Einleitende Worte
Im Oktober 2007 lud Berlins Regierender Bürgermeister die Mendelssohn-Nachkommen ein, die Stadt ihrer Vorfahren zu besuchen. Mehr als erwartet folgten der Einladung. Rund 300 Personen reisten aus allen Teilen der Welt an; sie kamen aus den USA, aus Südamerika, Australien, der Schweiz und aus zahlreichen Städten Deutschlands. Die wenigsten kannten sich persönlich, wohl alle aber waren gespannt auf die Begegnung mit einer Verwandtschaft, von deren Existenz sie allenfalls über den gedruckt vorliegenden Stammbaum wussten.
Eine Zusammenkunft wie diese hatte es in der Familiengeschichte der Mendelssohns noch nicht gegeben. Bei einem Empfang im Roten Rathaus konnten erste Kontakte geknüpft werden, die sich im Laufe des Aufenthaltes vertieften, so auch auf dem »Weg in die Vergangenheit«, der zu den Lebens- und Arbeitsorten der Berliner Vorfahren führte.
Spuren, das war jedermann klar, würde man am ehesten auf den Friedhöfen rinden. Der Weg führte die Nachkommen deshalb zunächst in die Große Hamburger Straße, wo der Urahn Moses Mendelssohn 1786 seine Ruhestätte gefunden hatte. Der Friedhof, 1772 von Model Ries angelegt, existiert heute nicht mehr. Von den einstigen Grabsteinen steht nur noch der im Verlauf der Jahrzehnte viermal erneuerte Grabstein des großen Weltweisen Moses Mendelssohn, dem Verehrer ihre Reverenz erweisen, indem sie gemäß altem jüdischem Brauch kleine Steinchen auf der Grabsteinumrandung ablegen.
Die Reise in die Vergangenheit führte die Nachkommen weiter zum alten jüdischen Friedhof in der Schönhauser Allee, wo Joseph, der im Judentum verbliebene älteste Sohn Moses Mendelssohns, an der Rückmauer des 1827 eröffneten Friedhofs im Jahr 1848 begraben wurde. Bestattet sind dort auch seine Frau Henriette, geb. Meyer (1862), sein Sohn Alexander (1871) und seine Schwiegertochter Marianne, geb. Seeligmann. Im Beer'schen Familiengrab, an der Seitenmauer des Friedhofs gelegen, liegt seit 1850 Rebecka (Betty) Beer begraben. Die Enkelin Moses Mendelssohns war mit einem Bruder des Komponisten Giacomo Meyerbeer verheiratet.
Auf dem Friedhof sammelten sich die Gäste des Familientreffens vor vier schwarz verhüllten Steinen. Der Berliner Staatssekretär Andre Schmitz und eine Mendelssohn-Nachkommin enthüllten die Steine, und Andreas Nachama, der Berliner Rabbiner, rezitierte ein Gedicht, das Joseph zum 72. Geburtstag gewidmet worden war:
Steigt hinaus des Menschen Leben
Ist's vergleichbar dem Mittagstraum.
Nur des Weisen seelenvolles Streben
Dehnt zur Ewigkeit den engen Raum!
Wer stets hascht nach Tand und eitlen Dingen,
Nie bewegt und regt die Geistesschwingen
Bleibt vom wahren Lebensziele weit,
wirkt und schafft nur für die Spannezeit.[1]
Eine ganze Reihe getaufter Mendelssohns liegt auf dem Evangelischen Dreifaltigkeitsfriedhof am Halleschen Tor in Berlin. In Ehrengräbern ruhen hier nicht nur Abraham Mendelsohn Bartholdy (1835) samt seiner Ehefrau Lea, geb. Salomon (1842), sondern auch deren Kinder, die Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy (1847) und Fanny Hensel (1847), Letztere gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Maler Wilhelm Hensel (1861), und dem gemeinsamen Sohn, Sebastian Hensel (1898). Die Gräberreihen abschreitend, stellt der Besucher des Friedhofs fest, dass auch Felix' Bruder, der Bankier Paul Mendelssohn-Bartholdy (1874) sowie Franz (von) Mendelssohn (1889), der erste nobilitierte Mendelssohn, und einige seiner Nachkommen auf diesem Friedhof ihre letzte Ruhestätte gefunden haben.
Nicht weit außerhalb der Berliner Stadtgrenzen befinden sich die Gräber von Ernst (von) Mendelssohn-Bartholdy (1909), seiner Ehefrau Marie, geb. Warschauer (1906), sowie deren gemeinsamem Sohn Paul von Mendelssohn-Bartholdy (1935). Sie wurden auf dem Friedhof an der Dorfkirche in Börnicke bei Bernau bestattet. Die Grabsteine sind zwar kürzlich restauriert worden, aber der Eindruck drängt sich auf, dass sich niemand mehr wirklich um das Erbe der Mendelssohn-Bartholdys kümmert. Die Zeit scheint über alles hinweggegangen zu sein.
Das Schloss, auf dessen Gelände sich die Dorfkirche samt Friedhof befindet, macht einen unwirtlichen Eindruck. Es wird dem Besucher nicht leichtgemacht, Spuren zu erkennen, die etwas über die ehemaligen Besitzer und ihren Lebensstil aussagen. Das Haus ist verfallen, die prachtvolle einstige Innengestaltung nur noch in Ansätzen erkennbar, und von den kostbaren Möbeln, mit denen die Räume ausgestattet waren, sowie von den Bildern, die an den Wänden hingen, wissen wir nur noch durch Fotografien und versteckte Hinweise in der Literatur.
