3. Das Alte Testament als religiöse
Überlieferungsliteratur des Judentums
a) Die Trägerschaft. Das Alte Testament ist die Heilige Schrift des Judentums und der vordere und bei weitem größere Teil der Heiligen Schrift des Christentums. In dieser Gestalt ist es auf uns gekommen. Um es zu verstehen, muss man wissen: Es ist nie etwas anderes gewesen. Seine heutige Eigenschaft als Heilige Schrift bestimmt zugleich seinen Ursprung.
Den unbefangenen Leser muss diese Feststellung überraschen; denn sie widerspricht der Selbstaussage des Textes. Das Alte Testament liest sich vielmehr zu großen Teilen als das Zeugnis der Geschichte des Alten Israel. Die Geschichtsdarstellung in den Büchern Genesis bis Könige endet mit der Zerstörung Jerusalems durch die Neubabylonier im 6. Jh. v. Chr.: mit jenem Ereignis, das nach unserem heutigen Verständnis die Entstehung des Alten Testaments ausgelöst hat. Das Alte Testament beginnt, wo das Alte Israel endet.
Der aufmerksame Leser dürfte freilich schon auf der ersten Seite der Bibel gestutzt haben: Am Anfang steht die Erschaffung der Welt. Eine Darstellung, die derart mit Voraussetzungen einsetzt, die aller Geschichte vorausgehen, kann nicht Geschichte als solche wiedergeben. Im Alten Testament hat sich eine religiöse Gemeinschaft ihre Vergangenheit als Gottesgeschichte vergegenwärtigt, um ihre Zukunft wiederzugewinnen.
Für diese Vergegenwärtigung der Vergangenheit gab es literarische Quellen; doch deren Bestand ist, gemessen am heutigen Text, gering. Es sind nur Reste, die eine Kette historischer Katastrophen übrig gelassen hat. Den Niederlagen sind nicht allein die Archive zum Opfer gefallen, sondern auch jene Institution, in deren Auftrag die Dokumente entstanden waren: 722 das israelitische und 586 das judäische Königtum.
Literatur braucht zu ihrer Entstehung einen institutionellen Rahmen und ein wirksames Interesse. Das gilt zumal für religiöse Literatur und zumal in der Antike. Dieser Rahmen ist für die eigentlichen Anfänge des Alten Testaments, soweit wir sehen können, die Kultgemeinde gewesen, die sich in persischer und früher hellenistischer Zeit um den Tempel in Jerusalem scharte. Mit großer Wahrscheinlichkeit gab es am Tempel eine Schreibkammer sowie ein literarisches Archiv, man kann auch sagen: eine theologische Schule.
b) Das literaturschaffende Interesse. Das Heiligtum führte unter persischer Oberhoheit den judäischen Hofkult weiter, obwohl es seinen königlichen Stifter und Träger verloren hatte. Der Selbstwiderspruch, der darin lag, nötigte zu einer umfassenden Neuinterpretation der überkommenen Religion. Es entstand die Vorstellung der unmittelbaren, nicht mehr durch das Königtum vermittelten Herrschaft Gottes.
Diese Neuerung sollte indessen nicht als das gelten, was sie war, diente sie doch dazu, die Kontinuität mit der Vergangenheit zu wahren oder wiederherzustellen. Deshalb verstand man die Gottesherrschaft als das Prinzip, das die Geschichte schon immer bestimmt hatte. Daraus erwuchs im Umgang mit den überlieferten Quellen ein umfassender Interpretationsprozess, in dessen Folge die Lebensbedingungen der nachköniglichen Zeit an den Ursprung der eigenen Geschichte versetzt wurden. Pointiert gesagt: In scharfem Gegensatz zu der Religionsgeschichte des eisenzeitlichen Syrien-Palästina entstand die Fiktion, dass sich in der Vorzeit am Sinai das Judentum konstituiert habe.
Die Neuinterpretation bezog sich auf die schriftlich niedergelegten Sprüche der Propheten, auf die erhalten gebliebenen Gesetzbücher, nämlich das Deuteronomium und das Bundesbuch, auf einen Grundbestand an Kultlyrik und Weisheitsschriften sowie auf die im 6. Jh. edierten zusammenfassenden Geschichtswerke. Indessen war sie kein einmaliges Geschehen, sondern setzte im Laufe der persischen und der hellenistischen Epoche immer neue Nach-Interpretationen frei. Der Bestand, der im 6. Jh. am Anfang gestanden hat, umfasst nur den kleinsten Teil des heutigen Alten Testaments.
c) Das Wesen des Interpretationsprozesses. Den Ursprung des literarischen Werdens einer Heiligen Schrift bildet die Erfahrung, dass es wirkmächtiges Gotteswort gibt. In Israel und Juda ist diese Erfahrung mit der Prophetie verbunden gewesen. Das Schlüsselereignis bildete der Untergang Jerusalems, den die Propheten als Tat des Gottes Jahwe an seinem eigenen Volk vorausgesagt hatten; wenigstens hat man ihre Worte nachträglich so verstanden. Die Geschichte hatte die Voraussage bestätigt. Von nun an waren die Worte der Propheten verbürgt.
