Vorwort
»Ich bin versunken in tiefem Schlamm,
wo kein Grund ist;
ich bin in Wassertiefen geraten,
und die Flut schwillt über mich her.
Ich bin müde von meinem Rufen,
vertrocknet ist meine Kehle.
Meine Augen verzehren sich
im Harren auf meinen Gott.
Derer, die mich ohne Ursache hassen,
sind mehr als der Haare auf meinem Haupte.«
Psalm 69, 3–5
Manchmal frage ich mich, ob ich sie beneiden sollte. Manchmal frage ich mich, wie sie das können: so zu hassen. Wie sie sich so sicher sein können. Denn das müssen die Hassenden sein: sicher. Sonst würden sie nicht so sprechen, so verletzen, so morden. Sonst könnten sie andere nicht so herabwürdigen, demütigen, angreifen. Sie müssen sich sicher sein. Ohne jeden Zweifel. Am Hass zweifelnd lässt sich nicht hassen. Zweifelnd könnten sie nicht so außer sich sein. Um zu hassen braucht es absolute Gewissheit. Jedes Vielleicht wäre da störend. Jedes Womöglich unterwanderte den Hass, zöge Energie ab, die doch gerade kanalisiert werden soll.
Gehasst wird ungenau. Präzise lässt sich nicht gut hassen. Mit der Präzision käme die Zartheit, das genaue Hinsehen oder Hinhören, mit der Präzision käme jene Differenzierung, die die einzelne Person mit all ihren vielfältigen, widersprüchlichen Eigenschaften und Neigungen als menschliches Wesen erkennt. Sind die Konturen aber erst einmal abgeschliffen, sind Individuen als Individuen erst einmal unkenntlich gemacht, bleiben nur noch unscharfe Kollektive als Adressaten des Hasses übrig, wird nach Belieben diffamiert und entwertet, gebrüllt und getobt: die Juden, die Frauen, die Ungläubigen, die Schwarzen, die Lesben, die Geflüchteten, die Muslime oder auch die USA, die Politiker, der Westen, die Polizisten, die Medien, die Intellektuellen.[1] Der Hass richtet sich das Objekt des Hasses zurecht. Es wird passgenau gemacht.
Gehasst wird aufwärts oder abwärts, in jedem Fall in einer vertikalen Blickachse, gegen »die da oben« oder »die da unten«, immer ist es das kategorial »Andere«, das das »Eigene« unterdrückt oder bedroht, das »Andere« wird als vermeintlich gefährliche Macht oder als vermeintlich minderwertiges Ding phantasiert – und so wird die spätere Misshandlung oder Vernichtung nicht bloß als entschuldbare, sondern als notwendige Maßnahme aufgewertet. Der Andere ist der, den man straflos denunzieren oder missachten, verletzen oder töten kann.[2]
Diejenigen, die diesen Hass am eigenen Leib erleben, die ihm ausgesetzt sind, auf der Straße oder im Netz, abends oder am helllichten Tag, die Begriffe aushalten müssen, die eine ganze Geschichte der Missachtung und Misshandlung in sich tragen, diejenigen, die diese Mitteilungen erhalten, in denen ihnen der Tod, in denen ihnen sexuelle Gewalt gewünscht oder gar angedroht wird, diejenigen, denen Rechte nur teilweise zugedacht werden, deren Körper oder Kopfbedeckung verachtet werden, die sich maskieren müssen aus Angst, angegriffen zu werden, diejenigen, die nicht aus dem Haus können, weil davor eine brutalisierte, gewaltbereite Menge steht, deren Schulen oder Synagogen Polizeischutz brauchen, alle diejenigen, die der Hass zum Objekt hat, können und wollen sich nicht daran gewöhnen.
Gewiss, es gab immer diese unterschwellige Abwehr von Menschen, die als anders oder fremd wahrgenommen wurden. Das war nicht unbedingt spürbar als Hass. Es äußerte sich in der Bundesrepublik meist mehr als eine in soziale Konventionen eingeschnürte Ablehnung. Es gab in den letzten Jahren auch ein zunehmend artikuliertes Unbehagen, ob es nicht doch langsam etwas zu viel sei mit der Toleranz, ob diejenigen, die anders glauben oder anders aussehen oder anders lieben, nicht langsam auch mal zufrieden sein könnten. Es gab diesen diskreten, aber eindeutigen Vorwurf, nun sei doch seitens der Juden oder der Homosexuellen oder der Frauen auch mal etwas stille Zufriedenheit angebracht, schließlich würde ihnen so viel gestattet. Als gäbe es eine Obergrenze für Gleichberechtigung. Als dürften Frauen oder Schwule bis hierher gleich sein, aber dann sei auch Schluss. Ganz gleich? Das ginge dann doch etwas zu weit. Das wäre dann ja … gleich.