Die Ruine mit ihren vernagelten Fenstern erweckt den Eindruck trostloser Verlassenheit. Den Besucher, der bemüht ist, sich ein Bild von dem Einst und dem Jetzt zu machen, erfüllt das, was er zu sehen bekommt, mit einem Gefühl tiefer Traurigkeit. Die Trümmerreste und die heruntergekommene Parkanlage, vor denen er steht, lassen für ihn keinen anderen Schluss zu, als dass er Zeuge eines in diesen Tagen unwiderruflich zu Ende gegangenen Kapitels deutsch-jüdischer Kultur ist.
Auch in Berlin sind es nur noch wenige Gebäude und Orte, die an die einstige Präsenz der Mendelssohns in der Stadt erinnern. Das dreiflügelige Palais in der Alsenstraße wurde in der NS-Zeit abgerissen. Das Terrain – neben dem neuen Bundeskanzleramt und der Schweizer Botschaft – ist bis heute unbebaut und wird es wohl auch bleiben. Die Häuser in der Jägerstraße, in denen die Mendelssohns mehr als hundert Jahre residierten, stehen zwar noch, sind aber nicht mehr im Besitz der Familie.
In dem aufwendig restaurierten Gebäude Nummer 49/50, das 1939 mit der Liquidation der Bank zunächst an das Deutsche Reich gefallen war, hat heute die »Bundesvereinigung der deutschen Apothekerverbände« ihren Sitz. Die Häuser mit den Nummern 52 und 53 wurden 1913 beziehungsweise 1938 verkauft. Das Haus Nummer 53, in den Jahren 1882 bis 1884 errichtet, hatte Ernst (von) Mendelssohn-Bartholdy sich als sein Domizil gewählt. Heute stehen auf diesen Grundstücken Gebäude, in denen unter anderem die Belgische Botschaft untergebracht ist.
Dass in der Jägerstraße einst der Sitz des Mendelssohn'schen Bankhauses war, weiß heute kaum noch jemand. Die Tafeln auf der Straße informieren zwar über die Geschichte der Gebäude und seiner Bewohner, für den interessierten Passanten, der die Tafeln studiert, bleibt dennoch die Frage offen, warum die Familie Mendelssohn nichts mehr mit ihrem einstigen Besitz zu tun hat. In Berlin, der Stadt, deren Bild sie einst mitgeprägt und zu deren Prosperität sie maßgeblich beigetragen haben, sind die Mendelssohns nur noch Teil einer vergessenen Geschichte.
Eine Ausnahme ist das Hinterhaus des Jägerstraßen-Anwesens Nummer 51. Dort, in der sogenannten Remise, befindet sich heute die von ehrenamtlichen Mitarbeitern konzipierte Dauerausstellung »Die Mendelssohns in der Jägerstraße«. Der Besucher steht dort vor den Porträts von Familienmitgliedern, der Büste Moses Mendelssohns, aber auch derjenigen anderer Berühmtheiten, die in den Häusern der Mendelssohns verkehrten: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Christian Daniel Rauch, Alexander von Humboldt, Clara Schumann.
Die im Oktober 2007 nach Berlin angereisten Mendelssohn-Nachkommen standen vor den Vitrinen, studierten die ausgestellten Dokumente, stellten Fragen und fotografierten sich gegenseitig vor den Porträts ihrer Vorfahren. Der Höhepunkt des Besuchs in der Remise war die szenische Uraufführung eines Singspielfragments des dreizehnjährigen Felix Mendelssohn Bartholdy, ein Erlebnis, das wohl alle Familienmitglieder gleichermaßen begeistert hat.
In den Gesprächen, die am Rande der Aufführung in der Remise geführt wurden, gab es eine Reihe erheiternder Szenen. Ein angereister Achtzigjähriger beispielsweise beugte sich zu einem Zweiundachtzigjährigen herunter, der vor ihm auf einem Stuhl saß, und raunte diesem zu: »Jemand meint, wir würden uns ähnlich sehen.« Der Angesprochene wandte sich um, schaute den zwei Jahre Jüngeren freundlich-nachsichtig an und erwiderte: »Sind Sie von uns oder angeheiratet?«
Die Stadt Berlin und die Bundesrepublik Deutschland bemühen sich heute zwar, so gut sie können, um die Pflege des Mendelssohn'schen Erbes. Doch diesen Bemühungen sind enge Grenzen gesetzt, denn nur noch wenig erinnert an die einst so präsente Familie. In der NS-Zeit wurden nicht nur Sachwerte zerstört, sondern auch das ideelle Erbe einer Familie beschädigt, die so eng mit der Geschichte Berlins der letzten 250 Jahre verknüpft ist wie kaum eine andere.
Eine Ahnung von der einstigen glanzvollen Präsenz der Mendelssohns in Berlin vermittelt eine liebevoll zusammengestellte Ausstellung in der Berliner Staatsbibliothek, die Porträtgemälde von Moses bis Franz (von) Mendelssohn sowie Autographe und Graphiken aus den Sammlungen des Mendelssohn-Archivs präsentiert. Die Bestände des Archivs, das auf eine Stiftung Hugo von Mendelssohn Bartholdys (1894–1975) zurückgeht, werden durch regelmäßige Ankäufe der Staatsbibliothek und durch Leihgaben der von Cécile Lowenthal-Hensel, einer Mendelssohn-Nachkommin, gegründeten Mendelssohn-Gesellschaft ergänzt.
Abgesehen von der...