Man stellte sie in Sammlungen zusammen und begann, sie weiterzuüberliefern. Gab doch die in ihnen gegebene Deutung dem, was geschehen war, einen Sinn: Die Katastrophe ist die Strafe Gottes gewesen. So schrecklich diese Deutung war, sie war besser als das blinde Schicksal. Wenn die Katastrophe eine Strafe war, konnte man hoffen, die Ursache durch Änderung des Verhaltens künftig auszuschließen: Umkehr zur Zukunft. Ungefähr zur selben Zeit entstanden die Erstfassungen der großen Geschichtswerke. Da sie religiöse Geschichtsdeutung sind, wandte man alsbald dieselben Überlieferungskriterien auf sie an. Hinfort lebte die Religion von der Schrift.
Die Haltung, unter der die Weitergabe des verbürgten Gotteswortes geschah, lässt sich am besten kennzeichnen durch die sogenannte «Kanonformel». Sie ist als eine Art notarielles Postskript aus assyrischen Verträgen belegt, fand aber auch auf die alttestamentlichen Gesetzessammlungen Anwendung:
Alles, was ich euch gebiete, das sollt ihr halten und danach tun. Du sollst nichts dazutun und nichts davontun (Dtn 13,1; vgl. 4,2).
Was für die Gebote gefordert wurde, galt fortan für das schriftgewordene Gotteswort insgesamt: Weil es als normativ galt, war es im Grundsatz unveränderbar.
Diese Bedingung hatte ein Dilemma zur Folge. Die Bewahrung der Schrift geschah ja nicht um ihrer selbst willen. Sie sollte die Geltung des Gottesworts für die Gegenwart sichern. Das aber war nur möglich, wenn das Wort nicht nur überliefert, sondern in ein Gespräch mit der Gegenwart gebracht wurde. Notwendigerweise veränderte es sich dabei. Es gibt keinen lebendigen Schriftbezug ohne Auslegung.
Der Ausweg bestand darin, das überlieferte Wort unverändert zu lassen und die Deutung hinzuzufügen. Bis etwa zum Ende der Perserzeit hat die Kanonformel für die Tora nur zur Hälfte gegolten, für die übrigen Schriften noch längere Zeit. Der gegebene Text wurde in aller Regel nicht gekürzt. Hinzugetan aber wurde laufend und in großem Umfang. Erst auf diese Weise ist das Alte Testament zu dem angewachsen, was es ist.
Die laufende Ausdeutung sollte dem Text nicht etwas Neues hinzufügen, sondern seinen gegebenen, tieferen Sinn ans Licht bringen. Hebräisch heißt solche Text-Ausforschung «Midrasch». Vom späteren jüdischen Midrasch unterscheiden sich die alttestamentlichen Texte darin, dass Auslegung und vorgegebene Überlieferung nicht unterschieden wurden. Auf der jeweils nächsten Stufe lagen sie als Einheit vor: ein einziger Text, der wiederum in derselben Weise ausgelegt wurde. Man kann die Art des Wachstums «Schneeballsystem» nennen: Einmal ins Rollen gebracht, gewinnt der Schneeball mit jeder Umdrehung eine neue Schicht. Das Alte Testament ist auf diese Weise zu großen Teilen seine eigene Auslegung, «sacra scriptura sui ipsius interpres». Es gibt fast keine Texteinheit, die nicht aus mehreren literarischen Schichten besteht. Die Groß-Einheit ist in einem Ausmaß von bedeutungsvollen Querbezügen durchwoben, das sich kaum je wird ausloten lassen. Die englische Bezeichnung, die sich neuerdings für dieses Phänomen verbreitet, ist «intertextuality».
Das Wachstum lief meist ohne Regeln ab. Das war sachgemäß: Man «macht» keinen heiligen Text, man empfängt ihn aus der Tradition; nur dass man ihn für die Belange der Gegenwart deutet. Redaktionelle Eingriffe waren die Ausnahme: Sammlung, Gliederung, neue Anordnung; Auftrennung angewachsener Buchrollen; Zusammenfassung zusammengehöriger Texte zu größeren Konvoluten.
Der Schneeball musste irgendwann zur Ruhe kommen. Die Entwicklung hätte sich andernfalls gegen ihren Grund gekehrt. Die Kontur des heiligen Textes wäre zerflossen. Deshalb hat schließlich auch die andere Hälfte der Kanonformel ihre Wirkung gehabt: «Du sollst nichts dazutun.» Ein fester Text bildete sich heraus. Das sollte und konnte die laufende Auslegung und Aktualisierung nicht beenden. Von nun an lief sie neben der sich verfestigenden kanonischen Sammlung einher. Sie wurde zur Quelle einer immensen Sekundär-Literatur ...