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E-Book

Das geschenkte Jahr

Ein Abschied

AutorKarin Rüttimann
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl140 Seiten
ISBN9783105609644
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Nach siebzehnjähriger, von ihr als erfüllend und glücklich erlebter Ehe stirbt der Mann der Autorin Karin Rüttimann völlig unerwartet. Er kehrt vom Skilanglauf, den er freudig an einem Sonntagmorgen angetreten hatte, nicht mehr zurück. Ein Herzinfarkt beendete sein Leben. Mit zwei kleinen Kindern zurückbleibend, muß die Frau nicht nur ihre Trauer bewältigen, sondern auch im Beruf neu Fuß fassen. Ein Jahr lang hat sie in Gedanken noch innig mit dem geliebten Mann verbracht, bevor sich die Zeit trennender dazwischenschieben konnte, und doch war es ihr zugleich möglich, neue Wege für ihr eigenes Leben und ihre Zukunft zu finden. Eine Auseinandersetzung mit dem Tod, die Mut macht zum Weiterleben. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Karin Rüttimann, geb. 1942 in Berlin. Wirtschaftsdiplom. Ab 1976 Ausstellungen von Bildern und Veröffentlichung von Texten. Karin Rüttimann starb 2013 in Wohlen (Schweiz).

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Leseprobe

Davor und danach


Der Revolver lag in der Schublade. Eigenartig, daß sie die Maßnahme zur Entsicherung kannte. Sie lief aus der Wohnung, unbemerkt, im fremden Mietshaus mit den ausgetretenen Holztreppen und der Konsole im Zwischengeschoß. Dort, vor dem blinden, altersbesprenkelten Spiegel legte sie den Lauf an die rechte Schläfe und drückte ab.

Über das Ziel dieser Handlung bestand kein Zweifel. Eine derartig eindeutige Übung liegt jenseits allen Grübelns über Sinn und Zweck. Nun würde gleich alles vorbei sein. Fluchtgedanken waren nutzlos, Sorgen um die Hinterbliebenen zu spät. Wenn es nicht einfach plötzlich dunkel sein würde, aus und vorbei für immer, nichts, nichts als Antwort auf die große, diesseits ungelöste Frage.

Sie spürte, wie die Kugel in den Kopf eintrat. Sie wußte nicht, ob die Gedanken während des Abdrückens oder in gerade diesem Moment durchs Hirn zuckten – Bruchteil einer Sekunde, den das Geschoß zur Verrichtung der zugewiesenen Aufgabe benötigte.

Das Unglaublichste, aber Entsetzlichste an allem war, daß es auf der anderen Seite nicht durchschlug. Sie spürte, wie die Kugel abgegeben wurde, den Rückstoß der Schußwaffe, den Weg quer durch ihr Gehirn und dann den dumpfen Aufschlag an der linken Schläfe. Dort aber blieb das Geschoß stecken, unter der Haut fühlbar als schmerzende, eisenharte Wölbung.

Nachbarn hatten die Detonation gehört und kamen Treppen von oben herunter und von unten herauf. Sie stand da, vor dem blinden Spiegel, mit gesenkter Waffe, zu Tode erschrocken.

Ein Arzt war unter den Herbeieilenden. Er untersuchte die Wunde, befühlte die Druckstelle, konnte aber den Schaden, der hinter der Stirn verursacht worden war, nicht so ohne weiteres feststellen. Wie lange sie noch leben und in welcher Art sich die Beschädigung auf die Dauer auswirken würde, ließ sich nicht einfach sagen. Vielleicht blieben ihr noch Minuten, Stunden oder auch Tage, Monate, vielleicht Jahre?! Vielleicht gelähmt, verwirrt, bewegungsgestört oder auch ganz normal, einfach mit dem Wissen, dort ist ein Fremdkörper im Kopf, der mit seinem allzeit spürbaren Schmerz ein Bestandteil ihres Lebens, ihrer selbst sein würde.

