Matthias Jestaedt
Phänomen Bundesverfassungsgericht Was das Gericht zu dem macht, was es ist
A. Wer Verfassungsrecht sät, wird Verfassungsrechtsprechung ernten
Kaum eine zweite Institution ist für das freiheitlich-demokratische Deutschland, welches sich aus den Trümmern des NS-Regimes erhoben hat, so prägend und so kennzeichnend wie das Bundesverfassungsgericht. Wer sich ein verlässliches Bild davon machen möchte, wie die Uhren im Nachkriegsdeutschland gehen, kann dies nicht ohne einen eingehenden Blick auf das Wirken des Gerichts im Karlsruher Schlossbezirk. Manche meinen – wohl etwas augenzwinkernd – gar, dass statt von der Bonner respektive der Berliner Republik von der Karlsruher Republik zu sprechen sei. Auch Ernst-Wolfgang Böckenfördes besorgte Diagnose, dass sich ein »gleitender Übergang vom parlamentarischen Gesetzgebungsstaat zum verfassungsvollziehenden Jurisdiktionsstaat« (Böckenförde 1981: 402) vollzogen habe, darf als Ausdruck der ganz außerordentlichen Stellung und Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts in der grundgesetzlichen Ordnung verstanden werden. Schließlich dokumentieren die regelmäßigen Spitzenwerte des Gerichts auf der Beliebtheitsskala in der Öffentlichkeit dessen singuläre Position (Vorländer/Brodocz 2006).
Die heutige Fraglosigkeit dieser Erfolgsgeschichte darf indes nicht den Sinn dafür trüben, dass es sich dabei keineswegs von Anfang an um einen Selbstläufer, um eine zwangsläufige, normativ zwingende Entwicklung gehandelt hat. Ganz im Gegenteil. Das Bundesverfassungsgericht ist nicht zu Unrecht als »verspätetes Verfassungsorgan« (Schiffers 1984: VII) bezeichnet worden, nahm es doch erst ein halbes Jahr nach Verabschiedung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) vom 12. März 1951, näm lich am 7. September 1951, seine Spruchtätigkeit auf – und damit zwei Jahre nach der Konstituierung oder Wahl der anderen Bundesverfassungsorgane (Bundestag: 14. August 1949/ 7. September 1949, Bundesrat: 7. September 1949, Bundespräsident: 12. September 1949, Bundeskanzler: 15. September 1949, Bundeskabinett: 20. September 1949). Die Stammfassung des Grundgesetzes vom 23. Mai 1949 schwieg sich über einige der heute zentralen Charakteristika sowohl des Anspruchs als auch der operativen Wirksamkeit des Bundesverfassungsgerichts aus, sei es, weil der Parlamentarische Rat die Entscheidung dem einfachen Gesetzgeber (oder der Selbstorganisation des Gerichts) bewusst überantworten wollte, sei es, weil die künftigen Herausforderungen und Entwicklungen schlicht unabsehbar waren. So war, um vier ganz unterschiedliche Aspekte beispielhaft zu nennen, die Frage nach dem Status des Gerichts als Verfassungsorgan durch das Grundgesetz nicht geklärt worden;43) die so charakteristische Ausgestaltung als Zwillingsgericht – ein Gericht mit zwei gleichberechtigten Senaten, die jeweils als »das Bundesverfassungsgericht« judizieren – ordnete ebenso erst das BVerfGG an; auch die Verfahrensart, die den richterlichen Arbeitsaufwand und den Ruf des Bundesverfassungsgerichts wie keine zweite prägt, nämlich die Verfassungsbeschwerde, ist erst 1951 einfachgesetzlich eingeführt und sogar erst 1969 ins Grundgesetz aufgenommen worden; als Reaktionen auf die steigende Arbeitslast sind erst nach und nach die aus drei Richtern bestehenden Kammern (früher: Vorprüfungsausschüsse) und ein entsprechendes Annahmeverfahren, in dem weit mehr als 90 Prozent sämt licher Eingänge erledigt werden, eingerichtet und jedem Richter wissenschaftliche Mitarbeiter (in den fünfziger Jahren zunächst nur einer, heute sind es durchschnittlich vier) zugeordnet worden.
Dass mit der durch den Verfassunggeber gefällten Grundsatzentscheidung für eine institutionell verselbstständigte, nach Zahl und Gewicht ihrer Zuständigkeiten starke Verfassungsgerichtsbarkeit erst in Umrissen erkennbar war, in welcher Weise und in welche Richtung sich das Gericht entwickeln würde, ist überdies dem Umstand geschuldet, dass das Bundesverfassungsgericht als Gesamtphänomen sowohl unter verfassungshistorischen als auch unter verfassungsvergleichenden Auspizien präzedenzlos dasteht: Zwar wurden bei der Beratung von Grundgesetz und Bundesverfassungsgerichtsgesetz immer wieder Bezüge namentlich zum Weimarer Reichsstaatsgerichtshof und zum U.S. Supreme Court – überraschenderweise nicht zum österreichischen Verfassungsgerichtshof – hergestellt. Doch sowohl in zahlreichen typusprägenden Einzelheiten als auch im Gesamtkonzept stellt das grundgesetzliche Verfassungsgericht eine originelle Neuschöpfung dar, für deren Wirken und Funktionieren man nicht auf Erfahrungswerte von Spruchkörpern früherer Epochen oder ausländischer Rechtsordnungen zurückgreifen konnte.
