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'Ich will hier nicht das letzte Wort'

Heinz Rudolf Kunze und Egon Krenz im Gespräch

AutorEgon Krenz, Heinz Rudolf Kunze
VerlagNeues Leben
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783355500326
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Der westdeutsche Rocker und der ostdeutsche Staatsmann. Sie trafen sich erstmals in den 80er Jahren, nach einem Konzert in Berlin-Weißensee. Fast drei Jahrzehnte später sahen sie sich erneut, vor einem Konzert in Halle und auf Wunsch von Kunze. Was zunächst wie ein Schwelgen in Erinnerungen und kontroverse Debatte über die Vergangenheit daherkommt, entwickelt sich alsbald zu einer anregenden Auseinandersetzung mit der Gegenwart. Natürlich haben der Ex-Politiker und der Künstler unterschiedliche Sichten und Erfahrungen, aber gemeinsam ist ihnen die wechselseitige Neugier. Diesem Dialog entnimmt man mehr, als bislang über die beiden bekannt war.

Egon Krenz, geboren 1937, Schlosserlehre und Lehrerausbildung. Nach Besuch der Parteihochschule in Moskau von 1964 bis 1967 wurde er Vorsitzender der Pionierorganisation und war von 1974 bis 1983 FDJ-Chef. Im Herbst 1989 wurde er Nachfolger Erich Honeckers als Generalsekretär des ZK der SED und Staatsratsvorsitzender. 1997 wurde er wegen der Todesschüsse an der deutsch-deutschen Grenze zu sechseinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Heute lebt er in Dierhagen. Heinz Rudolf Kunze, geboren 1956 in Espelkamp-Mittwald, ist Schriftsteller und Musiker. Er gilt als intellektueller Rockpoet, dem aber auch große kommerzielle Erfolge wie 'Dein ist mein ganzes Herz' gelangen. Daneben veröffentlichte er seit Beginn der 80er Jahre mehrere Bücher und journalistische Essays. Er ist u. a. Träger des Niedersächsischen Staatspreises für sein Lebenswerk und der Goldenen Stimmgabel.

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Leseprobe

Honecker und Gorbatschow –
was für ein Paar

Kunze Ich will noch einmal auf meine Ausgangsbemerkung zurückkommen: Sie schienen in dieser Gesprächsrunde in der Pistoriusstraße ironisch über Gorbatschow und »die Freunde« zu urteilen.

Krenz An die Ironie kann ich mich nicht erinnern.

Kunze Ich schon.

Krenz An diesem Punkt lohnt sich ein Streit wahrlich nicht. Aber vielleicht sollte ich mal auf das Verhältnis zwischen Berlin und Moskau, zwischen Honecker und Gorbatschow eingehen, warum uns der zweifelhafte Ruf nachgeht, gegen »Perestroika« und »Glasnost« in Gänze gewesen zu sein. Dazu muss ich jedoch ein wenig weiter ausholen. Haben wir die Zeit?

Kunze (schaut auf die Uhr) Aber immer.

Krenz Wir sind uns darüber einig, dass es ohne die Sowjetunion keine DDR gegeben hätte, wie eben auch die Bundesrepublik Deutschland dem Nachkriegskonzept der USA entsprach. Die Sowjetunion war also sowohl Geburtshelfer der DDR als auch einer ihrer Totengräber. Die DDR ihrerseits war stets ihr zuverlässiger Freund und Bündnispartner. Auch als Gorbatschow im Kreml regierte. Das Gemeinsame hatte immer Vorrang vor den Differenzen, jedenfalls war das unsere Linie. Und darum sage ich: Nicht an Meinungsverschiedenheiten zwischen Honecker und Gorbatschow ist die DDR zerbrochen. Die außenpolitische Ursache dafür war in erster Linie die Niederlage der UdSSR im Kalten Krieg mit den USA.

Kunze Auf diese Frage sollten wir später ausführlich zu sprechen kommen. Mich interessiert zunächst die Frage, die Sie selber angeschnitten haben, damals bei diesem Treffen im Sommer ’88.

