A) ALLTAGSREALITÄT
A 1 Westliche Besatzungszonen / BRD
A 1.1 Die Ausgangslage
Soziale Verhältnisse 1945-49
Das größte Problem kurz nach Beendigung des Krieges war die Wohnungsnot. In den drei Westzonen waren ca. 45% des Wohnungsbestandes der Vorkriegszeit total zerstört oder schwer beschädigt.[14] Die Menschen lebten unter katastrophalen Bedingungen:
"[...] dunkle, kalte, zugige Wohnlöcher, die oft nicht einmal den Regen abhalten konnten, mit Pappe verschlossene Fenster, einsturzgefährdete Wände und Treppen, keine sanitären Anlagen, notdürftiges Mobiliar. In Hamburg lebten 1947 über 200 000 Menschen in Kellern, Bunkern und Wohnlauben. [...] Besonders schwer hatten es Ausgebombte, Evakuierte und Flüchtlinge. Jahrelang mußten sie im Elend leben."[15]
Vorrangige Aufgaben waren demnach Reparaturarbeiten und Trümmerbeseitigung.
Neben der Wohnungsnot bereitete die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln von Monat zu Monat mehr Schwierigkeiten. Vor allem die Bevölkerung in den Großstädten hungerte. Trotz intensiver Bemühungen sanken die Kaloriensätze immer weiter ab. "Nach einem Bericht des Oberbürgermeisters von Konstanz standen der Bevölkerung im Sommer 1945 nur 800 Kalorien[16] täglich zur Verfügung. Seit dem Winter 1945/46 verschlechterte sich die Lage rapide und erreichte im Sommer 1946 und dann vor allem im Frühjahr 1947 einen Höhepunkt."[17] Die Fürsorge konnte nur kranke und verarmte Menschen betreuen.
Von der Hungersnot waren alle betroffen. Dennoch waren die Frauen mehr als die Männer von der Sorge beherrscht, Lebensmittel zu besorgen und sie zu einer möglichst nahrhaften Mahlzeit zu verarbeiten. Von ihrer Geduld, Findigkeit und Durchsetzungsfähigkeit hing es ab, ob sie mit leerer oder gefüllter Einkaufstasche von ihren oft den ganzen Tag dauernden Besorgungen zurückkehrten.[18]
Die Nahrungsmittel, die zur Verteilung kamen, waren nicht ausreichend und alles andere als ausgewogen (viele Kohlenhydrate, wenig Fett und Eiweiß). Um überleben zu können, brauchte man unbedingt zusätzliche Nahrungsmittel. Die Frauen waren gezwungen, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, sei es durch eigenen Gartenbau oder durch das Sammeln von Pilzen, Beeren, Brennesseln und Löwenzahn.[19]
Spezialkochrezepte wurden - wie schon zu Kriegszeiten - von offizieller (Tages- und Frauenzeitungen[20], Flugblätter) und inoffizieller Seite (nachbarschaftliche Hilfe) verbreitet.
"Es gab nichts Eß- und Verwertbares, das weggeworfen wurde. Obstabfälle wurden zu Essig, Blumenkohlblätter zu Gemüsesuppen, Kochwasser von Gemüse zur Grundlage der nächsten Suppe. Und es gab Dutzende von 'Ersatz'stoffen: 'falsche' Mandeln aus Eicheln, 'falsche' Reibekuchen aus Kohlrüben, 'falsche' Rosinen aus Ebereschen."[21]
Selbst Eichhörnchen wurden von den Frauenzeitschriften als Delikatesse empfohlen.[22]
Der Schwarzmarkthandel florierte, dort gab es nahezu alles, man brauchte nur den entsprechenden Gegenwert in Reichsmark (die war allerdings nicht sehr gern gesehen), in Zigaretten oder in anderen Ersatzwährungen und Tauschobjekten zu bezahlen. "Aktuelle Schwarzmarktpreise konnten Interessenten den Tageszeitungen entnehmen"[23]. So waren in der britischen Zone im April 1947 unter anderem folgende Schwarzmarktpreise handelsüblich: Butter 240-250 RM das Pfund, Speck 200 RM, Fleisch 60-80 RM, Zucker 70-90 RM, Mehl 30 RM, 3 Pfund Brot 25 RM.[24] Eine Arbeiterfamilie mit einem Einkommen von 135 RM und 165 RM für vier respektive
fünf Personen konnte nicht mit diesem Geld auskommen.[25]
Die dennoch überwiegend positive Haltung der Bevölkerung gegenüber Schiebern und professionellen Schwarzmarkthändlern läßt sich wohl nur damit erklären, daß der Schwarzmarkt für viele die einzige Möglichkeit war, an zusätzliche Lebensmittel oder andere notwendige Waren heranzukommen. Erst wenn die Menschen buchstäblich vom Hungertod bedroht waren, stellten sie die kapitalistischen Marktgesetze von Angebot und Nachfrage durch Demonstrationen und Aktionen gegen Schieber in Frage.[26]
Auch das "Hamstern" war eine illegale Form der Nahrungsmittelbeschaffung.