Das Phänomen, dass sich das law in action anders entwickelt und darstellt, als es das law in the books vorzeichnet und vermuten lässt, dass also (verfassungs)gesetzgeberische Intention und Wirkung deutlich auseinandergehen können, lässt sich vielfach beobachten. Mit besonderem Nachdruck gilt dies jedoch für ein Höchstgericht, welches – wie ein Verfassungsgericht – mit der Macht des letzten, da nicht mehr durch andere Instanzen revisiblen Wortes ausgestattet ist. Wohl an keinem anderen Verfassungsgericht in Geschichte und Gegenwart wird man so nachhaltig und so eingängig die Erkenntnis belegen können, dass die Macht des letzten Wortes, ist sie einmal entfesselt, sich von jenen, die sie schufen, und von jenen, die von Rechts wegen über ihren Fortbestand entscheiden, nur mehr begrenzt steuern lässt. Dies schon deswegen, weil die Macht zu verbindlicher Verfassungsinterpretation zwangsläufig die Macht einschließt, die Grundlagen der eigenen, in der Verfassung niedergelegten Kompetenzen autoritativ – und das heißt: mit Rechtswirkung für und gegen alle sonstigen Kompetenzkonkurrenten – feststellen zu können.
Sowenig in den für das Bundesverfassungsgericht weichenstellenden Jahren 1949 und 1951 die spätere Entwicklung voraussehbar, planbar und bestimmbar war, so wenig wird man, fragt man nach den Gründen und Faktoren, die das Bundesverfassungsgericht zu dem haben werden lassen, was es geworden ist, es bei einem Verweis auf die Bestimmungen des Grundgesetzes einerseits und des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes andererseits bewenden lassen dürfen. Vielmehr kann eine Vielzahl und Vielfalt von untereinander in komplexen Wechselbeziehungen stehenden Entwicklungsbedingungen namhaft gemacht werden, von denen, neben der Kompetenzfülle des Gerichts, gerne die akzeptanzerheischende Überzeugungskraft der Karlsruher Spruchtätigkeit und die Autorität der Richterpersönlichkeiten eigens herausgestellt werden (Vorländer 2006: 9ff.). Eine allmählich einsetzende Historisierung des Karlsruher Wirkens trägt das Ihre dazu bei, die konkreten sozialen, ökonomischen, politischen und geistesgeschichtlichen Kontexte der vergangenen 60 Jahre Bundesverfassungsgericht auszuleuchten und in ihrer Bedeutung für die Rechtsprechungsentwicklung zu würdigen. So unverzichtbar diese vier Aspekte für eine Erklärung des Phänomens Bundesverfassungsge richt auch sind, so wenig sind damit die Ingredienzien der Erfolgsmischung bereits vollzählig benannt. Andererseits ist es nicht minder selbstverständlich, dass sich – denkt man nur an schwer greif- und messbare sozial- und motivationspsychologische Faktoren – die Elemente wie ihre Interdependenzen nicht wirklich erschöpfend benennen lassen (Brodocz 2006; Kranenpohl 2010). Die folgenden Überlegungen bemühen sich darum, die ausgesprochen juridischen Faktoren und Momente – das heißt die mit dem spezifischen Fachwissen des Rechtswissenschaftlers erfassbaren Entwicklungsbedingungen – ausfindig zu machen und in ihrem Zusammenwirken nachzuzeichnen.
43) | Erst das Bundesverfassungsgerichtsgesetz bestimmt in leicht gewundener Weise in § 1 Abs. 1: »Das Bundesverfassungsgericht ist ein allen übrigen Verfassungsorganen gegenüber selbständiger und unabhängiger Gerichtshof des Bundes.« |
B. Grundgesetz und Bundesverfassungsgericht – eine asymmetrische Erfolgsgemeinschaft
B.I Constitutio und viva vox constitutionis
Wer dem Erfolgsgeheimnis des Bundesverfassungsgerichts in den 60 Jahren seines Bestehens nachforscht, wird bald auf eine parallel verlaufende und – wie sich bei näherem Hinsehen schnell herausstellt – damit aufs engste verwobene Erfolgsgeschichte stoßen. Es ist jene des Grundgesetzes selbst. Ohne Übertreibung lässt sich von einer wirkungsverstärkenden wechselseitigen Abhängigkeit sprechen, dass nämlich die überragende Bedeutung, die das Grundgesetz im Nachkriegsdeutschland errungen hat, nicht ohne das Wirken des Bundesverfassungsgerichts erklärt werden kann wie umgekehrt Stärke und Ausstrahlungskraft des Letzteren ohne das Erstere undenkbar wären. Die eine Erfolgsgeschichte kann infolgedessen nicht ohne die andere erzählt und verstanden werden. Grundgesetz und Bundesverfassungsgericht sind in ihrem Erfolg oder, weiter noch, in ihrem...