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E-Book

Das Enneagramm

Die neun Gesichter der Seele

AutorAndreas Ebert, Richard Rohr
VerlagClaudius Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl328 Seiten
ISBN9783532600085
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis18,99 EUR
Das Enneagramm ist ein uraltes spirituelles Modell der Selbsterkenntnis, der inneren Heilung und des seelischen Wachstums. Im Jahre 1989 haben es der amerikanische Franziskaner Richard Rohr und der evangelische Pfarrer Andreas Ebert im deutschsprachigen Raum einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Das Buch avancierte zum Standardwerk, wurde über 500.000 mal verkauft und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Die aktualisierte Neuauflage bietet nach wie vor eine ausführliche und unterhaltsame Beschreibung der neun Typen, in denen sich jeder Mensch wiederfinden kann. Zu den historischen Ursprüngen des Enneagramms enthält das Buch neue, überraschende Erkenntnisse. Erfahrungen der Autoren aus Workshops und Seminaren sowie zahlreiche Rückmeldungen von Leserinnen und Lesern sind ebenfalls eingeflossen. Sie sind ein Beweis dafür, dass das Enneagramm keine statischen Lehre ist, sondern den lebendigen Prozess auf dem Weg zu einem besseren Verständnis von uns selbst und unseren Mitmenschen darstellt.

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Leseprobe

Zweiter Teil
DIE NEUN MUSTER


Muster EINS


Überblick1

EINSer sind IdealistInnen, die von der Sehnsucht nach einer wahrhaftigen, gerechten und moralischen Welt motiviert und angetrieben werden. Sie sind ehrlich und fair und können andere anspornen, an sich zu arbeiten, um zu reifen und zu wachsen. Oft sind EINSer begnadete LeiterInnen und LehrerInnen, die bemüht sind, mit gutem Beispiel voranzugehen. Schwer tun sie sich, fremde und vor allem eigene Unvollkommenheiten anzunehmen. Nur wenn sie bei sich selbst sind und in sich ruhen, können sie akzeptieren, in einer (noch) unvollkommenen Gegenwart zu leben und auf das allmähliche Wachstum des Guten (christlich: des Reiches Gottes) zu vertrauen.

Alice Miller hat in ihrem gleichnamigen Buch das „Drama des begabten Kindes“ beschrieben.2 Viele Eltern kompensieren ihre Mangelerlebnisse und eigene unerfüllte Lebensträume dadurch, dass sie das, was ihnen fehlt, in ihren Kindern nachholen und verwirklichen wollen. Um die Liebe der Eltern nicht zu verlieren, lernt das Kind, die Bedürfnisse und Erwartungen von Vater und Mutter zu erfüllen, verliert dabei aber den Zugang zu den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen und zu seinem wahren Selbst. EINSer sind solche „begabten Kinder“.

Nach Sigmund Freuds Auffassung spielt in diesem Zusammenhang die Reinlichkeitserziehung eine wichtige Rolle. Das Musterkind ist frühzeitig „sauber“. Don R. Riso versucht, die Enneagrammtypen mit den Kategorien Freuds in Einklang zu bringen und beschreibt Typenmuster EINS als „anal-retentiv“3. Damit ist auf der physiologischen Ebene die Weigerung gemeint, Stuhlgang zu produzieren. Diese Weigerung signalisiert eine Blockade gegen die Verursachung von Schmutz.

Ich (Richard Rohr) war der Liebling meiner Mutter. Diese Vorzugsstellung wollte ich nicht verlieren. Um mir die Zuwendung meiner Mutter zu erhalten, habe ich ihre Erwartungen erfüllt. Irgendwann machen EINSer aus der Not eine Tugend. Ihre Selbstkontrolle und vermeintliche moralische Überlegenheit wird zum Ersatz für den Verzicht auf „niedere Genüsse“, die sie sich versagen. Ich kann mich daran erinnern, dass meine Mutter eines Tages gesagt hat: „Wäre es nicht wunderbar, einen Sohn zu haben, der Priester ist?“ Weil ich ein guter Junge bin, habe ich gemacht, was sie sich gewünscht hat. Wenn man im vorkonziliaren Katholizismus der 50er Jahre beweisen wollte, dass man mit Ernst und Konsequenz den Weg des Glaubens geht, wurde man Priester!

