VORWORT: WAS WAR BYZANZ?
Byzanz war ein Staat, der niemals existierte, zumindest nicht unter diesem Namen. Kaum einem Bewohner jenes Reiches, das von 326 bis 1453 bestand, wäre es je eingefallen, sich einem Byzantinischen Reich zugehörig zu sehen oder sich als Byzantiner zu bezeichnen. Man nannte sich stolz Römer oder, da Griechisch die Hauptsprache des Staates war, Rhomäer. Der Begriff Byzanz für das Reich stammt erst aus der Geschichtsschreibung der Renaissance, geschaffen, um das Reich, das wir heute als das Byzantinische kennen, vom Reich der Römer, das von 753 v.Chr. (der Sage nach) bis 476 n.Chr. (Abdankung des letzten weströmischen Kaisers) bestand, zu unterscheiden.
Dieses Byzantinische Reich war die wesentliche Brücke zwischen den Welten des Orients und dem westlichen Europa, ebenso eine Verbindung zwischen der Antike und dem Beginn der Frühen Neuzeit und der Renaissance. Dennoch weiß man in Europa weniger über Byzanz als über das westliche Mittelalter oder über andere Reiche und Kulturen. Das Byzantinische Reich war auf dem Höhepunkt seiner Macht, als Europa nach dem Ende des Weströmischen Reiches hinter viele Errungenschaften der antiken Kultur zurückgefallen war und Jahrhunderte brauchte, um neue staatliche Strukturen, eine eigenständige Kunst und ein politisches System entstehen zu lassen. Und dennoch, wenn man heute von »byzantinischen Verhältnissen« spricht, so meint man religiösen und staatlichen Konservativismus und einen Staat, der von Korruption, Falschheit und Treulosigkeit bestimmt war. In Ansätzen mag das stimmen, die byzantinischen Kaiser, der Adel und die Hofbeamten verhielten sich in ihrer Zeit aber nicht anders als die Herrscher auf den westlichen Thronen. Trotz offensichtlicher Mängel war das Byzantinische Reich eine Zivilisation, die mehr als eintausend Jahre lang bestehen konnte und die alle Länder rund um das Mittelmeer, auf dem Balkan und in Westeuropa beeinflusste. Auch wenn dieser Einfluss einmal mehr und einmal weniger stark war – er war immer vorhanden.
Das Byzantinische Reich sah sich als der legitime Nachfolger des Römischen Reiches und existierte noch für fast eintausend Jahre, nachdem Rom an die Goten gefallen war. Seine Menschen sahen es als ein ewiges Reich an, von Gott dazu bestimmt, die Menschheit zu regieren vom Erscheinen Christi bis zum Jüngsten Gericht. Das Reich umfasste viele Ethnien und Kulturen, wenngleich die griechische die »Leitkultur« (im doppelten Sinne) und das Griechische Amts- und Umgangssprache war. Das Christentum war die offizielle und dominierende Religion, auch das Judentum und der Islam wurden toleriert, nicht aber andersgläubige, sogenannte häretische Christen. Das Byzantinische Reich hatte seinen strahlenden Mittelpunkt bis zum Schluss in der Stadt Konstantinopel, einst als Byzantion bekannt und seit 1930 Istanbul genannt.
Die schlechte Nachrede, die man den Byzantinern im Westen angedeihen ließ, beruhte unter anderem auf ihrem Beharren auf einer eigenständigen Konfession, die nicht den Papst, sondern den Kaiser in Konstantinopel als den Stellvertreter Christi auf Erden ansah und die im Westen als häretisch und abtrünnig gesehen wurde. Man verstand die Orthodoxen nicht als rechtmäßige Christen, und die westlichen Zivilisationen konnten nicht verstehen, wieso sich die Byzantiner und ihre Religion so unterschiedlich von ihrer Form des Christentums entwickelt hatten, gingen doch die westliche und die byzantinische Kultur auf die Antike zurück, und besonders auf das Römische Reich. Man sah Byzanz als den dekadenten armen Verwandten und übersah dabei, dass die Byzantiner dieselbe Meinung von den westlichen Zivilisationen hatten. Auch sie hatten im größten Teil ihrer Geschichte die Tendenz, sich als überlegen gegenüber anderen Zivilisationen zu sehen, sie betrachteten ihre Kultur und Lebensweise als die am weitesten fortgeschrittene und sich selbst als das eigentlich von Gott zur Herrschaft auserwählte Volk. Auch die Art, wie sie ihre orthodoxe Religion1 ausübten, sowie ihre religiösen Ansichten und Lehrsätze hielten sie für die einzig wahren und stießen dabei zunehmend auf die Gegnerschaft der Christen im Westen, die genau dasselbe von ihrer römischkatholischen2 Religion dachten.