Dieser eigentümliche Vorwurf der mangelnden Demut paarte sich klammheimlich mit Eigenlob für die bereits erbrachte Toleranz. Als sei es eine besondere Leistung, dass Frauen überhaupt arbeiten dürfen – aber warum dann auch noch für denselben Lohn? Als sei es doch lobenswert, dass Homosexuelle nicht mehr kriminalisiert und eingesperrt werden. Dafür sei doch jetzt mal etwas Dankbarkeit angebracht. Dass sich Homosexuelle privat lieben, das sei ja in Ordnung, aber warum auch noch öffentlich heiraten?[3]
Gegenüber Muslimen drückte sich die janusköpfige Toleranz oft in der Vorstellung aus, dass Muslime schon hier leben dürften, aber religiös muslimisch sollten sie nur ungern sein. Religionsfreiheit wurde besonders dann akzeptiert, wenn die christliche Religion gemeint war. Und dann war über die Jahre immer häufiger zu hören, es müsse doch langsam einmal Schluss sein mit der ewigen Auseinandersetzung mit der Shoah. Als gäbe es für das Gedenken an Auschwitz eine begrenzte Haltbarkeit wie bei einem Joghurt. Und als sei die Reflexion auf die Verbrechen des Nationalsozialismus eine touristische Aufgabe, die sich, einmal betrachtet, abhaken ließe.
Aber etwas hat sich verändert in der Bundesrepublik. Es wird offen und hemmungslos gehasst. Mal mit einem Lächeln im Gesicht, mal ohne, aber allzu oft schamlos. Die Drohbriefe, die es anonym schon immer gab, sind heute mit Namen und Adresse gezeichnet. Im Internet artikulierte Gewaltphantasien und Hasskommentare verbergen sich oft nicht mehr hinter Decknamen. Hätte mich vor einigen Jahren jemand gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, dass jemals wieder so gesprochen würde in dieser Gesellschaft? Ich hätte es für ausgeschlossen gehalten. Dass der öffentliche Diskurs jemals wieder so verrohen könnte, dass so entgrenzt gegen Menschen gehetzt werden könnte, das war für mich unvorstellbar. Es scheint fast, als hätten sich herkömmliche Erwartungen an das, was ein Gespräch sein sollte, umgekehrt. Als hätten sich die Standards des Miteinanders schlicht verkehrt: als müsse sich schämen, wer Respekt anderen gegenüber für eine so einfache wie selbstverständliche Form der Höflichkeit hält, und als dürfe stolz sein, wer anderen den Respekt verweigert, ja, wer möglichst laut Grobheiten und Vorurteile herausschleudert.
Nun, ich halte es für keinen zivilisatorischen Zugewinn, wenn ungebremst gebrüllt, beleidigt und verletzt werden darf. Ich halte es für keinen Fortschritt, wenn jede innere Schäbigkeit nach außen gekehrt werden darf, weil angeblich neuerdings dieser Exhibitionismus des Ressentiments von öffentlicher oder gar politischer Relevanz sein soll. Wie viele andere will ich mich nicht daran gewöhnen. Ich will die neue Lust am ungehemmten Hassen nicht normalisiert sehen. Weder hier noch in Europa noch anderswo.
Denn der Hass, von dem hier die Rede sein wird, ist so wenig individuell wie zufällig. Er ist nicht einfach nur ein vages Gefühl, das sich mal eben, aus Versehen oder aus vorgeblicher Not, entlädt. Dieser Hass ist kollektiv und er ist ideologisch geformt. Der Hass braucht vorgeprägte Muster, in die er sich ausschüttet. Die Begriffe, in denen gedemütigt, die Assoziationsketten und Bilder, in denen gedacht und sortiert, die Raster der Wahrnehmung, in denen kategorisiert und abgeurteilt wird, müssen vorgeformt sein. Der Hass bricht nicht plötzlich auf, sondern er wird gezüchtet. Alle, die ihn als spontan oder individuell deuten, tragen unfreiwillig dazu bei, dass er weiter genährt werden kann.[4]
Dabei ist der Aufstieg aggressiv-populistischer Parteien oder Bewegungen in der Bundesrepublik (und in Europa) noch nicht einmal das Beunruhigendste. Da gibt es noch Grund zu der Hoffnung, dass sie sich mit der Zeit selbst zerlegen werden durch individuelle Hybris, wechselseitige Animositäten oder schlicht den Mangel an Personal, das professionell politisch zu arbeiten in der Lage wäre. Von einem anti-modernistischen Programm, das die soziale, ökonomische, kulturelle Wirklichkeit einer globalisierten Welt leugnet, einmal ganz abgesehen. Vermutlich verlieren sie ihre Attraktivität auch, wenn sie in öffentliche Auseinandersetzungen gezwungen werden, in denen sie argumentieren und auch auf ihr Gegenüber eingehen müssen, wenn von ihnen sachliche Erörterungen komplexer Fragen verlangt werden. Vermutlich verlieren sie auch ihre vermeintlich dissidente Besonderheit, wenn ihnen in einzelnen Punkten, wo es angebracht ist, auch einmal zugestimmt wird. Das macht die Kritik an anderen Stellen nur wirksamer. Vermutlich braucht es nicht zuletzt tiefgreifende ökonomische Programme, die den sozialen Unmut über wachsende Ungleichheit und die Angst vor Altersarmut in strukturschwachen Regionen und Städten angehen.
Was viel bedrohlicher ist: das Klima des Fanatismus. Hier und anderswo. Diese Dynamik aus immer fundamentalerer Ablehnung von Menschen, die anders oder nicht glauben, die anders aussehen oder anders lieben als eine behauptete Norm. Diese wachsende Verachtung von allem Abweichenden, die sich verbreitet und nach und nach alle beschädigt....