Heimat
Die Strasse, die in den 221-Seelen-Ort Gurtnellen-Dorf führt, ist kurvig. Wer es eilig hat, läuft Gefahr, in eine Kuhherde zu fahren. Eingebettet in eine steile Bergflanke, steht hier das kleine Holzchalet, in dem Willy Schaffner lebt. Hoch über der A2 verbringt der ehemalige Zürcher Stadtpolizist seinen Lebensabend. Im Winter schafft es die Sonne nur wenige Stunden über die Gipfel, aber heute hat der älteste Urner, wie die Einheimischen hier den Föhn nennen, den Himmel blank gefegt. Schaffner ist ein Berg von einem Mann. Sein Händedruck ist fest, er trägt, obwohl November, nur Jeans und T-Shirt.
»Das hier«, sagt er nach der Begrüssung und macht eine ausschweifende Armbewegung, »das hier ist Heimat. Die Berge nah, die Bergbäche mit den Forellen und der Wald mit den Steinpilzen.« Schaffner bietet an, die Umgebung des Hauses zu zeigen. »Drinnen ist dann die Frau zuständig.«
Direkt vor dem Vorplatz des Holzhäuschens grasen die Alpakas des Nachbarn, sie büxen regelmässig aus und machen sich über den Garten des ehemaligen Polizisten her. Weiter unten im Hang gackern Hühner. Ihr Gackern wird lauter, als wir uns nähern. Die Tiere hätten keine Namen, erklärt mir Schaffner – trotzdem kenne er jedes einzelne und werde auch von ihnen erkannt. Er schnalzt ein paarmal, die Hühner scharren aufgeregt. »Diese Vögel«, sagt er, eine Hand am Maschendrahtzaun, »verfügen über eine soziale Ader und haben einen grossen Freiheitsdrang.«
Ein paar Monate später werde ich genau das über Schaffner sagen, aber noch stehen wir vor dem Hühnergehege, und er erzählt, dass die so friedlich wirkenden Tiere kein Pardon kennen, wenn er statt der üblichen Körner Speckschwarten bringe oder Käserinden. »Meine Kannibalen«, nennt er sie dann, weil sie sich gegenseitig picken, um an die begehrten Leckerbissen zu gelangen.
Manchmal nimmt der grosse Mann eines der Tiere auf den Arm. Vielleicht tut das auch ihm gut, denn die alten Geschichten, die Arbeit als Polizeispitzel und das unrühmliche Ende dieser Tätigkeit, plagen ihn bis heute. Im Keller hortet er fünf Wäschekörbe voll mit Zeitungsausschnitten, Notizen und Tagebucheinträgen. Erinnerungen neben eingemachten Kirschen, Zucchetti und Pilzen. Berge von Papieren, die er jemandem zeigen muss, bevor er sie verbrennen kann, abschliessen, den Rest seines Lebens unbelastet geniessen. Darum hat er mich gefragt, ob ich seine Geschichte niederschreiben würde. Er will sie loswerden, er will, dass man sie versteht – und mit ihr auch ihn.
»Wo fangen wir an?«, fragt Schaffner, als wir wenig später im Chalet am hölzernen Küchentisch mit Eckbank sitzen. Er zieht einen der Stapel Papiere, die er fein säuberlich auf den Tisch gelegt hatte, etwas näher zu sich. Darf er das überhaupt, diese Dokumente zeigen? Darf er erzählen, wie man damals gearbeitet hat? Die Zweifel sind immer spürbar während unserer Gespräche. Er will niemandem zu nahe treten, keinen Fehler mehr begehen. Zögernd beginnt er doch zu erzählen, zuerst stockend, dann flüssig, manchmal ein wenig so, als habe er sich gewisse Geschichten schon länger zurechtgelegt. Bevor er einen Kraftausdruck verwendet, sagt er jeweils »’tschuldigung«.
Zusammen mit Willy Schaffner geht die Reise zurück nach Zürich und ins Jahr 1976. Der junge Urner ist 26 Jahre alt, feiert im Muraltengut in Zürich Wollishofen mit seinen Eltern die Vereidigung zum Polizisten.
Der frischgebackene Polizist wurde als Streifenwagenfahrer im Kreis 2 eingeteilt. Ein ruhiges Quartier, Einbrüche manchmal, Falschparker, Verkehrsunfälle. Die Rapporte mussten auf der Schreibmaschine mit fünf Durchschlägen geschrieben werden. Wenn der junge Polizist Nachtdienst hatte, kochte der Chef im Büro der Wache, und sie assen zusammen Znacht.
In ruhigen Nächten, das lernte er schnell, stoppte man bei der Brauerei Hürlimann. Da stand dann immer schon der eine oder andere Streifenwagen. Kameradschaft pflegen, nannte sich das. Der Polizeifunk lief, im Notfall wäre man bereit gewesen, aber die Notrufe waren selten, und so wurde an den hölzernen Beizentischen der Brauerei so manches diskutiert, was in den Augen eines Polizisten falsch lief im Lande.
Der Innerschweizer liebte sein neues Leben, die Grossstadt, auch wenn er wusste, dass er hier nie ganz heimisch werden würde. Man tickte einfach anders, wenn man von »hinten« kam, im Urner Reusstal aufgewachsen war, eingeklemmt zwischen Bergflanken. Das hatte sich schon in der Polizeischule gezeigt: Vom ersten Tag an, dem 1. April 1975, hielten sie zusammen, die Schwyzer, Nidwaldner, Urner, Luzerner, die der gemeinsame Berufswunsch nach Zürich verschlagen hatte. Wenn der Kasernenchef Strafen aussprach, weil man nach dem Ausgang wieder einmal zu spät zurückgekommen war, traf es nie einen allein.