Dabei war es dem sogenannten lateinischen Westen nicht bewusst, welche Kraft das Byzantinische Reich aus dem Umstand bezog, dass es sich als so alt und erfahren ansah. Schon zur Zeit Kaiser Justinians (527–565) war das Reich 200 Jahre alt und konnte auf eine Tradition von noch einmal 1000 Jahren zurückblicken, es sah sich so gefestigt, dass man glaubte, nichts und niemand könne es ins Wanken bringen. Das Byzantinische Reich war nach seiner Idee eine Einheit unter der Herrschaft eines Kaisers, einer Religion und einer Kunst. Alles, was sich im Westen erst entwickeln musste, ein Hof mit einem Hofstaat, Diplomatie, eine Zivilbürokratie, Rechtssicherheit durch geschriebenes Recht, der Glanz der höfischen Feste und auch die Möglichkeit, dass eine Frau an der Spitze des Reiches stand, war hier schon seit Jahrhunderten vorhanden. Dazu kam ein übersteigertes Selbstbewusstsein, da man den Kaiser, den Basileus in Konstantinopel, als den einzig wahren Kaiser sah, auch wenn sich Karl der Große 800 zum Kaiser des Westens in Rom krönen ließ und man dies in Byzanz später notgedrungen und aus politischer Räson anerkennen musste. Im Inneren wussten die Byzantiner von ihrer Überlegenheit und zeigten dies auch gerne nach außen. Aber diese Überzeugung ließ den byzantinischen Staat immer wieder auch schwerste Krisen überstehen, den Aufstieg fremder Reiche an den Grenzen wie das der Araber, der Bulgaren und der Serben oder die Kiewer Rus. Das Byzantinische Reich hatte sogar die Kraft, nach seiner Auslöschung durch den Verrat des Westens im Vierten Kreuzzug von 1204 eine Auferstehung zu schaffen, wenngleich dies so viel Substanz gekostet hatte, dass danach das Reich nur mehr ein Schatten seiner selbst war.
Das Selbstverständnis der byzantinischen Kaiser als Herrscher der bekannten Welt wurde noch verstärkt durch das Wissen über ihre Nachfolge der Kaiser des Römischen Reiches und besonders durch die Sprache, die seine mittelalterlichen Gelehrten und Wissenschaftler mit der altgriechischen Kultur verband. Dies befähigte sie, die Haupttexte der antiken Philosophen, Mathematiker, Geographen, Astronomen, Historiker und Arzte zu bewahren, indem man sie immer wieder kopierte und weitergab, oft durch zeitgemäße Kommentare verfeinert. Dazu kam, dass man sich nicht scheute, auch die Texte und Wissenschaften der Araber, der größten Feinde des Reiches, zu studieren, die so in Übersetzungen an das Abendland weitergegeben wurden. Besondere Beachtung fanden die antiken Schriftsteller, man las die Stücke von Aischylos, Sophokles, Euripides und Aristophanes und gab kritische Kommentare von Ilias und Odyssee heraus. Die Werke Platos und Demosthenes’ waren bekannt und brachten heidnisches Wissen in die ansonsten streng christliche Welt von Konstantinopel.
Das alte Kulturerbe verband sich in Byzanz auf das Idealste mit dem christlichen Glauben, der mit der Zeit in allen Teilen des Reiches die heidnischen Kulte ersetzte. Die byzantinische Kultur nährte die frühen Klostergemeinschaften auf den heiligen Bergen Sinai und Athos, sie vollzog die Christianisierung der Serben, Bulgaren und der Rus3 in einem Gebiet, in dem sich der orthodoxe Glaube bis heute erhalten hat. Als im 7. Jahrhundert die Patriarchate von Antiochia, Alexandria und Jerusalem an die Muslime verloren gingen, blieben die Byzantiner hier die spirituelle Schutzmacht der Christen, und sie dehnten ihren religiösen Einfluss auf so weit entfernte Länder wie Äthiopien, den Sudan, Persien, Armenien und Georgien aus.4
Indem es sein römisches und griechisches Erbe nutzte, verhalf Byzanz der antiken Ingenieurskunst zu überleben, man baute weiterhin Aquädukte, Befestigungen, Straßen und Brücken. Man schuf daraus auch Eigenständiges wie die gewaltigste Kirche ihrer Zeit, die Hagia Sophia in Konstantinopel, den größten Kuppelbau des Mittelalters, der erst tausend Jahre später vom Petersdom übertroffen wurde. Diese Kirche sollte Vorbild werden für alle Kirchen der orthodoxen Welt und lebt bis heute in der Form der Mehrzahl der Moscheen der Muslime nach. Selbst der Felsendom in Jerusalem, einer der wichtigsten Plätze des Islams, stammte aus der Hand byzantinischer Handwerker, die im 7. Jahrhundert vom Kaiser Justinian II. dem Kalifen Abd el-Malik gesandt wurden.
Aus Rom übernahm Byzanz das Justizsystem und die militärischen Traditionen. In Byzanz lebte man nach dem Gesetz; gab es ein legales Problem, so richtete darüber ein ausgebildeter Jurist nach gesammelten und geschriebenen Gesetzen. Im ganzen Reich konnten die Menschen, wenn sie sich unrecht behandelt fühlten, zu einem Gericht gehen und empfingen dort einen Richterspruch, den sie zu akzeptieren hatten.
Obwohl das System der römischen Legionen die Spätantike nicht überlebt hatte, übernahm die byzantinische Armee doch deren Traditionen. Man verwendete weiterhin römische Strategien, übernahm die Art der Waffen, die...