1938 wurden viele Menschen brutal an weit zurückliegende Ursprünge erinnert, die mit ihrem eigenen Leben nicht viel zu tun hatten.
Nach welchen Kriterien wurden die in diesem Buch porträtierten Menschen ausgewählt? Sie alle symbolisieren das große Netzwerk des jüdischen Großbürgertums, das, rasant aufgestiegen, seinen Kindern und Kindeskindern alle Türen öffnen konnte: Alle Berufe standen ihnen offen, Bildung und Kultur gehörten selbstverständlich zum Alltag, die finanzielle Basis eröffnete viele Chancen. Viele der Kinder nützten diese auch aus, und bis zum Ersten Weltkrieg ging alles seinen wohlbestallten, gewohnten Gang. Dann kam der Bruch, der die Welt zum Einsturz brachte und die gesellschaftlichen Bedingungen grundlegend änderte. Die Männer wurden eingezogen und kehrten verletzt an Leib und Seele nach Hause zurück – vielen war auch das nicht vergönnt. Die Frauen hatten vier Jahre lang die Infrastruktur und den Alltag bewältigen müssen. 1918 war das Land zusammengebrochen, die alten Werte waren nichts mehr wert. Gerade die Männer des Großbürgertums vertrauten jedoch darauf, ihr Vermögen würde ihnen nun weiterhin die notwendige Lebensgrundlage bieten. Felix Selinko beispielsweise verzichtete großzügig auf seine staatliche Pension, meinte er doch, genügend Rückhalt in seiner eigenen Firma zu haben. Doch Kriegsanleihen und Inflation ließen die Vermögen rasch schmelzen. Oft blieb nur eine herrschaftliche Wohnung übrig, die immerhin die Möglichkeit bot, das gewohnte Leben in einer vertrauten Umgebung so weit als möglich weiterzuführen. Gerade junge Frauen passten sich den neuen Lebensbedingungen rasch an: Sie wurden selbstständig, suchten sich Arbeit, chauffierten eigene Autos, viele zogen in neu gebaute kleine Wohnungen und führten einige Jahre ein eigenverantwortliches Leben, bevor sie selbst eine Familie gründeten. Über diese neuen Lebensumstände schreibt Annemarie Selinko in ihren Romanen. Sie zeichnete darin ein lebendiges Bild der jungen Frauen, die Tradition mit Moderne verbanden: »Wir haben eben einen gewissen Standard«, meint der Vater einer ihrer Heldinnen. Und sie fügt hinzu: Aber kein Geld mehr, um diesen wie in früheren Zeiten aufrechtzuerhalten.
Dieses Buch wurde während seiner Entstehung von Begegnungen begleitet. Das erklärt auch die Auswahl der porträtierten Menschen, die sich ergeben hat und nicht konstruiert werden musste. Alle diese Familien kommen in Wer einmal war, dem großen und großartigen Buch meines Mannes Georg Gaugusch, vor. Dort findet man unzählige Fakten und viele Informationen über innovative Geister, bewundernswerte Wohltäter, große Künstler, skurrile Herren und Damen und Originale. Mir lag daran, dieser Gesellschaftsschicht einmal mehr Leben einzuhauchen, den Faktenskeletten Fleisch und Seele hinzuzufügen und so eine anschauliche Ergänzung zu schaffen.
Warum ich gerade diese vier Familien ausgewählt habe, hat mit persönlichen Begegnungen zu tun. Ich hätte hundert andere Familien, die sicher ebenso bunt und vielfältig sind, porträtieren können – aber bei den hier vorgestellten bin ich hängen geblieben. Was war der Beweggrund? Es gibt verschiedene Antworten, eine davon ist sicherlich diese: Empfindet man für die Nachkommen besondere Sympathie, erstehen auch die Vorfahren in einem anderen Licht – auch wenn dieses Licht nicht verklärt, sondern durchaus Platz für kritisches Hinterfragen macht.
Oder vielleicht haben diese Familien mich gewählt, wie es schon in Wagners Meistersingern heißt? Ein merkwürdiger Vergleich, meint vielleicht der eine oder andere Leser. Doch so merkwürdig auch wieder nicht, waren doch die Wagner-Vereine des 19. Jahrhunderts ein Hort des jüdischen Großbürgertums. »Gestern war ich in den Meistersingern mit Dlabac. Es war wunderbar und ich musste an Dich und Ernstl und Mia denken, da es ja die Lieblingsoper von Euch allen ist«, schreibt Paul Hasterlik seiner Tochter Gusti im Jahr 1916 – und beweist so auch gleich meine These.
