Einleitung
Die meisten Historiker meiner Generation, die kurz vor Beginn der NS-Zeit geboren sind, erkennen explizit oder implizit: Wer sich in die Ereignisse jener Jahre hineingräbt, der entdeckt nicht nur eine kollektive Vergangenheit wie jede andere, sondern auch entscheidende Elemente seines eigenen Lebens. Aus dieser Einsicht ergibt sich keineswegs Einigkeit darüber, wie wir das NS-System definieren, wie wir seine innere Dynamik bestimmen, wie wir seinen zutiefst verbrecherischen Charakter wie auch seine äußerste Banalität angemessen wiedergeben oder wo und wie wir es schließlich in einem breiteren historischen Rahmen ansiedeln sollen.[1] Doch trotz unserer Kontroversen teilen viele von uns, glaube ich, bei der Schilderung dieser Vergangenheit ein Gefühl persönlicher Betroffenheit, das unseren Forschungen eine besondere Dringlichkeit verleiht.
Für die nächste Historikergeneration – und mittlerweile auch für die, die nach ihr kommt – stellen, wie für den größten Teil der Menschheit, Hitlers Reich, der Zweite Weltkrieg und das Schicksal der Juden Europas keine Erinnerung dar, an der sie teilhaben. Und doch scheint paradoxerweise die zentrale Stellung dieser Ereignisse im heutigen historischen Bewußtsein viel ausgeprägter zu sein als vor einigen Jahrzehnten. Tendenziell entwickeln sich die laufenden Debatten mit nicht nachlassender Heftigkeit, wenn Fakten in Frage gestellt und Beweise in Zweifel gezogen werden, wenn Interpretationen und Bemühungen um Gedenken in Widerspruch zueinander treten und wenn Aussagen über historische Verantwortung in regelmäßigen Abständen in die Öffentlichkeit getragen werden. Es könnte sein, daß in unserem Jahrhundert des Völkermords und der Massenkriminalität die Vernichtung der Juden Europas, abgesehen von ihrem spezifischen historischen Kontext, von vielen als der höchste Maßstab des Bösen wahrgenommen wird, an dem sich alle Grade des Bösen messen lassen. In diesen Debatten spielen die Historiker eine zentrale Rolle. Für meine Generation mag der Umstand, daß sie zu gleicher Zeit an der Erinnerung an diese Vergangenheit und an ihrer gegenwärtigen Wahrnehmung teilhat, eine beunruhigende Spannung hervorrufen; er kann jedoch auch Einsichten befördern, die auf anderem Wege nicht zugänglich wären.
Eine historische Darstellung des Holocaust zu schaffen, in der sich die Praktiken der Täter, die Einstellungen der umgebenden Gesellschaft und die Welt der Opfer in einem einzigen Rahmen behandeln lassen, bleibt eine gewaltige Herausforderung. Einige der bekanntesten historischen Interpretationen dieser Ereignisse haben sich vor allem auf die Verfolgungs- und Todesmaschinerie der Nazis konzentriert und dabei der Gesellschaft im weiteren Sinne, dem allgemeineren europäischen und weltweiten Umfeld oder dem sich wandelnden Schicksal der Opfer selbst nur geringe Aufmerksamkeit geschenkt; andere haben sich, und das geschah weniger häufig, deutlicher auf die Geschichte der Opfer konzentriert und nur eine eingeschränkte Analyse der NS-Politik und ihres Umfeldes geliefert.[2] Die vorliegende Arbeit versucht einen Bericht zu geben, in dem zwar die politischen Maßnahmen der Nationalsozialisten das zentrale Element bilden, in dem aber zugleich die umgebende Welt sowie die Einstellungen, die Reaktionen und das Schicksal der Opfer einen untrennbaren Bestandteil dieser sich entfaltenden Geschichte bilden.
In vielen Arbeiten sind die Opfer dadurch, daß man implizit von ihrer generellen Hoffnungslosigkeit und Passivität ausging oder von ihrer Unfähigkeit, den Lauf der zu ihrer Vernichtung führenden Ereignisse zu ändern, in ein statisches und abstraktes Element des historischen Hintergrundes verwandelt worden. Zu häufig vergißt man, daß sich die Einstellungen und die Politik der Nazis ohne Kenntnis vom Leben und nicht zuletzt von den Gefühlen der jüdischen Männer, Frauen und Kinder selbst nicht vollständig beurteilen lassen. Daher wird hier in jedem Stadium der Beschreibung der sich entfaltenden politischen Maßnahmen der Nationalsozialisten und der Einstellungen der Gesellschaften Deutschlands und Europas, wie sie sich auf die Entwicklung dieser Politik auswirkten, dem Schicksal, den Verhaltensweisen und bisweilen den Initiativen der Opfer große Bedeutung beigemessen. Schließlich sind ihre Stimmen unverzichtbar, wenn wir zu einem Verständnis für diese Vergangenheit gelangen wollen.[3] Denn ihre Stimmen sind es, die das offenbaren, was man wußte und was man wissen konnte; ihre Stimmen waren die einzigen, die sowohl die Klarheit der Einsicht als auch die totale Blindheit von Menschen vermittelten, die mit einer völlig neuen und zutiefst entsetzlichen Realität konfrontiert waren. Die ständige Gegenwart der Opfer in diesem Buch ist nicht nur an und für sich historisch wesentlich, sie soll auch dazu dienen, das Handeln der Nationalsozialisten in eine richtige, umfassende Perspektive zu rücken.