Krenz Das Verhältnis zwischen Honecker und Gorbatschow war anders belastet, als häufig angenommen wird. Um zu verstehen, was Ende der 80er Jahre zwischen Moskau und Berlin passiert ist, genügen nicht die Vokabeln »Perestroika« und »Glasnost«. Lange bevor diese aufkamen, bestanden zwischen Honecker und Gorbatschow Differenzen in für die DDR lebenswichtigen Fragen. Sie betrafen die Beziehungen der DDR zur Bundesrepublik im Westen und zur Volksrepublik China im Osten.

Honecker zeigte in beiden Fällen Weitblick, während Gorbatschow notwendige Entwicklungen eher zu bremsen oder gar zu verhindern versuchte. Da blieb er ganz im traditionellen sowjetischen Stil der Einschränkung und Beschneidung der Souveränität der sozialistischen Länder.

Kunze Beschränkungen in der Innen- oder der Außenpolitik der Verbündeten?

Krenz Auf beiden Feldern. Es war aber auf keinen Fall so, wie oft behauptet wird: in Moskau der stürmische Reformer und in Berlin der notorische Dogmatiker, der bremste und sich verweigerte. Dieses Bild ist zwar populär, aber nicht für alle Situationen zutreffend. Die Rollenverteilung war oft eine andere als gemeinhin angenommen. Und: Honecker lernte Gorbatschow als einen Politiker kennen, der sich wiederholt korrigierte und neu interpretierte.

Kunze Was ja a priori nicht schlecht sein muss. Ich finde, dass sich Politiker viel zu selten korrigieren. Manche gelangen erst zu vernünftigen An- und Einsichten, wenn sie bar eines Amtes sind. Ich erinnere an Robert McNamara, der als US-Verteidigungsminister Vietnam in die Steinzeit zurückbomben wollte, in seinen Memoiren dreißig Jahre später verurteilte er den von ihm mitgetragenen Krieg als »furchtbaren Irrtum« und engagierte sich für die totale atomare Abrüstung und gegen den Irakkrieg der USA – gegen den, wenn ich das einflechten darf, ich mich ebenfalls öffentlich ausgesprochen hatte. McNamara war vom Kriegstreiber zum Pazifisten geworden. Oder nehmen Sie Norbert Blüm. Der bekennt sich inzwischen als Antikapitalist, obgleich er doch im Kabinett von Kohl den Kapitalismus als Minister gestützt und getragen hat.

Krenz Nein, bei Gorbatschow waren die Korrekturen anderer Natur. Ich erinnere an die frühen 80er Jahre. Es lief die NATO-Nach- oder Vorrüstung, und die Sowjetunion ließ sich auf diesen Irrsinn ein. Die USA erneuerten ihre atomar bestückten Mittelstreckenraketen in Westeuropa, die, weil sie die Silos der sowjetischen Interkontinentalraketen erreichten, nicht mehr taktischer, sondern nunmehr strategischer Natur waren, worauf die Sowjetunion ihre Kurzstreckenraketen in der DDR und in der ˇCSSR stationierte. Honecker, der das Bündnis nie infrage stellte, wollte aber einen anderen Weg gehen. Er setzte auf Gespräche und warb für eine blockübergreifende »Koalition der Vernunft«. Er traf sich mit den Ministerpräsidenten Kanadas, Schwedens, Griechenlands, Frankreichs und Italiens, mit dem Präsidenten Finnlands sowie dem Bundeskanzler und dem Bundespräsidenten Österreichs. BRD-Politiker begannen Pilgerfahrten in die DDR, sie wollten mit Honecker fotografiert werden. Dies sei für den Wahlkampf in der Bundesrepublik wichtig, meinten sie – jedenfalls damals.

Die Sowjetunion sah dies alles mit Unbehagen. Dort hatte Ende der 70er Jahre eine Periode der Stagnation begonnen. Außenpolitisch war die Sowjetunion angeschlagen. Nicht nur dadurch, dass die internationalen Abrüstungsgespräche unterbrochen waren. Ich erinnere zudem an den Einmarsch in Afghanistan 1979, an den Olympia-Boykott des Westens 1980 in Moskau und die von der DDR nicht gewollte Revanche des Boykotts 1984 in Los Angeles. Die überalterte sowjetische Führung konnte objektiv kein sachkundiger Ansprech- und Verhandlungspartner für Westpolitiker sein. Das wurde nun, zwar etwas unfreiwillig, aber sehr engagiert der damals gegenüber der sowjetischen Spitze wesentlich agilere Honecker.