EINSer versuchen gut zu sein, um nicht bestraft werden. Sie wollen um jeden Preis verhindern, dass sie vom eigenen „Gewissen“ verdammt werden. Eines Tages ist es nicht mehr die reale Mutter, die diese Rolle übernimmt. Die Forderungen der Mutter sind internalisiert und zu den eigenen unerbittlichen Ansprüchen geworden. Es sind die eigenen strafenden Stimmen, die jetzt anklagen, wenn die EINS nicht edel, hilfreich und gut genug ist. Dabei geht es nicht unbedingt um objektive Opferbereitschaft oder Güte, sondern um das eigene subjektive Konzept dieser Tugenden. Im Inneren von EINSern wird andauernd Gericht gehalten; sie sind ihr eigener Ankläger, Verteidiger und Richter. Die streitenden Stimmen reden permanent auf sie ein, fallen sich gegenseitig ins Wort, widersprechen sich, korrigieren sich. Wer keine EINS ist, kann sich kaum vorstellen, wie anstrengend es ist, diesen endlosen inneren Strafprozess durchzustehen.

Das EINSer-Kind hat auf die Entwicklung seines wahren Selbst verzichtet, um anderen zu gefallen und die Liebe der Menschen zu verdienen, die signalisiert haben: „Du bist nur o. k., wenn du perfekt bist!“ Dem EINSer-Kind wurde die Kindheit ausgetrieben; es musste zu früh wie ein Erwachsener handeln. Oft musste es Verantwortung für eine Familie übernehmen, in der ein Elternteil ausgefallen war, oder es musste als ältestes Kind Vorbild für die jüngeren Geschwister sein.

Der Schriftsteller Erich Kästner (1899  1974), Sohn einer allein erziehenden Mutter, „Musterknabe“ und „Moralist“, wie er sich selber nannte, war solch ein begabtes Kind. Er hat nie geheiratet und bis zu ihrem Tod seiner Mutter täglich (!) zumindest eine Postkarte geschrieben. Seine Kinderbücher wurden weltberühmt. Zwar fordert Kästner seine jungen Leserinnen und Leser auf: „Lasst euch die Kindheit nicht austreiben!“; gleichzeitig aber agieren die Helden seiner Kinderbücher („Emil und die Detektive“, „Das fliegende Klassenzimmer“, „Pünktchen und Anton“) wie kleine Erwachsene und sind ungemein reif, moralisch hoch stehend und vernünftig.

Kästners Gedicht „Zur Photographie eines Konfirmanden“ merkt man jene Trauer um die nicht gelebte und verlorene Kindheit an, die EINSer in sich tragen:

Da steht er nun, als Mann verkleidet,

und kommt sich nicht geheuer vor.

Fast sieht er aus, als ob er leidet.

Er ahnt vielleicht, was er verlor.

Er trägt die erste lange Hose.

Er spürt das erste steife Hemd.

Er macht die erste falsche Pose.

Zum ersten Mal ist er sich fremd.

Er hört sein Herz mit Hämmern pochen.

Er steht und fühlt, dass gar nichts sitzt.

Die Zukunft liegt ihm in den Knochen.

Er sieht so aus, als hätts geblitzt.

Womöglich kann man noch genauer

erklären, was den Jungen quält:

Die Kindheit starb; nun trägt er Trauer

und hat den Anzug schwarz gewählt.

Er steht dazwischen und daneben.

Er ist nicht groß. Er ist nicht klein.

Was nun beginnt, nennt man das Leben.