Es ist ziemlich leicht zu erkennen, welche Faktoren den historischen Gesamtrahmen prägten, in dem der von den Nationalsozialisten verübte Massenmord stattfand. Sie bestimmten die Methoden und das Ausmaß der «Endlösung»; sie trugen auch zum allgemeinen Klima der Zeit bei, das den Weg zu den Vernichtungen begünstigte. Es mag genügen, wenn ich hier die ideologische Radikalisierung erwähne – mit glühendem Nationalismus und rabiatem Anti-Marxismus (später Anti-Bolschewismus) als ihren wichtigsten Triebfedern –, welche in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts hervortrat und nach dem Ersten Weltkrieg (und der russischen Revolution) ihren Höhepunkt erreichte; die neue Dimension massenweisen industriellen Mordens, die dieser Krieg eingeführt hatte; die zunehmende technische und bürokratische Kontrolle, wie sie von modernen Gesellschaften ausgeübt wird; und die anderen wichtigen Faktoren der Moderne selbst, die ein beherrschender Aspekt des Nationalsozialismus waren.[4] Doch wie entscheidend diese Bedingungen auch dafür waren, den Boden für den Holocaust zu bereiten – und als solche sind sie ein untrennbarer Teil dieser Geschichte –, sie bilden dennoch nicht für sich allein die notwendige Kombination von Elementen, die den Gang der Ereignisse von der Verfolgung zur Vernichtung bestimmten.
Im Hinblick auf diesen Prozeß habe ich die persönliche Rolle Hitlers und die Funktion seiner Ideologie bei der Genese und der Durchführung der antijüdischen Maßnahmen des NS-Regimes hervorgehoben. Dies sollte jedoch keineswegs als eine Rückkehr zu früheren simplistischen Interpretationen verstanden werden, mit ihrer ausschließlichen Betonung der Rolle (und der Verantwortung) des obersten Führers. Doch im Laufe der Zeit sind die gegenteiligen Interpretationen, so scheint mir, zu weit gegangen. Der Nationalsozialismus wurde nicht hauptsächlich von dem chaotischen Zusammenprall konkurrierender Feudalherrschaften in Bürokratie und Partei angetrieben, und die Planung seiner antijüdischen Politik wurde auch nicht vorwiegend den Kosten-Nutzen-Rechnungen von Technokraten überlassen.[5] Bei all seinen wichtigen Entscheidungen war das Regime von Hitler abhängig. Insbesondere in seinem Verhältnis zu den Juden wurde Hitler von ideologischen Obsessionen getrieben, die alles andere als die kalkulierten Manöver eines Demagogen waren; das heißt, er führte einen ganz spezifischen Typ von völkischem Antisemitismus an seine extremsten und radikalsten Grenzen. Ich bezeichne diesen charakteristischen Aspekt seiner Weltanschauung als «Erlösungsantisemitismus»; dieser ist verschieden, wiewohl abgeleitet von anderen Varianten antijüdischen Hasses, die im gesamten christlichen Europa verbreitet waren, und er ist gleichfalls verschieden von den gewöhnlichen Arten des deutschen und europäischen rassischen Antisemitismus. Diese erlösende Dimension, diese Synthese aus einer mörderischen Wut und einem «idealistischen» Ziel, die der Führer der Nationalsozialisten und der harte Kern der Partei miteinander teilten, führte zu Hitlers schließlicher Entscheidung, die Juden zu vernichten.[6]
Aber Hitlers politisches Handeln war nicht allein von Ideologie geprägt, und die hier gebotene Interpretation geht der Interaktion zwischen dem Führer und dem System nach, in dem er agierte. Der NS-Führer fällte seine Entscheidungen nicht unabhängig von den Organisationen der Partei und des Staates. Seine Initiativen waren vor allem in der Frühphase des Regimes nicht nur von seiner Weltanschauung geprägt, sondern auch von den Auswirkungen interner Zwänge, vom Gewicht bürokratischer Beschränkungen, bisweilen vom Einfluß der öffentlichen Meinung in Deutschland und sogar von den Reaktionen ausländischer Regierungen und der öffentlichen Meinung im Ausland.[7]
In welchem Umfang hatten die Partei und die Massen an Hitlers ideologischer Obsession teil? Unter der Parteielite war der «Erlösungs»antisemitismus eine verbreitete Erscheinung. Neuere Untersuchungen haben auch gezeigt, daß ein derart extremer Antisemitismus in den Behörden, die für die Durchführung der antijüdischen Politik eine zentrale Stellung einnehmen sollten – wie etwa Reinhard Heydrichs Sicherheitsdienst der SS (der SD) –, nicht ungewöhnlich...