Kunze Unfreiwillig?

Krenz Er hatte sich nicht um diese Rolle beworben, aber er handelte logisch und vernünftig unter den obwaltenden internationalen Umständen. Das machte ihn zu einem erfolgreichen Unterhändler.

Er entschloss sich 1983 zu einem für ihn ungewöhnlichen Schritt. Auf der Novembertagung des SED-Zentralkomitees meldete er sich unerwartet zur Diskussion. Er hielt weder die Hauptrede noch das Schlusswort. Etwas Ähnliches kannten wir bisher nicht von ihm. Auf diese Art umging Honecker die Notwendigkeit, sich seine Rede vom Politbüro bestätigen lassen zu müssen. Er vermutete nicht unbegründet, einige im Politbüro könnten seine Politik gegenüber dem Westen ablehnen, weil diese nicht mit der sowjetischen Führung abgestimmt war.

Bundeskanzler Kohl hatte sich laut Moskauer Bewertung zum »europäischen Wortführer der Raketenbefürworter« gemacht und galt als »raketensüchtig«. Die Deutschen, so die sowjetische Führung warnend, würden sich künftig nur noch »über Raketenzäune hinweg unterhalten können«.

Das war für Honecker keine Perspektive. Er teilte die Ängste vieler Menschen vor einem möglichen Krieg und sprach von den Raketen als »Teufelszeug auf deutschem Boden«, wobei er nicht zwischen amerikanischen und sowjetischen Raketen unterschied. Ihre Stationierung »löst auch bei uns keinen Jubel aus«, erklärte er, statt des »Raketenzaunes« setze er auf eine »Politik des Dialogs«. Die Stationierung müsse gestoppt, die bereits installierten Systeme abgebaut und die Rüstungsspirale angehalten werden!

Die Sticheleien aus dem ZK-Apparat in Moskau setzten unmittelbar nach dieser Rede Honeckers ein. Da sie bei ihm aber erkennbar nicht mehr fruchteten, wurde bald öffentlich von ganz oben Front gegen unsere Politik gemacht. Die Parteizeitung Prawda veröffentlichte am 27. Juli 1984 einen folgenschweren Grundsatzartikel zur Deutschlandpolitik mit der Überschrift »Im Schatten amerikanischer Raketen«. Ein zweiter polemischer Beitrag folgte.

Beide Veröffentlichungen brachten starke Unruhe in die Politik sowohl der BRD als auch der DDR. Für uns waren es konzentrierte Angriffe auf die von Honecker initiierte Dialogpolitik. Kanzler Kohl polterte seinerseits: Die Artikel seien eine »unverfrorene Kampagne gegen die Bundesrepublik«. Doch da irrte der damals noch unerfahrene Außenpolitiker Kohl – im Unterschied zur Washington Post. Diese schrieb nämlich schon am Tag danach, am 28. Juli 1984: »Obwohl der Artikel als scharfe Kritik an der Regierung Kohl kaschiert ist, haben Diplomaten hier eine klare Missbilligung der ostdeutschen Bemühungen entdeckt, in einer Zeit anhaltender Ost-West-Spannungen die Entspannung zwischen den beiden deutschen Staaten zu fördern.« Und die Realisten in den USA weiter: »Einige Analytiker gehen davon aus, dass die verbesserten Beziehungen zu Bonn wegen der Auswirkungen auf andere Staaten des Sowjetblocks echte Besorgnis in Moskau hervorrufen.«

Honecker, das muss man noch hinzufügen, war seinerzeit von Bundeskanzler Schmidt, der 1980 in der DDR weilte, zu einem Gegenbesuch in der Bundesrepublik eingeladen worden. Nach dem Regierungswechsel in Bonn hatte sein Nachfolger die Einladung erneuert, und wiederholt hatte Moskau für Honecker entschieden und abgesagt. Nun schickte der sich 1984 an, endlich diese Einladung anzunehmen und den Dialog mit der Bundesrepublik fortzusetzen.

In der Redaktion der Bild hatte man offensichtlich die Washington Post aufmerksam gelesen und die Signale verstanden. Darum fragte das Massenblatt am 3. August auf der ersten Seite: »Stürzt Honecker, bevor er uns...

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