Vorwort
Ich lebe in einer außergewöhnlichen Zeit. Für mich ist eine Weltordnung selbstverständlich, in der es zahlreiche unabhängige Staaten gibt. Einige darunter sind wohlhabende demokratische Verbünde, die letztlich von ihren Bürgern regiert werden. Freiheit, Gleichheit und Menschenwürde gelten allgemein als grundlegende Werte. In Staaten, deren Bürger die Regierung kontrollieren, werden Menschen- und Bürgerrechte durch die Öffentlichkeit geschützt. Gewöhnlich herrschen dort Gesetz und Ordnung. Solche politischen Voraussetzungen fördern das Wirtschaftswachstum. In den Genuss einer Verbindung von demokratischem Staat und starker Wirtschaft kommen de facto nur wohlhabende Bürger hochentwickelter Länder. Viele Menschen, die solche Lebensbedingungen noch nicht genießen können, streben sie an. Demokratie und Wachstum bestimmen die normalen, wenn auch nicht die gewöhnlichen Voraussetzungen der Moderne. Die meisten Länder werden tatsächlich autokratisch regiert. Da dies aber als anormal gilt, geben sich Autokraten fast immer als Demokraten aus. Wirtschaftlicher Stillstand wird als Problem angesehen und verlangt nach einer Lösung.
Während des größten Teils der Menschheitsgeschichte galten Demokratie und Wachstum allerdings nicht als normal; sie waren nicht einmal vorstellbar. Lediglich im ersten Jahrtausend v. Chr. gab es im antiken Griechenland einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten, in denen Demokratie und Wachstum für die Bürger im klassischen Griechenland tatsächlich normal waren. Wie es dazu kam und warum das Wissen um diesen Umstand wichtig ist, führe ich in dem vorliegenden Buch aus.
Neuere Forschungsarbeiten – viele stammen von meinen Kollegen an der Stanford University – leisten einen Beitrag, um folgende Frage zu klären: Warum sind die politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen der Moderne, gesamtgeschichtlich gesehen, so außergewöhnlich selten? Mehrere tausend Jahre lang, bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, lebten die meisten Menschen unter der Befehlsgewalt von Autokraten. Diese begründeten ihre Herrschaft religiös. Die erfolgreichsten dieser Machthaber regierten große Reiche; die meisten ihrer Untertanen vegetierten am Existenzminimum dahin. An der Macht konnten sich diese Herrscher halten, indem sie den Untertanen die Produktionsüberschüsse abnahmen. Diese »Beute« verteilten sie unter den Eliten, die im Gegenzug ihre Herrschaft stützten. Unter solchen Bedingungen ist der Zugang zu Ämtern begrenzt. Menschen- und Bürgerrechte existieren so gut wie nicht. Das Wirtschaftswachstum gewöhnlich gering.1
Dieser vormoderne Normalzustand kann im Folgenden unter dem Begriff Herrschaft zusammengefasst werden. Dabei muss man stets bedenken, dass die absolute Herrschaft des Autokraten gewöhnlich eingeschränkt war, sei es, dass bestimmte Gruppierungen von Untertanen durch Ständeversammlungen oder durch ein Petitionsrecht Mitsprachemöglichkeiten bei der Regierung besaßen oder dass Traditionen und religiöse Bräuche die Absolutheit der Macht einschränkten. Außerdem akzeptierten Untertanen oft die Legitimität einer königlichen Autorität. Herrschaftsverhältnisse dieser Art bestanden im größten Teil der Welt bis zum 18. Jahrhundert. Dann setzten allmählich Veränderungen ein, zuerst in einigen Ländern am Atlantik, später in einem Großteil der Welt. Das Ergebnis ist unser heutiger politischer Normalzustand, der als »Demokratie« bezeichnet werden kann – solange man bedenkt, dass de facto auch in demokratischen Gesellschaften viele Menschen unterschiedlichen Formen von Herrschaft unterworfen sind.2
Die moderne Welt ist sowohl in ihrer wirtschaftlichen als auch in ihrer politischen Entwicklung eine Ausnahmeerscheinung – nicht nur, weil sie (insgesamt) wohlhabend ist, sondern auch, weil in ihr Formen und Werte politischer Demokratie vorherrschen. Nur wenige meiner Leser würden es wohl vorziehen, in den vormodernen Normalzustand der Herrschaftsverhältnisse zurückzukehren, selbst wenn ihr materieller Wohlstand dabei garantiert bliebe. Ebensowenige würden wohl mit den wirtschaftlichen Zuständen einer vormodernen Gesellschaft vorliebnehmen, selbst wenn sie demokratisch wäre. Bürgern eines neuzeitlichen Industriestaates bleibt die Entscheidung zwischen Wohlstand und Demokratie erspart. Wir wissen inzwischen, dass demokratische Staaten durchaus ein enormes Wirtschaftswachstum erzielen können.
