Das Geheimnis um den Ursprung des Lebens
Der Ursprung des Lebens erscheint fast als ein Wunder, so zahlreich sind die Bedingungen, die zu erfüllen wären, um es in Gang zu setzen.
Francis Crick
Nach der Überlieferung der australischen Aborigines des Kimberley-Plateaus bedeckte Wallanganda, Herrscher über die Galaxie und Schöpfer der Erde, Wunggud, die riesige Erdschlange, mit frischem Wasser aus dem Weltraum. Wunggud, deren Körper ganz aus Urmaterie bestand, war zu einem Ball aus einer geleeartigen Masse zusammengerollt, dem ngallalla yawun. Unter dem Einfluss des stärkenden Wassers rührte sich Wunggud und drückte Vertiefungen in den Boden, garagi, in denen sich das Wasser sammelte. Dann machte sie Regen und begann die Kreisläufe des Lebens, die Jahreszeiten und die Zyklen von Fortpflanzung und Menstruation. Ihre Schöpferkraft brachte die Landschaft und alle Lebewesen hervor und alles, was wächst, worüber sie heute noch herrscht.
Jede Kultur hat ihre Schöpfungsmythen, wobei manche farbenfroher sind als andere. Die westliche Zivilisation hielt sich dazu über Jahrhunderte an die Bibel, deren Texte neben der australischen Erzählung ziemlich blass erscheinen. Nach der Bibel schuf Gott das Leben mehr oder weniger ab initio als das fünfte Wunder.
Nicht weit vom Kimberley-Plateau, jenseits der Großen Sandwüste in den Bergen des Pilbara-Schilds, liegen die ältesten Fossilien der Welt, die heute zum wissenschaftlichen Tagebuch der Schöpfung gehören. Die moderne Wissenschaft geht davon aus, dass das Leben nicht von einem Gott oder einem übernatürlichen Wesen erschaffen worden, sondern ohne äußeren Eingriff spontan in einem natürlichen Prozess entstanden ist.
In den vergangenen beiden Jahrhunderten haben Wissenschaftler unter großen Mühen die Geschichte des Lebens zusammengesetzt. Fossilien zeigen eindeutig, dass frühes Leben ganz anders war als heutige Formen. Allgemein kann man sagen, je weiter man in der Zeit zurückgeht, desto einfacher waren die Lebewesen, welche die Erde bewohnten. Die große Verbreitung komplexer Lebensformen vollzog sich erst in den letzten tausend Millionen Jahren. Die ältesten ordentlich dokumentierten, echten Tierfossilien, ebenfalls in Australien (in der Flinders Range nördlich von Adelaide), datiert man auf ein Alter von 560 Millionen Jahren. Unter dieser so genannten Ediacara-Fauna sind auch Geschöpfe, die an Quallen erinnern. Kurz nach jener Epoche, vor etwa 545 Millionen Jahren, setzte eine wahre Artenexplosion ein, die in der Kolonisierung des Festlands durch große Pflanzen und Tiere gipfelte. Doch bis vor etwa einer Milliarde Jahren beschränkte sich das Erdenleben auf einzellige Organismen.
Die Entwicklung zu immer komplexeren und vielfältigeren Arten hin wird in großen Zügen durch Darwins Theorie der Evolution erklärt, nach der die Arten sich unablässig verzweigt und wieder verzweigt haben, was zu immer klarer unterscheidbaren Stammbäumen geführt hat. Geht man dagegen in die Vergangenheit zurück, dann laufen diese Stammbäume zusammen, und alles deutet darauf hin, dass alles Leben auf der Erde von einem einzigen, gemeinsamen Vorfahren abstammt. Jeder Mensch, jedes Tier, jede Pflanze und jede mikroskopisch kleine Bakterie geht also auf dieselbe winzige Mikrobe zurück, die vor Milliarden von Jahren gelebt hat: das erste Lebewesen.[2] Damit bleibt jedoch immer noch zu erklären, wie es zur ersten Mikrobe kam, und dies ist das zentrale, ungelöste Rätsel der Geschichte des Lebens.
Ein Blick in die innersten Mechanismen des Lebens lässt dieses Geheimnis nur noch tiefer erscheinen. Die lebende Zelle ist das komplexeste System ihrer Größe, das dem Menschen bekannt ist. Ihre unzähligen spezialisierten Moleküle, von denen viele ausschließlich in lebenden Organismen zu finden sind, stellen für sich schon eine unglaubliche Komplexität dar. Sie vollführen einen Tanz von atemberaubender Präzision, viel ausgeklügelter als das komplizierteste Ballett. Im Tanz des Lebens wirken unzählige Moleküle zusammen, doch von einem Choreographen ist nichts zu sehen. Keine Spur von einem intelligenten Aufseher, keine mystische Kraft, kein bewusster Kontrollmechanismus, der dafür sorgte, dass sich die Moleküle zur richtigen Zeit am richtigen Ort einfinden, der die geeigneten Tänzer auswählte, Lücken schlösse, Paare auflöste und die Akteure weiterbewegte. Der Tanz des Lebens ist spontan, erhält sich selbst und erzeugt sich selbst.
Wie konnte etwas so immens Kompliziertes, so Ausgefeiltes, so unfassbar Raffiniertes ganz ohne Hilfe zustande kommen? Wie können «dumme» Moleküle, die nur in der Lage sind, an ihren direkten Nachbarn zu zerren und zu schieben, in einer Weise zusammenwirken, dass dabei etwas so Geniales wie ein lebender Organismus herauskommt?