Zu Tausenden fuhr die Bevölkerung aus den Städten aufs Land und versuchte durch Kauf, Tausch oder Betteln die Bauern zur Herausgabe von Lebensmitteln zu bewegen. Abends kam sie mehr oder minder erfolgreich von ihren Hamstertouren zurück, immer in Angst, bei Kontrollen auf den Bahnhöfen alles abgeben zu müssen.[27]
Die Hamsterzüge in die ländlichen Regionen waren allgemein bekannt und trugen recht hoffnungsvolle Namen, wie der "Kartoffelzug" von Hamburg in die Lüneburger Heide, der "Kalorien-Expreß" oder die "Nikotin-Bahn" in die Pfalz.[28]
Darüber hinaus arbeiteten einige Frauen aus den Großstädten auch bei den Bauern gegen Naturallohn. Bei diesen Arbeiten handelte es sich um ausgelagerte Haus-arbeiten, wie Flicken, Stopfen, Waschen.[29]
Wenn alle Möglichkeiten zur Nahrungsmittelbesorgung wie "Hamstern", Tausch, aber auch Diebstahl, ausgeschöpft waren, blieb den Frauen oft nur noch übrig, sich "zu verkaufen". Als potentielle Kunden kamen entweder deutsche Männer oder alliierte Besatzungssoldaten in Frage, wobei letzteren der Vorzug gegeben wurde.[30]
Die dramatische Wohnungslage und die Mangelernährung führten zu einer erhöhten Anfälligkeit für Krankheiten und zum Absinken von Leistungs- und Arbeitsfähigkeit.
Das Fehlen von Medikamenten und medizinischem Gerät begünstigte einen besorgnis-erregenden Anstieg von Tuberkulose, Rachitis, spinaler Kinderlähmung und Diphtherie.[31] Die Zahl der Tuberkulose-Kranken war 1946 in der Britischen Besatzungszone dreimal so hoch wie 1938.[32] Auch eine Zunahme von Geschlechts-krankheiten war zu verzeichnen.[33]
Mangel herrschte des weiteren an Gebrauchsgegenständen des täglichen Lebens, wie Seife und Reinigungsmitteln, Küchengeräten, Kleidung und Möbeln. Anleitungen zur phantasievollen Behebung des Mangels gaben wiederum die Frauenzeitschriften:
Bettlaken, Zuckersäcke, Uniformen, Decken wurden zu Kleidern, Mänteln, Strümpfen umgearbeitet. Es wurde mit Haar gestopft, mit Sauerampfer, Spinat und Zwiebeln gefärbt, aus Öl und Ruß Stiefelwichse gefertigt. Auch bei der Eigenerzeugung von Ersatzstoffen für Reinigungsmittel griffen die Frauen auf Methoden der vorindustri-ellen Zeit zurück: Waschmittel wurden aus pflanzlichen Stoffen und aus bei der Lebensmittelzubereitung gewonnenen Nebenprodukten wie Kartoffelschalen hergestellt.[34]
Trotz aller Not zeigte sich in den Schönheitsidealen eine Kontinuität, wie aus den Kosmetiktips und der Kosmetikwerbung der Frauenzeitschriften herauszulesen ist. "Sommersprossen scheinen auch 1947 ein Problem gewesen zu sein, und die Werbung begann bereits, die Geschäfte mit der Beseitigung unübersehbarer 'Kriegsfolgen' in Gestalt von Falten und grauen Haaren vorzubereiten, unter dem zynischen Motto 'Für sein Gesicht ist jeder selbst verantwortlich'!"[35]
Aber "frau" war auch verärgert über etwas übertriebene Vorgaben der Mode, so z.B. den Unmengen an Stoff verbrauchenden "New Look" aus Frankreich in Zeiten, in denen vielen Menschen der warme Wintermantel fehlte.[36]
"Sorgen wir erst einmal dafür, daß jeder deutsche Mensch ein Kleid auf dem Leibe hat und seine Wäsche wechseln kann."[37]
Frau und Familie
1946 kamen auf 1000 Männer 1263 Frauen[38], eine Situation, die mit dem Begriff "Frauenüberschuß" beschrieben wurde und wird.
Zu dem harten Alltag der Frauen, der Stunden für Einkauf, Schlangestehen und dem Ausfindigmachen von Zusatzquellen beanspruchte, kamen die Angst um vermißte Personen und die durch den Männermangel notwendig gewordene Erwerbstätigkeit.
Der Hunger und das Elend in der Nachkriegszeit setzten die in Zeiten der Normalität allgemein anerkannten Moral- und Wertvorstellungen außer Kraft. Das zeigt sich nicht nur an der ansteigenden Beschaffungskriminalität (Diebstahl und Prostitution) unter Jugendlichen, sondern auch an dem wachsenden egoistischen Verhalten selbst den eigenen Familienmitgliedern gegenüber.[39] Vernachlässigte und herumlungernde Kinder und Jugendliche gehörten zum alltäglichen Bild.[40] Allerdings zeigte diese Notsituation auch gegenteilige Wirkung: Familienangehörige schlossen sich enger zusammen.[41]
Ärzte diagnostizierten Untergewicht, eine Zunahme von Frauenkrankheiten und einen allgemeinen Anstieg von Nervosität und Reizbarkeit als Folge...