1 Einleitung
»In der ganzen Welt redet man nicht vom Unbewussten, weil es seinem Wesen nach ungewusst ist; nur in Berlin redet und weiss man etwas davon und erzählt uns, worauf es eigentlich abgesehn ist.«
(Nietzsche 1869-74, S. 654; zit.n. Gödde 2005b, S. 203)
In der Freudschen Psychoanalyse nimmt das Unbewusste einen besonderen konzeptuellen Platz ein. Es wird von ihm und seit ihm als der Erkenntnisgegenstand der Psychoanalyse ausgewiesen, meist dezidiert als dynamisch Unbewusstes, eine Bestimmung, durch die es als Gegenstand spezifisch für die Psychoanalyse wird. Bei Freud taucht, wie zu zeigen sein wird, in diesem Zusammenhang die Kennzeichnung der Psychoanalyse als Metapsychologie auf, als eine »Psychologie plus Unbewusstes«, was zu seiner Zeit eine entscheidende Ergänzung und Akzentsetzung gewesen ist.
Sich damit an dieser Stelle der Prüfung der Grundelemente psychodynamischen Denkens zu beschäftigen, ergibt sich zudem durch die Ergebnisse der bisherigen Auseinandersetzung. Dies ist gerahmt gewesen durch ein bestimmtes allgemeines Konzept-Verständnis. Auch in der Psychoanalyse sollen Konzepte die Phänomene der Erfahrung begreiflich machen, auf den (konzeptuellen) Begriff bringen. Auf einer ganz allgemeinen Ebene bedeutet das eine Gemeinsamkeit zwischen psychoanalytischen Konzepten und Konzepten anderer Wissenschaft, beispielsweise in der Physik. Das Schwerkraftgesetz soll ja auch etwas von dem, was ich beobachten oder erfahren kann, auf einen Begriff bringen, in dem Fall eine Gesetzesaussage. Zwar werden mittels psychoanalytischer Konzepte keine Gesetze formuliert, aber auch sie sollen etwas davon begreifbar machen, was wir erfahren (in einem etwas weiter gefassten Sinn von »Beobachtung«). Freud hat die psychoanalytischen Konzepte aus der Basis klinischer Behandlungserfahrungen entwickelt. Dort sind ihm Dinge begegnet, die er dann konzeptualisiert hat – als Übertragung, Widerstand oder Deutung u. v. m. Wenn man dem Gedanken folgt, dass Konzepte in keiner Wissenschaft schlicht Dinge in der Welt sind, die dort »zu finden« sind, sondern etwas, das Phänomene begreifbar machen soll, dann kann man nicht sagen, Freud habe das Über-Ich oder andere Konzepte »entdeckt«. Vielmehr ist er in den Behandlungen auf bestimmte Phänomene gestoßen, z. B. Patienten, die von Schuldgefühlen berichten oder von selbstabwertenden Gedanken und hat angesichts dessen das Konzept Über-Ich entwickelt, um verständlich zu machen, was dort geschieht, wie die Gedanken und Gefühle entstehen und was sich in ihnen ausdrückt.
In einem wissenschaftlichen Konzept gibt es also einen gewissen Abstraktionsgrad und es soll die Empirie und die Phänomene darin begreiflich machen. Das tun die Konzepte in Wechselwirkung zu einem methodischen Zugang. In der Physik ist dieser wesentlich das Experiment und in der Psychoanalyse ist es ebenso die Anwendung einer Methode, hier der klinischen Zugangsweise, die sich letztlich beziehungspraktisch begründet. Man kann dann zusammenfassend sagen: Psychoanalytische Konzepte werden gebildet als eine begriffliche Verallgemeinerung aus einem Verstehen und Begreifen von klinischen Einzelfällen.
Zum Konzept des Unbewussten im Besonderen sind einige terminologische Überlegungen voran zu schicken. Auch das Unbewusste verstehe ich als Konzept und nicht als konkretes Ding, das ich in der Erfahrung als solches finden, auf das ich zeigen oder im Gehirn nachweisen kann, sondern es ist ein wissenschaftliches Konzept, wenngleich es erfahrungsnäher ist als »Trieb« oder »Über-Ich«. Wenn im Weiteren vom Unbewussten die Rede ist, dann meine ich damit, dass etwas an Elementen des psychischen Erlebens unbewusst ist. Das Unbewusste ist nirgendwo anders als das Bewusste. Es ist in meinem Verständnis kein Konzept, das sich auf Örtlichkeiten bezieht, sondern auf Verhältnisse in der Vorstellungswelt. Unbewusst ist – so absurd das klingt – ein Merkmal bewusster psychischer Vorgänge und zwar eines von Auslassungen, Verzerrungen oder Irritationen, aber es ist immer »am« Bewusstsein. Es geht um Verhältnisse in der Vorstellungswelt und Verhältnisse zwischen Vorstellungen und Affekten. Was damit gemeint ist, wird sich im Verlauf zeigen.