In einem Keller in der Zürcher Enge lernten die Polizeiaspiranten schiessen, und Polizeikommandant Rolf Bertschi unterrichtete sie in »Ethik in der Polizeiarbeit«, zum Beispiel: »Wohin mit den Händen, wenn man in Uniform unterwegs ist?«, und »Wie grüsst man den Bürger?«.
Schaffner war bereits mehrere Wochen bei der Streifenpolizei, als in einer der langen Nächte mit einem Stopp im Hürlimann-Areal ein Notruf einging: »Schlägerei in einer Bar in Wollishofen«, vermeldete die Einsatzzentrale. »Gönd emal go luege«, sagte der Kollege. Diesen Satz würde der junge Polizist sein ganzes Berufsleben lang hören: »Gönd emal go luege.«
Er trank in Ruhe seinen Kaffee aus. Auch das hatte er schnell begriffen: Wenn es nicht dramatisch klang, dann lohnte es sich, die Zeit für sich arbeiten zu lassen, ruhig und ohne Blaulicht vorzufahren. Wenn man Glück hatte, war der ganze Spuk vorbei, bevor man da war. Als er in dieser Nacht zusammen mit seinem Kollegen in der Bar ankam, war tatsächlich bereits Ruhe eingekehrt: Der vermeintliche Schläger stand an der Bar, hielt sich mit einer Hand am Tresen fest. »Ausweis, bitte«, forderte Schaffner den jungen Mann auf. Dieser machte keine Anstalten, sich auszuweisen. Der Polizist ging einen Schritt auf ihn zu, baute sich vor ihm auf: »Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass wir Sie mitnehmen müssen, wenn Sie sich nicht ausweisen«, sagte er schon etwas lauter. Der Mann, kleiner als er, aber äusserst muskulös, verengte seine Augen zu Schlitzen, schaute Schaffner direkt in die Augen und schürzte seine Lippen. Dann spuckte er ihn an. Für einen kurzen Moment schien die Zeit stillzustehen, die übrigen Gäste unterbrachen ihre Gespräche, blickten das ungleiche Duo an. Auf der dunkelblauen Uniform des Polizisten bildete der Speichel eine schmale Spur, die sich langsam Richtung Boden bewegte.
Beide standen regungslos da. Bevor Schaffner überhaupt reagieren konnte, spuckte der Mann am Tresen ein zweites Mal, diesmal mitten in sein Gesicht. Dann ging alles sehr schnell: Mit der Linken packte Schaffner den Typ an der Schulter, mit der Rechten schlug er zu. »Den Rechtsausleger ausfahren, nannten wir das«, erklärt er mir am Küchentisch in Gurtnellen. Der sichtlich Betrunkene sei eingesackt und zu Boden gestürzt. Schaffners Kollege nickte anerkennend und sagte: »Voll okay, mach dir keine Gedanken.« Dann rief er die Funk- und Notrufzentrale an. Die Kollegen brachten den Spucker im Kastenwagen zum Ausnüchtern auf die Wache. Schaffner machte sich aller Beschwichtigungen zum Trotz Gedanken: »Was, wenn der Typ eine Beschwerde einreicht?«
Es sind wenige Szenen aus seiner Zeit als Streifenpolizist, an die er sich heute noch erinnert: An den ersten Selbstmörder, den er – kaum diplomiert – vom Strick schneiden musste, und an jenen Abend in der Bar. Eine solche Demütigung vor all den Leuten, das stecke man nicht einfach weg, sagt er. Der Mann reichte keine Beschwerde ein. Im Gegenteil: Er entschuldigte sich und brachte später gar eine Schwarzwäldertorte aufs Revier. Schaffner schrieb einen A-Rapport. »A« steht für ad acta.
Es sollte das einzige Mal in seiner Polizeilaufbahn bleiben, dass Schaffner zuschlägt, was nicht heisst, dass er es bereut. Es gibt anderes, das er gern rückgängig machen würde, auch Kleinigkeiten: die Busse an jenen bärtigen Mann zum Beispiel, der 1977 in einem alten, verlotterten VW-Bus ohne Licht durch den Ulmbergtunnel fuhr. Schaffner war im Verkehrsdienst eingeteilt, stand mit einem Kollegen an der dicht befahrenen Strasse. »Zwanzig Franken, bitte«, forderte er den fehlbaren Busfahrer auf. Dieser zog nur die Augenbrauen hoch und sagte: »Wissen Sie eigentlich, wen Sie vor sich haben?« Schaffner wusste es nicht. »Auch wenn Sie der Kaiser von China sind, müssen Sie bezahlen«, dachte er sich.
»Ich bin Pfarrer Sieber«, sagte der bärtige Mann. Dem jungen Urner sagte das gar nichts. Er drückte dem Verdutzten einen Einzahlungsschein in die Hand und sagte: »Zwänzg Stutz, auch für Sie«, dann wandte er sich ab.
»Das ärgert mich noch heute«, gesteht Schaffner und wirft dabei einen kurzen Blick auf den Vorplatz des Chalets, wo die grasenden Alpakas des Nachbarn bereits gefährlich nahe an den Geranien auf der Fensterbank stehen. Mit dem Kopf gibt er seiner Frau in der Küche ein Zeichen. Sie verdreht die Augen, sagt: »Dummi Viecher«, schnappt sich einen Besen und geht hinaus, um die Tiere zu verjagen.
Schaffner fährt weiter: »Heute würde ich zu Herrn Sieber sagen: ›Ohne Licht zu fahren, ist gefährlich, auch für Sie, Herr Pfarrer, und Sie wollen doch weiterhin für die Armen da sein können.‹ « Dann würde er ihm eine Zwanzigernote in die Hand drücken – als Spende.
Dass Schaffners jüngerer Bruder damals in Zürich als Obdachloser auf der...