Kapitel 1
Ein Ausflug ins Blaue
Ein wunderschöner Spätsommertag in Zoppot, 20 Grad, blauer Himmel und Sonnenschein, leichte Ostseebrise, die Vögel zwitschern in den Bäumen, ein Tag wie geschaffen für einen Ausflug mit einem offenen Wagen. September 1939, der Zweite Weltkrieg ist einige Tage alt. Mein Pappa, Großschlächter in Zoppot, holt sein Adler Cabriolet aus der Garage, klappt das Verdeck zurück, fährt vier Häuser weiter die Heinrichsallee hinunter, holt dort seinen Freund Heribert Kammer, Polizeichef in Gotenhafen, ab. Sie setzen ihre Lederkappen auf und fahren über die Franziusallee in die Südstraße am Südbad vorbei, dann am Kurhaus und Casinohotel entlang, beides jetzt Hitlers Führerhauptquartier, in die Nordstraße, die Strandpromenade, links an den Tennisplätzen vorbei Richtung Polen, das jetzt besetzte Polen, eine Einfahrt ist nur mit Passierschein möglich. Diesen Passierschein hat Heribert Kammer für Pappa besorgt. Sie passieren den Kontrollposten ohne Probleme. Richtung Schlachthof. 1936 gebaut, der modernste Schlachthof Europas. Das weiß Pappa. In Chicago werden nach diesem System 12 Millionen Tiere jährlich geschlachtet. Dabei wird bereits eine Verarbeitungsgeschwindigkeit von 15 Minuten für die Schlachtung eines Rindes bis zu seiner Zerlegung erreicht, ausgeführt von ungelernten Einwanderern. Ein deutscher ausgebildeter Schlächter schafft das bestenfalls in acht Stunden. Ein Verhältnis von 15 Minuten zu acht Stunden pro Mitarbeiter. Unglaublich, seit über 80 Jahren arbeiten die amerikanischen Großschlächtereien schon nach diesem System. Europa wird erst ab 1960 danach arbeiten. Außer in Gotenhafen, einzig in Europa.
Henry Fords Ingenieur Taylor führte nach einem zufälligen Besuch Chicagoer Schlachthäuser deren Fließbandsystem in der Autoindustrie ein. Es war um 1900. Es waren die Schlächter, die das Fließband erfanden und nicht die Autobauer, die kopierten es nur, aber erfolgreich und global.
Pappa wollte das sehen. Nicht mehr und nicht weniger. Dort angekommen entstiegen sie dem Wagen und betraten den scheinbar verlassenen und leer stehenden Schlachthof. Es war doch jemand da. Es kam ihnen der ehemalige Technische Leiter, Aaron Kratzenstein, entgegen. Nachdem sie sich gegenseitig vorgestellt hatten, bot Herr Kratzenstein, der sehr gut deutsch sprach, wenn gewünscht, eine Betriebsführung an. Was dankend angenommen wurde. Der Rundgang begann. Sie betraten das Rinderschlachthaus und waren erstaunt über die einfache Schlachttechnik des Fließbandsystems, das die wahnsinnige Rationalisierung des Schlachtvorgangs ermöglichte. Das gleiche galt für das Schweineschlachthaus. In den USA, in Cincinnati, wurde schon um 1850 nach diesem System gearbeitet. Das gewaltige Gefrierhaus, das große Kühlhaus, die Gleisanschlüsse mit Rampen an den Viehställen für die Viehwaggons und die Viehlastwagen. An den Kühlhäusern und an den Gefrierhäusern die Rampen für Kühllastwagen und Kühlwaggons. Personalräume, Hygieneräume, Duschräume ausgelegt für 180 bis 200 Mitarbeiter. Ein Bürokomplex für die Verwaltung. Sie kamen aus dem Staunen nicht heraus. Ein Schlachthauskomplex, den es in dieser Qualität und Ausstattung in Europa sonst nicht gab. Stand die Belegschaft noch zur Verfügung? Oder war sie schon teilweise deportiert worden nach Posen? Offene Fragen. Sie bedankten sich bei Herrn Kratzenstein für die informative Betriebsführung. Dann tauschten sie Adressen und Telefonnummern aus und verabredeten sich für ein zweites Treffen am nächsten Vormittag auf dem Schlachthof. Pappa war elektrisiert und begeistert. Die Schlachthöfe in Danzig und Zoppot waren hinter dem Mond, eine Umstellung auf die Fließband-Schlachtung war dort bautechnisch unmöglich. Pappa war immer allem Fortschritt gegenüber aufgeschlossen, aber was er hier so geballt an futuristischer Technik gesehen hat, hatte er sich vorher in den kühnsten Träumen nicht vorstellen können. Er sagte zu seinem Freund Heribert: „Lass uns nach Zoppot an den Strand fahren und uns in die Brandung werfen, damit wir wieder auf Betriebstemperatur kommen und nach dem hier Gesehenen nicht durchdrehen. Lass uns fahren, aber schnell." Sie gingen zum Auto.
