1
DATENKAPITALISMUS
EBays zwanzigster Geburtstag im September 20151 sollte eigentlich eine Siegesfeier werden. Seit der Gründung des Online-Marktplatzes hatten 160 Millionen Nutzer Waren im Wert von über 700 Milliarden US-Dollar auf eBay gehandelt.2 Doch als der neue Firmenchef Devin Wenig die Bühne betrat, wirkte er auf die anwesenden Journalisten eher wie ein »General, der seine umlagerten Truppen auf die Schlacht einschwört«3. Seine Rede fühlte sich an wie ein Motivationsseminar – und das aus gutem Grund. Dem weltgrößten Marktplatz war ein Stück weit die Luft ausgegangen: Während andere große Online-Händler von Umsatzrekord zu Umsatzrekord eilten, stagnierten bei eBay die Verkäuferzahlen. Der große Rivale Amazon baute sein »Marketplace«-Angebot mit unabhängigen Händlern in direkter Konkurrenz zu eBay sehr erfolgreich aus. Zudem wilderten immer mehr spezialisierte Plattformen wie Etsy – ein Marktplatz für Handgemachtes – im Revier des einstigen Platzhirschs. Wall-Street-Analysten bezeichneten eBay als »reif für den Neustart«4.
Pierre Omidyar hatte eBay 1995 als kleinen Testballon gestartet. Die ersten Auktionen liefen noch auf seiner persönlichen Website. Der Ballon flog hoch und weit. In den kommenden Jahren wurde eBay hochprofitabel. Omidyar hatte eine uralte, aber extrem erfolgreiche Idee in die Onlinewelt übertragen: den Marktplatz. Doch weil eBays Marktplatz kein physischer Ort mehr war, hatte er rund um die Uhr, 365 Tage im Jahr, geöffnet. Aufgrund der nahezu unbegrenzten Reichweite des Internets stand er weltweit vielen offen. EBays innovatives Bewertungssystem sorgte dafür, dass die Teilnehmer einander vertrauen konnten, obwohl sie sich nicht kannten. Das alles machte die neue Plattform außerordentlich attraktiv.
Wenn sich viele Käufer und Verkäufer an einem Ort tummeln, sprechen Ökonomen von einem »dichten« Markt. Dichte Märkte sind gute Märkte, denn sie erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass beide Seiten finden, was sie suchen. EBays Marktplatz war traditionellen Märkten in einem weiteren wichtigen Punkt überlegen: Statt zu Festpreisen wurden die Waren in den ersten Jahren ausschließlich in Auktionen verkauft. Dass dies ein deutlich besserer Weg ist, den passenden Preis zu finden, lernen Wirtschaftsstudenten im ersten Semester.
Ein weltweiter Marktplatz, der immer geöffnet hat und Transaktionen einfach und effizient macht – das war das Rezept für eBays kometenhaften Aufstieg. Die Plattform war dabei nicht nur wegweisend für die junge Internetwirtschaft, sondern schien auch die überragende Rolle zu bestätigen, die Märkte in unserem Wirtschaftssystem insgesamt spielen. Mit so vielen Vorteilen werden viele eBays Schwierigkeiten der letzten Jahre schlechtem Management zuschreiben.5 Für uns sind sie jedoch ein Anzeichen einer viel größeren, strukturellen Veränderung unserer Wirtschaft.
Nur wenige Monate vor eBays zwanzigstem Jubiläum passierte bei einem anderen Internetpionier etwas sehr Merkwürdiges. Der Aktienkurs von Yahoo rutschte de facto ins Minus. Der Hintergrund: Yahoo besaß einen erheblichen Anteil am chinesischen Online-Marktplatz Alibaba – und gemessen an Alibabas Aktienkurs waren Yahoos Alibaba-Aktien mehr wert als Yahoo selbst. Wer Yahoo-Aktien verkaufte, bezahlte also den Käufer dafür, dass der ihm die Aktien abnahm.6 Das ergab keinen Sinn, denn der Kurs einer Aktie kann niemals negativ sein. Gleichzeitig sollten Aktienkurse das gesamte Wissen eines Markts abbilden – so lehrt es uns zumindest die Wirtschaftswissenschaft. Irgendetwas lief also grundlegend falsch.
EBays überraschende Schwierigkeiten und der widersinnige Aktienkurs von Yahoo sind keine Verkettung unglücklicher Umstände. Sie zeigen vielmehr eine fundamentale Schwäche traditioneller Märkte auf: die Fixierung auf den Preis.
Ungefähr zur selben Zeit, als eBay und Yahoo in Schwierigkeiten gerieten, kamen die Geschäfte eines deutlich jüngeren Start-ups namens BlaBlaCar erst richtig in Fahrt. Die Firma war 2006 in Paris von einem jungen Franzosen gegründet worden, der sich während eines Studiums an der kalifornischen Stanford-Universität den Gründervirus eingefangen hatte. BlaBlaCar ist wie eBay eine Art Online-Marktplatz. Das Unternehmen hat sich allerdings spezialisiert: Es ist eine Mitfahrzentrale, und zwar eine sehr erfolgreiche. Jeden Monat finden mehrere Millionen von Autofahrern und Fahrgästen zusammen, die dasselbe Ziel haben. Und es werden immer mehr. Im Unterschied zu eBay spielt auf BlaBlaCars Marktplatz allerdings nicht der Preis die Hauptrolle, sondern vielfältige Daten. Mitfahrer können zum Beispiel die Angebote danach durchsuchen, wie gesprächig der Fahrer ist (daher der Name BlaBlaCar), welche Musik sie mögen oder ob Haustiere mitfahren dürfen – und somit das für sich perfekt geeignete Angebot auswählen. Der Preis spielt in dem Modell nur eine untergeordnete Rolle, denn die Fahrer können diesen nur innerhalb einer vorgegebenen Spanne festlegen.