Der Begriff »jüdisches Großbürgertum« birgt Probleme – mir selbst ist es viel lieber, von Familien zu sprechen, die aus der jüdischen Tradition stammen. Denn viele ließen sich aus unterschiedlichsten Gründen taufen und vermeinten, damit die jüdische Vergangenheit ein für alle Mal hinter sich zu lassen. Ein totales Fehlurteil. Katholische Mädchen wurden von Wienern mit faulem Obst beworfen. Warum? Das Sakrament der Taufe wurde außer Kraft gesetzt. Warum? Dekorierte Helden des Ersten Weltkrieges, die ihr Leben für Heimat und Vaterland aufs Spiel gesetzt hatten, mussten nicht nur das Trauma des Zusammenbruchs der Alten Ordnung verkraften, sondern auch die Aberkennung ihrer Verdienste. Warum? Weil ihre Familien einmal jüdisch gewesen waren. Wer maßte sich dies an?
Wo lag der große Unterschied? Oder, wie Rudolf Bienenfeld, von mir besonders verehrter Jurist und Porträtierter dieses Buches, 1936 festhielt: Warum fürchteten sich 60 Millionen Deutsche vor 500 000 Juden? Dies bedenkend wird die Absurdität und Unmenschlichkeit erneut und besonders bewusst: Denn eine Antwort kann es nicht geben. Und doch findet sie Rudolf Bienenfeld zu Recht in den Folgen des Ersten Weltkrieges – ein Faktum, das bis heute viel zu wenig beachtet wird: Die Demütigung der Deutschen – und auch des verbliebenen Österreichs – brachte ein »Jetzt erst recht«-Selbstbewusstsein hervor – und isolierte sie damit von den anderen europäischen Nationen. Statt eines gemeinsamen Neuanfangs gab es ausschließlich Ressentiments. Der Status des Opfers führte zu einer Isolation, die keinen Platz für Gemeinsames ließ. Alle waren gegen Deutschland, daher waren die Deutschen gegen alle. Und vor allem gegen diejenigen, denen sie sich intellektuell unterlegen fühlten: den Künstlern, den Schriftstellern, deren Geist geschärft worden war durch eine Erziehung, in der Sprache eine große Rolle spielte. Moderne Lebensformen standen biederer Häuslichkeit gegenüber, geschäftliche Internationalität nationaler Engstirnigkeit. Und angeblich »jüdische« Emanzipation gegen braves deutsches Hausfrauentum.
Dieses Buch handelt von unkonventionellen Menschen, die einen Zeitraum von 200 Jahren prägten. Von Rabbinern, die sich der Moderne zuwandten. Von Schriftstellern, die die Gegenwart abbildeten und analysierten. Von Abenteurern, die die alte und die neue Welt miteinander verknüpften. Welche Faktoren hatten dies überhaupt ermöglicht?
Das führt gleich zum nächsten Thema: dem enormen Stellenwert der Bildung. Die Rabbiner Jakob und Moriz Hirschfeld hatten sich in besonderem Maße dafür eingesetzt – denn nur höhere Bildung war ein Garant für Assimilation. Zahlreiche Mitglieder der porträtierten Familien setzten sich mit glühendem Eifer für Bildung ein. Ein Forum bot die Wiener Volkshochschule – eine bewundernswerte Initiative, vielen Bevölkerungsschichten den Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Dies war ein wesentlicher Aspekt, der die hier porträtierten Familien verband. Ob sie über Musik sprachen, wie Robert Hirschfeld und Elsa Bienenfeld, ob sie Konzertreihen konzipierten, wie Irma Hasterlik, Mikroskopier-Kurse abhielten, wie Robert Koritschoner, über Cholera-Prophylaxe sprachen, wie Moriz Koritschoner, über die Biologie des werdenden Menschen, wie Bianca Bienenfeld, oder über das Mittelmeer als Schicksalsweg unserer Kultur referierten: Sie alle stellten ihr Schaffen auch...