Die Lösung dieses Rätsels beschäftigt viele Disziplinen, vor allem die Biologie, doch auch Chemie, Astronomie, Mathematik, Computerwissenschaft und Physik haben etwas beizutragen. Daneben ist es auch eine Übung in Geschichtsforschung. Nur wenige Wissenschaftler glauben heute, das Leben sei in einem einzigen, gewaltigen Sprung entstanden. Kein physikalischer Prozess hat toter Materie von heute auf morgen «Leben eingehaucht». Es muss eine ausgedehnte und komplizierte Übergangsphase zwischen lebloser Materie und dem ersten wirklich lebenden Organismus gegeben haben, eine Chronologie von Ereignissen, die in ihren unzähligen Einzelheiten wahrscheinlich nicht vorbestimmt war.
Ein Naturgesetz kann für sich nicht erklären, wie das Leben begonnen hat, da kein Gesetz denkbar ist, das Myriaden von Atomen dazu zwingen kann, auf bestimmte Weise und in genau festgelegter Reihenfolge Verbindungen einzugehen. Die Entstehung des Lebens war sicherlich im Einklang mit den Naturgesetzen, doch es muss auch einiger Zufall – das Unvorhersehbare, wie die Philosophen es nennen – im Spiel gewesen sein. Deshalb und weil wir die Bedingungen nicht kennen, die in fernster Vergangenheit geherrscht haben, werden wir nie genau wissen, welche Abfolge von Ereignissen die erste Lebensform hervorgebracht hat.
Das Geheimnis der Biogenese besteht jedoch nicht nur in der Urkenntnis bestimmter Einzelheiten. Es gibt auch ein grundsätzliches, begriffliches Problem, welches die Natur des Lebens an sich betrifft. Ich habe eine dieser Lampen auf meinem Schreibtisch, die in den sechziger Jahren so beliebt waren. In ihr steigen und fallen träge, verschiedenfarbige Flüssigkeitsblasen, ohne sich miteinander zu vermischen. Das Verhalten der Blasen wird zuweilen als «lebensähnlich» bezeichnet, eine Eigenschaft, die man verschiedenen leblosen Systemen zuschreibt. Andere Beispiele sind die flackernde Flamme, Schneeflocken, Wolkenmuster, Strudel und Stromschnellen. Was unterscheidet solche Systeme von echten, lebenden Organismen?
Der Unterschied ist nicht graduell, sondern fundamental. Legt ein Huhn ein Ei, dann darf man ohne weiteres annehmen, dass nichts anderes als ein Küken ausschlüpfen wird. Doch versuchen Sie einmal, die genaue Form der nächsten Schneeflocke vorherzusagen. Der entscheidende Unterschied ist, dass ein Küken nach detaillierten genetischen Informationen konstruiert ist, während die Formen der Blasen in der Lampe, der Schneeflocken und der Stromschnellen vollkommen zufällig sind. Es gibt kein «Schneeflocken-Gen». Biologische Komplexität beruht auf Instruktionen.
In den kommenden Kapiteln werde ich argumentieren, dass es nicht reicht, zu wissen, wie die unfassbare strukturelle Komplexität des Lebens zustande gekommen ist. Wir müssen auch eine Erklärung für den Ursprung biologischer Information finden. Wie wir sehen werden, ist die Wissenschaft noch weit davon entfernt, dieses grundlegende begriffliche Rätsel zu lösen – worüber natürlich sehr froh ist, wer meint, dies lasse Raum für ein Schöpfungswunder. Doch aufgepasst: Dass die Wissenschaftler noch nicht sicher sind, wie Leben begonnen hat, bedeutet nicht, dass es keinen natürlichen Ursprung gehabt haben kann.
Wie geht man vor, wenn man zu einer wissenschaftlichen Beschreibung der Entstehung des Lebens gelangen will? Auf den ersten Blick erscheint es hoffnungslos. Die traditionelle Methode der Fossiliensuche liefert kaum Hinweise. Die meisten der zerbrechlichen, präbiotischen Moleküle, aus denen sich Leben gebildet hat, sind längst verschwunden. Wir können bestenfalls hoffen, auf gewisse chemische Rückstände zu stoßen, welche die Urorganismen, aus denen sich das heutige, in Zellen organisierte Leben entwickelt hat, zurückgelassen haben.
Könnten wir uns nur auf versteinerte Fossilien stützen, dann wären die Aussichten, den Ursprung und die ersten Entwicklungsschritte des Lebens zu verstehen, ausgesprochen trübe. Zum Glück gibt es aber noch eine ganz andere Art von Indizien: eine Beweiskette, die von hier und heute, von existierenden Lebensformen bis in die fernste Vergangenheit reicht. Biologen sind überzeugt, dass Merkmale urzeitlicher Organismen in den Strukturen und biochemischen Prozessen ihrer Nachfahren – auch des Menschen – fortleben. In der modernen Zelle finden wir Relikte vergangenen Lebens – hier ein seltsames Molekül, da eine sonderbare chemische Reaktion –, so wie man als Archäologe auf außergewöhnliche Münzen, unerwartete Werkzeuge oder verdächtige Grabhügel stößt. Unter den verwickelten Prozessen in modernen Organismen überleben Spuren urzeitlichen Lebens und bilden eine Brücke zu unserer fernen Vergangenheit. In der Analyse solcher versteckter Spuren haben Wissenschaftler begonnen, die physikalischen und chemischen Pfade zu rekonstruieren, die zur Entstehung der ersten lebenden Zelle geführt haben könnten.
Trotz...