Die digitale Mitfahrzentrale von BlaBlaCar ist nicht die einzige Plattform mit diesem Ansatz: Von der Internet-Reiseplattform Kayak über die Online-Investmentfirma SigFig bis zur digitalen Jobbörse Upwork entstehen immer mehr Märkte, die auf vielfältige Daten setzen und dadurch ihren Nutzern helfen, optimalere Transaktionspartner zu finden. Diese Sorte Marktplätze gewinnt – in der Sprache von Risikokapitalisten gesprochen – gerade mächtig an »Traktion«.
In diesem Buch weben wir den roten Faden, der diese drei Geschehnisse verbindet: Ein traditioneller Online-Marktplatz steckt in Schwierigkeiten, die eingespielten Preismechanismen der Wall Street spielen verrückt, datenreiche Märkte heben ab. Wir sind davon überzeugt, dass Märkten ein Neustart bevorsteht, der auf Datenreichtum basiert und unsere gesamte Wirtschaft ähnlich tiefgreifend verändern wird wie die industrielle Revolution. Der neue Datenreichtum wird Mehrwert für alle Marktteilnehmer schaffen. Und mit seiner Hilfe ersetzen wir den Industrie- und Finanzkapitalismus des letzten Jahrhunderts durch den Datenkapitalismus.
Der Markt ist eine erfolgreiche gesellschaftliche Innovation. Er erlaubt uns, begrenzte Ressourcen effizient zu verteilen. Märkte folgen einem einfachen Prinzip – und haben eine extrem große Wirkung. Sie ermöglichen es, sieben Milliarden Menschen zu ernähren, ein Dach über dem Kopf zu schaffen und sie mit Kleidung zu versorgen. Sie haben unsere Lebenserwartung und Lebensqualität drastisch erhöht. Transaktionen am Markt sind soziale Interaktionen – auch oder gerade weil sie der menschlichen Natur des sozialen Austauschs so gut entsprechen. Hierin liegt der Grund, dass Märkte sich für die meisten von uns so natürlich anfühlen und so tief in der DNA unserer Gesellschaft verankert sind, dass wir ihre Leistung kaum noch wahrnehmen. Sie sind das Fundament unseres Wirtschaftssystems.
Märkte entfalten ihre volle Kraft, wenn Informationen ungehindert fließen und Menschen wissen, wie sie diese in ihre Entscheidungen einbeziehen. Dank dieser Informationen können Märkte ohne zentrale Entscheidungsgewalt funktionieren. Umgekehrt heißt das auch: Damit Märkte stabil und belastbar sind, müssen alle Teilnehmer möglichst ungehindert auf die Informationen über die Angebote am Markt zugreifen können. Bis vor kurzem war es jedoch aufwendig und teuer, derartig umfassende Informationen anderen Marktteilnehmern mitzuteilen. Daher griffen wir zu einer raffinierten Notlösung und verdichteten die Vielzahl von Informationen zu einer einzigen Zahl: dem Preis. Und wir kommunizierten diese Information mit Hilfe von Geld.
Die Kehrseite des Preises ist jedoch: Wenn Informationen komprimiert werden, gehen Details und Nuancen verloren. Das führt zu schlechteren Transaktionen – weil wir aufgrund der fehlenden Details das Angebot nicht mehr überblicken oder aufgrund der zu stark verdichteten Informationen Fehlentscheidungen treffen. Seit Jahrtausenden haben wir mit dieser Krücke gelebt, weil es keine bessere Alternative gab.
Genau das ändert sich gerade. Schon bald werden Märkte dominieren, auf denen umfassende Informationen über Angebot und Nachfrage schnell und kostengünstig verfügbar sind. Wir werden diese Daten mit Hilfe künstlicher Intelligenz (Ki) und modernen Matching-Algorithmen kombinieren – und so schnell und einfach den optimalen Transaktionspartner am Markt finden. Das wird so gut funktionieren, dass wir es selbst für scheinbar banale Transaktionen nutzen.
Nehmen wir an, Sie sind auf der Suche nach einer neuen Bratpfanne als Ersatz für die alte. Ein mit Daten lernendes System auf Ihrem Smartphone schaut sich ihre Einkaufshistorie an und sieht, dass Sie beim letzten Mal eine Pfanne für einen Induktionsherd gekauft haben. Allerdings haben Sie anschließend nur eine mittelmäßige Bewertung für die Pfanne abgegeben. Durch eine Textanalyse der Bewertung versteht das System, dass Ihnen die Beschichtung der Pfanne wichtig ist und Sie Keramikbeschichtungen für besonders hochwertig halten. Es erkennt auch, welches Material für den Griff Sie bevorzugen. Basierend auf diesen Vorlieben sucht das System in verschiedenen Online-Shops nach einem optimal passenden Angebot – und berücksichtigt dabei sogar die CO2-Bilanz des Versands, weil es erkennt, dass diese Ihnen wichtig ist. Es verhandelt schließlich automatisiert mit dem Verkäufer und erzielt dabei einen Rabatt – weil es weiß, dass Sie bereit sind, per Bankeinzug zu bezahlen und nicht per...