Mein Kollege Ian Morris hat gezeigt, dass unter verschiedenen politischen Systemen relativ hohe Entwicklungsstandards historisch erreicht worden sind.3 Die Frage, welche institutionellen Voraussetzungen für Wachstum erforderlich oder ausreichend sind, bleibt heftig umstritten. Außer Frage steht dagegen, dass viele Menschen – auch jene, die nicht das Glück haben, als wohlhabende Bürger in modernen Industrienationen zu leben – nicht nur den Wohlstand der Armut vorziehen, sie favorisieren auch die Demokratie anstelle von Autokratie. Das ist eine normative Präferenz. Sie beruht auf der grundlegenden Annahme, den Wert einer Demokratie über jenen einer Autokratie zu stellen. Meiner Meinung nach sprechen gute Gründe für diese normative Präferenz. Viele Leser des vorliegenden Werks werden meine Vorliebe für Demokratie durchaus teilen, auch wenn unsere persönlichen Gründe vielleicht voneinander abweichen.4
Wenn wir unsere heutigen politischen und ökonomischen Umstände jenen des vormodernen Normalzustands vorziehen, dann haben wir einleuchtenden Grund zu untersuchen, wie sie zustande gekommen sind: Mit welcher Wahrscheinlichkeit können sich Demokratie plus Wohlstand als ebenso gängig wie normal etablieren? Wie kam es überhaupt, dass historisch außergewöhnliche wirtschaftliche und politische Bedingungen für normal befunden wurden? Dürfen wir erwarten, dass sich diese Bedingungen dort, wo sie gegenwärtig bestehen und gelten, erhalten und sich auch im Rest der Welt durchsetzen werden? Das Studium politisch und wirtschaftlich außergewöhnlicher Umstände in früheren geschichtlichen Epochen bietet hier einen noch weitgehend unbegangenen Weg, solche Fragen zu beantworten.
Die außergewöhnlichen politischen Umstände, die ich unter der Bezeichnung Demokratie zusammenfasse – eine Sozialökologie zahlreicher unabhängiger Staaten, föderale Strukturen, bürgerliche Selbstverwaltung und die diesen Faktoren zugrundeliegenden Werte – waren zwar vor dem 18. Jahrhundert nur sehr selten gegeben, aber keineswegs unbekannt. Zu den Gesellschaften mit diesen Merkmalen gehörten zum Beispiel die niederländischen Republiken des 16. Jahrhunderts, die italienischen Stadtstaaten der Renaissance im 14. und 15. Jahrhundert – und das antike Griechenland der klassischen Zeit im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. In allen diesen Fällen dauerten die außergewöhnlichen wirtschaftlichen Umstände nur für eine begrenzte Zeit an. In keinem einzigen Fall waren die vormodernen Bürgerrechte und das Wirtschaftswachstum jedoch so ausgeprägt, wie es viele Bürger der höchstentwickelten Staaten seit etwa 150 Jahren genießen. Aber in allen diesen historischen Beispielen erlebte die jeweilige Gesellschaft eine längere Periode blühender Wirtschaft und Kultur vor dem Hintergrund einer historisch bemerkenswerten Ausdehnung des Bürgerrechts.
Eine vergleichende Analyse dieser und anderer historischer Fälle außergewöhnlicher politischer und wirtschaftlicher Umstände wäre eine große Hilfe, wenn wir die Frage nach den Entstehungsgrundlagen und den Zukunftsaussichten unserer modernen Gesellschaft aufwerfen. Vor einem solch ehrgeizigen vergleichenden historischen Projekt kommt allerdings die gründliche Untersuchung der einzelnen historischen Beispiele. Warum entstand die betreffende historisch außergewöhnliche Gesellschaft zu diesem Zeitpunkt und in dieser Region? Wie und warum endete ihre politische und ökonomische Außergewöhnlichkeit? Diese Umstände müssen erklärt und erläutert werden, mehr noch: Wir sollten sie verstehen. Das vorliegende Werk möchte, indem es eine neuartige politische und wirtschaftliche Geschichte des antiken Griechenland bietet, zu diesem Projekt beitragen.
Dieses Buch offeriert keine »große Divergenz« zwischen Ost und West. Es behauptet auch nicht, Demokratie sei notwendige oder zureichende Bedingung für Wirtschaftswachstum. Meine...