Da näherte sich ihnen ein Konvoi von vier bis fünf Mercedes Limousinen, die alle hinter ihrem Auto parkten. Diesen Wagen entstiegen der SS-Obersturmbannführer Emil Wodrich, der Kreisleiter der NSDAP Bernd Schneider, der Danziger Wirtschaftssenator Horst Ziegler, Wirtschaftsfachleute aus dem Senat und noch einige andere Parteigenossen. Meinem Pappa und Herrn Kammer waren es keine Unbekannten. Sie hatten gesellschaftlich, behördlich oder politisch in Danzig und Zoppot miteinander zu tun. Mein Vater war Parteigenosse der ersten Stunde. Die Herren waren erstaunt über die Anwesenheit meines Vaters. „Heil Hitler Herr Amos! Sie gehen fremd, heute nicht in Danzig, nicht in Zoppot?" „Es war die reine Neugier, die mich hierher trieb. Nein es war etwas mehr als Neugier. Die Schlachthöfe in Zoppot und Danzig sind an ihre Kapazitätsgrenze gestoßen. Und hier liegt ein Schatz der zukünftigen Fleischindustrie von höchster Potenz, der darauf wartet, in die deutsche nationalsozialistische Kriegswirtschaft einverleibt zu werden. Wir haben gerade unsere Betriebsbesichtigung beendet. Es war ein polnischer ehemaliger technischer Betriebsleiter, der uns bis eben zwei Stunden lang durch diesen Industrieschatz führte." „Herr Amos, wären Sie bereit, uns durch diesen Betriebskomplex zu führen?" Mein Pappa tat es! Nach dieser Betriebsführung beriet sich diese Kommission noch kurz. Dann sprach der Leiter der Kommission, SS-Obersturmbannführer Emil Wodrich: „Herr Amos, Sie kennen den Führerbefehl, die Wirtschaft in den besetzten Gebieten sofort anzukurbeln. Wir sind der Meinung, dass Sie der richtige Mann am richtigen Ort zur richtigen Zeit sind, um dieses Unternehmen in Bewegung zu setzen. Unsere Zustimmung haben Sie. Wenn Sie bereit sind, das zu tun, erteilen wir Ihnen den Befehl, es sofort zu tun. Wir werden Sie in jeder Weise unterstützen. Werden Sie Hitlers Schlächter von Danzig hier in Gotenhafen."
„Ich danke Ihnen für das mir entgegengebrachte Vertrauen. Ich bin bereit, den Befehl auszuführen. Wenn mir die polnische Betriebsmannschaft sofort zur Verfügung steht, kann ich durchstarten. Sind deutsche Kräfte anzulernen und auszubilden, falls überhaupt vorhanden, kann der Startprozess Monate oder Jahre dauern, um die technische Kapazität dieses Betriebes auszunutzen. Ich erwarte bereits morgen eine Liste aller Betriebsangehörigen von Herrn Kratzenstein, dem ehemaligen technischen Leiter dieses Betriebes, und mit dieser Liste werde ich zu Ihnen kommen, um dann Nägel mit Köpfen zu machen. Ich glaube, ich werde Ihre politische Hilfe dringend benötigen, um den Führerbefehl effektiv ausführen zu können. Heil Hitler!" erwiderte mein Vater.
Die gesamte Delegation verließ den Schlachthof, mein Pappa und sein Freund auch. Sie gingen aber nicht mehr an den Strand. Sie gingen in das Café Astoria in der Seestraße in Zoppot. Dort tranken sie einige Machandel und einige Bierchen, um den Erfolg zu begießen. Vom kleinen Schlächter in Zoppot zum Herrscher über Europas modernsten Schlachthof. In 30 Minuten. Vom kleinen Schlächter in Zoppot zum Großunternehmer in Gotenhafen. Sie konnten es auch nach einigen Bierchen noch nicht fassen, was für Entscheidungen dort gefällt worden waren.
Am nächsten Tag, nach umfangreicher Besprechung mit Heribert Kammer in Pappas Büro, ging es zügig nach Gotenhafen, Herrn Kratzenstein abholen und mit ihm in die Büroabteilung des Schlachthofs. Gestern war es Glück gewesen. Heute begann der Ernst des Lebens. Die Knochenarbeit begann. Die Personalliste wurde aufgestellt: 185 Schlachthausarbeiter und 28 Büroangestellte mussten reklamiert werden, sofern sie nicht schon deportiert waren. Es waren auch einige Juden auf der Liste. 138.000 Polen sollten nach Posen deportiert werden. Waren schon ehemalige Mitarbeiter darunter? Diese Personalliste war nun bei Heribert Kammer, dem Polizeichef Gotenhafens, an der richtigen Adresse. Es gelang ihm sogar, zwei deportierte Mitarbeiter zurückzuholen. Die Zustimmung des Wirtschaftssenators, des NSDAP-Kreisleiters und der SS war Formsache. Es konnte gestartet werden und es wurde gestartet. Das Personal wurde freigestellt. Es bestand überwiegend aus Polen.
Was hatten die beiden Freunde Herbert und Heribert vor der Zeit in Gotenhafen gemacht? Von 1921 bis 1927 waren beide aktiv auf der Aschenbahn im Danziger Sportclub, deren Vorsitzender damals der Jude David Jonas war. Als Sportskameraden waren sie locker befreundet, verloren sich aber dann aus den Augen. In den dreißiger Jahren begegneten sich beide zufällig in der Heinrichsallee in Zoppot. Beide waren umgezogen. Heribert aus Danzig aus der Fleischergasse 25, Pappa aus Langfuhr, Hochstrieß 63, zufällig beide in die Heinrichsallee. Heribert bewohnte jetzt am unteren Ende der Heinrichsallee eine Villa und Pappa am oberen Ende. Es war ein Wiedersehen, das gefeiert werden musste. Pappa lud die Familie Kammer ein. Es wurde feucht-fröhlich gefeiert. Daraus...