Verwandte waren jetzt da. Drängten sich an ihre Seite. Schauten erschrocken, ängstlich und gleichzeitig schüchtern und faßten zögernd nach ihren Händen. Doch das gab keinen Trost. Nichts würde mehr trösten. Sie war fassungslos über den Verlauf der Dinge und abgrundtief verzweifelt über das Wissen, daß sich nun nie, nie mehr etwas an allem ändern ließ. Es war geschehen, und selbst, wenn die Kugel hätte operativ entfernt werden können, selbst wenn überhaupt keine sichtbaren oder sonstwie bemerkbaren Veränderungen und Spuren oder Schmerzen zurückbleiben würden, war da doch die Tatsache dieses einen schrecklichen Augenblicks. Niemals würde die Erinnerung zu löschen sein, und nichts würde mehr sein wie vorher. Ihr Leben war unheilbar geteilt in ein DAVOR und DANACH, und nichts und nie mehr würde etwas danach sein, wie es davor gewesen war.

Karla wußte, als sie erwachte, sofort, wo sie sich befand. Im Wohnzimmer, zusammengesunken im Sessel. Der Kopf war beim Schlafen zwischen Armlehne und Rückenpolster gerutscht. Das metallene Verbindungsstück drückte kalt gegen die Schläfe. Das grelle Licht der Leselampe über ihr explodierte in den Augenschlitzen, und da waren die Hitze auf der Haut und die Kälte im Innern und die Traurigkeit, so maßlos schwer, daß sie sich nicht bewegen und den Kopf aus dem Lichtkreis drehen konnte. Wenn das gelänge. Einfach da sitzen bleiben, für immer, erstarrt, versteinert, Puppe, Skulptur in modernem Interieur, nur noch ein Ding, hineingestellt in das Drumherum, leblos, seelenlos, totes Material ohne Vergangenheit und Zukunft.

Wie alles so unverändert war.

Ohne jetzt, vom Lampenlicht geblendet, etwas zu sehen, wußte sie es doch. Sofa. Sessel. Tisch. Lampen. Vasen. Bücher. Genauso wie bisher. Unverrückt am selben Platz. Gewohnt. Vertraut. Auch die Anordnung der Räume. Der Garten vor dem Fenster. Die Hunde in der Veranda. Die Schlafzimmer oben. Eine heimelige Welt.

Wer von außen ins Fenster hereinschaute, fände das bestätigt. Würde die Wärme spüren und vielleicht Sehnsucht nach diesem wohlgepolsterten Nest. Dieses Haus, sagte man, steht immer offen, wenn die Bewohner dort sind. So was spricht sich herum. Und die Fenster sind ja erleuchtet.

Aber die Tür ist verschlossen.

Auch auf Klopfen und Rufen reagiert niemand.

Und klingeln mag der Fremde jetzt nicht mehr. Hat den Mut verloren. Ist unsicher geworden, ob all das Gerede nicht nur ein Gerücht sei. Eine betrunkene Übertreibung, wie so vieles auf der Welt, von dem er sich Neues und Lebendiges versprochen hat. Und geht davon, um eine Enttäuschung erfahrener und eine Hoffnung ärmer.

Ach – wenn er nur gestern gekommen wäre.

GESTERN

Wir zwei, du und ich, schlurfen durch den weißen Flaum, schlittern den Weg hinunter, die Straße, schütteln die Kapuzen vom Kopf, lassen Baumschnee rieseln in unsere offenen Münder, halten uns rutschend aneinander fest, lachen, in der Schwarznacht.

Du. Du und ich.

Wir zwei.

Die Wärme deines Atems in meinem Gesicht.

 

GESTERN. Als Karla vom Samstageinkauf nach Hause gekommen war, hatte sie Jacques nicht gefunden. Seine Kleider und Schuhe lagen im Schlafzimmer, auch der Mantel hing in der Garderobe, die Hunde schliefen in der Veranda, das Auto parkte vor der Tür, das Haus war nicht abgeschlossen. Dann fiel ihr der Wachsgeruch auf. Jacques’ Langlaufski fehlten, der orangefarbene Trainingsanzug, und später, nachdem sie die Lebensmittel in der Küche verstaut hatte, sah sie ihn durch das Fenster des Arbeitszimmers drüben im Schneehang auf der anderen Straßenseite.

Abends gingen sie miteinander aus.

