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E-Book

Das Dunkle im Menschen

Das Schattenkonzept der Analytischen Psychologie

AutorRalf T. Vogel
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl86 Seiten
ISBN9783170284098
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Ausgehend von C. G. Jungs zunächst biographisch erfahrenen und dann wissenschaftlich weiterentwickelten Auffassungen des Ungeliebten, Abgewehrten und Nicht-Gelebten im Menschen, werden moderne Schattenkonzepte vorgestellt und individual- bzw. sozialpsychologisch angewandt. Anschließend werden psychotherapierelevante Methoden entwickelt, sich dem anzunähern, 'was das Subjekt nicht anerkennt und was sich ihm doch immer wieder - direkt oder indirekt - aufdrängt' (Jung). In diesen praktischen Konsequenzen zeigt sich die Nähe der Schattenkonzeption zu Fragen moderner Philosophien und Psychologien.

Prof. Dr. phil. Ralf T. Vogel ist Psychoanalytiker und Verhaltenstherapeut, Lehranalytiker und Supervisor an verschiedenen psychotherapeutischen Ausbildungsinstituten und Honorarprofessor für Psychotherapie und Psychoanalyse an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden. In Ingolstadt ist er in privater Praxis für Psychotherapie und Supervision tätig.

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Leseprobe

2.   Vorlesung
Das Böse, das Helle und die Begegnung mit dem Schatten


 

 

Der Schatten, das Heilige und das Böse


»Das Problem des Bösen ist eines der zentralsten Probleme des modernen Menschen. Keine Berufung auf alte Werte und Leitbilder schützt uns vor der Erkenntnis, in einer Welt zu leben, in der das Böse im Menschen, gigantisch aus der Tiefe aufsteigend, uns alle ausnahmslos vor die Frage stellt, wie wir mit diesem Bösen fertigwerden können«37.

Wenn wir uns auf das Schattenkonzept einlassen, begegnet uns unwillkürlich die große Menschheitsfrage nach Gut und Böse. Es ist eine bis heute unbeantwortete Frage, ob wir das Böse als eigene Entität, als Abwesenheit (etwa von Gutem), als Schwäche, als Energiequelle oder als bloße Konvention zu sehen haben. Die abendländisch-christliche Kultur hat diese Thematik zu einem großen Teil in die Heiligenkonzeptionen bzw. deren Ablehnung einließen lassen. In den »Bezeichnenden Eigenschaften eines Heiligen«38 begegnen uns viele der bereits genannten Schatteneigenschaften. Es sind »Askese allen weltlichen Dingen gegenüber, sexuelle Enthaltsamkeit, vollkommene Hingabe an Christus, ein Leben … ohne Fehl und Tadel«. Die Heiligsprechung läuft in zwei Schritten. In der sog. ›Beatifikation‹ werden Tugendhaftigkeit, Wunderwirkung und Martyrium, in der sog. ›Kanonisierung‹ ein zweites Wunder sowie eine deutliche überregionale Bedeutung geprüft. Insgesamt notwendig ist der »heroische Tugendgrad«, der die Heiligen entweder als primär ›Schattenlose‹, als ›Schattenvernichter‹ oder zumindest als die endgültigen ›Schattenüberwinder‹ darstellt. Sicher ist diese Kurzdarstellung eine gewisse Vereinfachung. Die Idee des ›Nur-Guten‹, mit der nicht wenige Patienten unsere Sprechzimmer aufsuchen, dem Schatten also doch irgendwie entkommen zu können, findet sich aber hier bereits kulturell angelegt.

Die ›heidnischen‹ Alternativen zu den Heiligen dagegen sind schillernde Gestalten. Es ist Frau Holle, Prechta oder Hell oder auch »Des Teufels Großmutter« der Gebrüder Grimm, es sind weise Frauen, die Dunkles und Helles ›umfangen‹39, die zu Gutem und zu Bösem in der Lage sind. Was aber ist genau das Böse, auf das wir in unserer Schattenbestimmung unweigerlich stoßen? Möglichkeiten der Konzeption des Bösen sind z. B.:

•  Das Böse als Verlust der Einheit (Neuplatoniker, Plotin)

•  Das Böse als Ungehorsam gegenüber Gott (Augustinus)

•  Das Böse als »Entzweiung in Gott selbst«40 (Kabbala, Mystik, Idealismus (Schelling)

•  Das Böse als das Vernunftwidrige (Aufklärung)

•  Das Böse als Folge der Unterscheidungsfähigkeit von Gut und Böse (Ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist41) und der Freiheit (Sündenfall; Thomas von Aquin)

•  Das Böse als Folge des Engelssturzes42

Viele Denker sind sich einig, dass es ein absolut Böses gar nicht gebe. Die Frage nach dem Bösen sei eine Frage der (kulturdeterminierten) Moral. Um es zu bestimmen, dürfen wir daher nicht primär auf inhaltliches blicken – was im einen Kulturkreis als Gut wird im anderen als Böse identifiziert – sondern müssen uns den emotionalen Komponenten des Bösen zuwenden. Der Philosoph und Autor Rüdiger Safranski nennt hier v. a. das Entsetzen, das durch Böses in uns entfacht wird43. Wir kommen hier psychologisch in die Nähe der Traumatisierungen!