Im ersten Teil der Reihe zu den Grundelementen psychodynamischen Denkens ist es um das Triebkonzept gegangen (Storck, 2018a) und ich habe die Perspektive entwickelt, dass in einem zeitgenössischen Verständnis das Psychosomatische des Triebes das Entscheidende ist. Psychosomatisch meint, dass mittels des psychoanalytischen Triebkonzepts versucht wird, eine Antwort darauf zu geben, wie vegetative, Physiologie-nahe Erregungszustände sich dem psychischen Erleben vermitteln. Es versucht sich an einer Antwort auf das Leib-Seele-Problem und es bezieht sich auf etwas, das man als die psychosomatische Grundstruktur des Menschen bezeichnen kann. »Trieb« meint etwas anderes als »Instinkt«. Es ist keine bloße erlebnisferne Reiz-Reaktions-Verschaltung, sondern bezieht sich auf die Vermittlung in psychisches Erleben. Freud (1915c, S. 214) spricht deshalb vom Trieb als einem »Grenzbegriff zwischen Seelischem und Somatischem«. Das Triebkonzept ist psychosomatisch zu verstehen, darüber hinaus aber auch sozialisatorisch, d. h. dass das triebhafte Drängen des Menschen aus sozialen Interaktionen erwächst. Es ist, das wird auch hier deutlich, kein bloßes biologisches Ablaufprogramm, sondern dadurch, dass wir in unserer frühen Entwicklung körperlich mit Anderen zu tun haben, die ihrerseits auch körperlich an uns herantreten, und es Berührungen und andere sinnliche Erfahrungen (Geruch, Stimme u. a.) gibt, entwickeln sich Antriebe der Entwicklung des Psychischen.
Bei Freud ist die Triebtheorie meist dualistisch konzipiert, es stehen einander Gegenspieler im Triebgeschehen gegenüber, Sexual- und Selbsterhaltungstrieb oder später im Werk Eros und Todestrieb. In einer zeitgenössischen Auffassung spricht aus meiner Sicht hingegen vieles für eine monistische Triebtheorie. Versteht man konzeptuell unter »Trieb« die eben skizzierte Vermittlungsfunktion von vegetativen in Erlebniszustände, dann ist mit dem »Grenzbegriff« Trieb noch keine Qualität beschrieben, sondern nur eine drängende Erregung, für die auf der Ebene des psychischen Erlebens eine qualitativ differenzierte Ausgestaltung gefunden wird.
Ferner ging es um das Verhältnis von Trieb und Affekt. In der psychoanalytischen Literatur gibt es viele verschiedene Bestimmungen dieses Verhältnisses und auch verschiedene Bestimmungen dessen, welches der beiden als primär angenommen wird. Entwickeln sich die Gefühle aus unserer Triebstruktur oder entwickeln sich unsere Antriebe aus Basisemotionen? Auf diese Weise ließ sich das Verhältnis von Trieb und Motivation genauer betrachten, was den Bereich der Interdisziplinären am Triebkonzept eröffnet hat, z. B. im Hinblick auf Grundbedürfnisse und die Konsequenz dieser Konzeptualisierung für andere psychotherapeutische Verfahren. Im ersten Teil der Grundelemente habe ich für die Annahme argumentiert: Die wesentliche Motivationsstruktur in der Psychoanalyse wird in der Auffassung der unbewussten Konflikte gefasst. Während »Trieb« eine allgemeine Motivationsstruktur beschreibt (etwa dahingehend, wie Psychisches als solches motiviert ist), ist die Antwort auf die Frage nach spezifischen Motivationen im Konflikt zu suchen.
Das hat die Voraussetzung für den zweiten Teil der Grundelemente zu Konflikt und Sexualität geschaffen (Storck, 2018b), der den Ausgang vom erweiterten Sexualitätsbegriff der Psychoanalyse genommen hat. Wenn Freud von sexuellen Wünschen von Kindern spricht, dann meint er nicht damit, dass diese genitalen Geschlechtsverkehr haben wollen; der erweiterte Sexualitätsbegriff der Psychoanalyse bezieht sich vielmehr darauf, Lust und Unlust als erste Strukturierungsprinzipien der psychischen Entwicklung anzunehmen. In diesem erweiterten Sexualitätsverständnis sind es sexuelle Gefühle, die wir in frühen Berührungen durch die ersten Bezugspersonen erleben. Das ist im Begriff der infantilen Psychosexualität gefasst, den Freud und Psychoanalytiker nach ihm in den psychosexuellen Entwicklungsphasen beschreiben, also die anale, orale und phallische Phase, für die sich jeweils eine konkretistische Auffassung von einer thematischen unterscheiden lässt. Ich kann mit »Analität« als Teil der Psychosexualität meinen, dass es ganz konkret um Sauberkeitserziehung und Ausscheidungsfunktion geht, das wäre die konkretistische, körpernahe Lesart. Ich kann aber auch eine thematische Lesart verfolgen, in der anale Konflikte mit Fragen von Trotz, Abgrenzung/Autonomie oder Stolz zu tun haben. Auch für die anderen Entwicklungsphasen konnte ähnliches...