Weil es vorher tagelang geschneit hatte, waren die Nebenstraßen der kleineren, umliegenden Ortschaften von den überlasteten Räumungsfahrzeugen verschont geblieben. Karla, halb lachend, halb protestierend, ließ Jacques’ Schleuderkünste und die zwar gekonnte, aber auf keinen Fall ungefährliche Rutschfahrt auf der steil abfallenden Bergstraße und die Pirouette auf dem leeren Parkplatzende beim Restaurant über sich ergehen, fühlte sich danach aber wohl, sinnlich erregt, sehr lebendig. Als ihr, noch beim Auto, plötzlich wieder einfiel, daß sie sich einen Augenblick mittags um Jacques geängstigt hatte, legte er den Arm um ihre Schultern, seinen weichen Bart an ihre Wange. Mit unbeschwertem Blick im Schein der Leuchtschrift. »Mir passiert doch nichts.«

Ja, was auch.

Karla paßte mit der Armkugel genau in seine Achselhöhle und spürte den Druck seiner Kraft und seine starke Wärme durch den Mantelstoff.

 

Ein Abend unter einem guten Stern.

Sie hatten im Restaurant nicht vorbestellt und fanden dennoch einen freien Tisch für zwei. Das Essen schmeckte ausgezeichnet, und auch der Wein war gut. Zwischen ihren Tellern standen Kerzen mit ruhigen, gelben Flammen und rote Moosröschen in einer Vase.

Jacques erzählte noch etwas von der Arbeit, und dabei verblaßte die Anstrengung der letzten Wochen langsam in seinem Gesicht. Dann fielen beiden die bevorstehenden Winterferien mit den Kindern ein, weil die Stimmung jetzt ähnlich war wie manchmal abends im Sporthotel. Erinnerungen stiegen auf vom letzten Jahr: eine Gletscherabfahrt. Ein Wochenende im Ferienhaus von Freunden.

Karla hatte sich seit langer Zeit wieder einmal richtig schön gemacht. Für Jacques. Hatte Make-up aufgelegt. Lidschatten verteilt. Ein bißchen Goldpuder auf die Backenknochen gestäubt. Sie hatte auch verschiedene Kleider probiert, den neuen, schwarzen Samtmantel erstmals angezogen und viel zu lange an der Frisur rumgemacht. Aber Jacques war ganz ruhig geblieben. Völlig entspannt wartete er auf dem Sofa, zwischen den Kindern, als sie endlich ins Wohnzimmer hinunterkam.

Der Heimweg vom Restaurant führte an der Tennishalle vorbei. Sie war noch beleuchtet, und Jacques und Karla beschlossen, dort im Café einen Schlummertrunk zu nehmen. Als sie eintraten, kommentierte gerade ein Mann mit mangelhaften Fachkenntnissen, aber gewaltigem Stimmorgan vor den übrigen Gästen das Turnierspiel auf dem ersten Platz vor den großen Fenstern. Jacques hatte den Arm auf Karlas Stuhllehne gelegt und stupste sie hin und wieder, wenn dem Reporter zu große Fehler unterlaufen waren, leicht mit dem Daumen zwischen die Schultern.

Die Kinder hatten zu Haus bleiben wollen und schliefen nun, gegen Mitternacht, auf dem Sofa im Wohnzimmer. Sie reagierten überhaupt nicht auf die Entkleidungsprozedur und hingen beim Hinauftragen in ihre Zimmer schwer wie Mehlsäcke über Jacques’ Schultern und rollten sich in ihren Betten gleich mit tiefen Seufzern fest schlafend auf die Seite. Ohne einmal auch nur mit den Wimpern gezwinkert zu haben.

Karla und Jacques brauchten noch lange Licht in ihrem Zimmer, mit dieser Lust unter der Haut, und schliefen erst gegen Morgen in der gegenseitigen Wärme nah beieinander ein.

HEUTE

Die Badezimmergeräusche, dein Lachen vor dem Spiegel, du willst hinaus in den Schnee, eine Spur ziehen vom Haus in den gegenüberliegenden Hang.

Das warme Morgenlicht im Wohnzimmer. Die Stimmen der Kinder im Haus. Die Wärme unserer Nacht auf meiner Haut. Der Himmel von einer zärtlichen Bläue, die weh tut.

Du da drüben im weißen Hang. Die Berge von Süden her blauweißgezackt so nahe gerutscht. Zum Anschauen. Zum Hineinschauen. Die Schneefelder glitzern in der Sonne. Du legst die Hand über die Augen. Dort unten dein Dorf. Hinter dem Rauhreiffiligran der Obstbäume dein Haus. Deine Familie....

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