Die Theologie spricht vom ›mysterium inquitatis‹ – Geheimnis der Bosheit, Geheimnis des Bösen und seiner Koexistenz mit dem Guten44. Die Liste der Todsünden kann hier als ›Phänomenologie des Bösen‹ gelten:

•  Habsucht und Geiz

•  Wollust, die kein Maß findet

•  Völlerei, Konsum

•  Trägheit, nicht Verantwortung übernehmen

•  Zorn, Groll und Bitterkeit, Explosionen von Hass und Gewalt

•  Neid

•  Hybris, sich erheben über andere

Ähnliche Listen finden sich in allen relevanten Weltreligionen. Beispielhaft genannt seien auch die ganz ähnlich klingenden ›Anfeindungen der Dämonen‹ des spirituell einflussreichen ›Wüstenvaters‹ Evagrius Ponticus (345–399). Historisch kam es im abendländischen Denken rasch zu einer Personifizierung des Bösen, das dann von sich ferngehalten und durch soziale und psychologische Mechanismen abgewehrt werden konnte. Die vielen Teufels- und Dämonengestalten in aller Welt geben hiervon ein beredtes Beispiel. Sie sollten ausgetrieben und vernichtet werden, das Gute sollte dann zurückbleiben. Jedoch, so der benediktinische Autor Anslem Grün, »der Abschied vom Teufel ist auch psychologisch gesehen naiv«45. Vielmehr besteht eine zunehmende Gefahr der Projektion eigener Schattenseiten, die im Andern als ›Besessenheit‹46, als Böses wahrgenommen und bekämpft werden (s. u.).

Abb. 6: Anselm Grün

Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) unterschied demgegenüber zwischen einem ›Natürliches Bösen‹ und einem ›Moralisches Bösen‹ und diese Unterscheidung durchzieht auch das moderne Denken bis in die Psychologie hinein.

Abb. 7: Jean-Jacques Rousseau

»Die Menschen sind böse; eine traurige und fortdauernde Erfahrung erübrigt den Beweis; jedoch, der Mensch ist von Natur aus gut, ich glaube es, nachgewiesen zu haben; … Man bewundere die menschliche Gesellschaft, soviel man will, es wird deshalb nicht weniger wahr sein, dass sie die Menschen notwendiger Weise dazu bringt, sich in dem Maße zu hassen, in dem ihre Interessen sich kreuzen, außerdem sich wechselseitig scheinbare Dienste zu erweisen und in Wirklichkeit sich alle vorstellbaren Übel zuzufügen.«47

Jedoch »je mehr die Psychologie nun darauf aus war, eine Naturwissenschaft zu werden, desto hinfälliger wurde die Unterscheidung zwischen moralischem und natürlichem Bösen«48. Heute modern ist, so Safranski, ein wenig reflektierter Naturalismus im Sinne eines (neurobiologischen) psychophysiologischen Determinismus49.

Der bereits genannte Philosoph Rüdiger Safranski weist zudem auf ein gerade auch psychotherapeutisch bedeutsames Thema hin: Nach der – durchaus Jungianischen – Feststellung, das Böse gehöre zur Normalität des Menschen, meint er provokativ, das Böse sei »der Preis der Freiheit«. Freiheit definiert er als »etwas unterlassen zu können«. In der Freiheit werde der Mensch zum Risiko für sich selbst. Der Teufel wird so als ›Ermöglicher des Bösen‹ der Freiheit, der freien Entscheidung des Einzelnen, nachgeordnet50. Diese Gedanken werden uns im letzten Kapitel, in dem es um die praktischen Konsequenzen des unumgänglichen Schattens gehen wird, wieder begegnen.

Eine für unsere praktische therapeutische Arbeit nützliche Erkenntnis stammt von Jullien: er trifft die wichtige Unterscheidung »… zwischen dem, was nur zerstört und nichts erzeugt (was hier zunächst als das Böse bezeichnet werden soll) und dem, was ein aktivierendes, in Bewegung setzendes Negatives wäre«51. »Das Böse« so meint er weiter »richtet eine Dualität ein … das Negative setzt umgekehrt eine Polarität voraus«52: Die Heiligen nun (z. B. die Manächeer) widmen sich daher dem Kampf gegen das Böse, mit dem Ziel, den endgültigen Sieg des Guten herbeizuführen. Die Weisen dagegen (die Jullien in der philosophischen Schule der Stoa ausmacht) zeigten eine Anerkennung des Negativen mit dem uns vertrauten Ziel, ein ›Auskommen‹ mit den ›Schattenseiten‹ zu ermöglichen: So komme es zu einer »Spaltung zwischen Seelenheil und Weisheit«53

Die Psychoanalyse schließlich weist darauf hin, dass das Unaushaltbare des Bösen in der Welt einen regressiven Infantilismus wie etwa den Glauben an die Vorsehung oder einen sinnstiftenden Vatergott einerseits und kompensatorische Kulturleistungen andererseits hervorbringt.

Der Jungsche Schattenbegriff ist nicht identisch mit »dem Bösen«: »…der Schatten ist in der Regel nur...

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