Und morgen früh tritt er hinein.4

Das, was bisher geschildert wurde, betrifft viele Menschen. Zumindest ein bisschen von diesem Idealismus, Moralismus und Perfektionismus steckt in den meisten von uns, vor allem aber in religiös erzogenen Menschen. Durch eine ausgeprägte religiöse Erziehung werden in der Regel moralisierende Stimmen verinnerlicht und verstärkt.

Ich (Richard Rohr) schneide beispielsweise leidenschaftlich gern Coupons für Sonderangebote aus der Zeitung aus, weil meine Mutter das auch getan hat. Ich bin ständig hinter Preisnachlässen her und würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass ich mich dabei unwohl fühle. Es ist ein gutes Gefühl, Geld zu sparen! Aber welche Wertmaßstäbe liegen diesem Zwang zugrunde? Das Ganze hätte einen gewissen Sinn, wenn ich das gesparte Geld den Armen geben würde. Aber ich, der Franziskaner, trage es auf die Bank – was ist daran eigentlich „gut“? Trotzdem fühle ich mich wohler, wenn ich sparen kann. Die frühkindliche Prägung meines Gewissens sagt mir, es sei besser, richtiger und heiliger, Geld zu sparen als Geld auszugeben. Meine Mutter war eine gute deutsche Hausfrau. Reinlichkeit kam bei ihr gleich nach Heiligkeit. In meiner Wohnung spiegelt sich diese Haltung wider: Bei mir ist es blitzsauber, vom Eingang bis zur Hintertür und selbst in verborgensten Winkeln und Ecken. Bei mir kann man vom Fußboden essen. Ich putze jedes Mal, bevor ich die Stadt verlasse. Falls ich unterwegs sterbe und jemand mein Haus betritt, sollen alle wissen, dass ich sauber und ordentlich war! Ich könnte natürlich sagen: „Das ist doch egal!“ Aber ich fühle mich wohler, wenn alles reinlich ist. Die Stimmen in mir sind überzeugt davon, dass Sauberkeit gut ist und Dreck schlecht.

Ich bin ein Ordnungsfanatiker und sehe sofort, wenn etwas am falschen Platz liegt. Und ich fühle mich wohler, wenn alles da ist, wo es hingehört. Immerhin kann ich inzwischen darüber lachen. Ich nehme es nicht mehr so ernst und weiß, dass es mein Problem ist. Wenn andere den Aschenbecher nicht ausleeren, dann halte ich keine Moralpredigten mehr, weil ich mittlerweile weiß, dass ich diesbezüglich überkandidelt bin.

Dilemma

Die Suche nach Vollkommenheit beherrscht das Leben der EINS und ist ihre eigentliche Versuchung. Im Kampf gegen die Unvollkommenheit kann sich eine EINS zu einem Don Quijote entwickeln, der gegen Windmühlen kämpft und den „unmöglichen Traum“ träumt. Wenn sie etwas sehen, was in etwa ihrem Ideal entspricht, können EINSer vor Freude aus dem Häuschen geraten. Es kann sich dabei um ein Natur- oder Kunsterlebnis handeln (ein vollkommener Sonnenuntergang, ein vollkommenes Bild, ein vollkommenes Musikstück) oder um die Begegnung mit einem Menschen, den wir einen Augenblick lang für „vollkommen“ halten. Sobald die EINS entdeckt, dass auch dieser Mensch Fehler und Schwächen hat, ist sie enttäuscht. EINSer sind fortwährend frustriert, weil das Leben und die Leute nicht so sind, wie sie sein sollten. Vor allem aber sind EINSer von der eigenen Unvollkommenheit enttäuscht. Deswegen ist für sie der religiöse Weg sehr attraktiv: Zumindest Gott scheint „vollkommen“ zu sein!

EINSer sind verantwortungs- und pflichtbewusst und oft zwanghaft pünktlich. Sie stehen meist unter Zeitdruck, führen einen genauen Terminkalender und oft auch ein minutiöses Tagebuch.

Ich sitze da und meditiere und merke sofort, wie laut der Kritiker in mir redet. Kaum habe ich...

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