1 Spurensuche: Wer war Carl Lutz?
Freitag, der 21. Oktober 2015. Der ICE nach Bern fuhr pünktlich ab. Während vor den Fenstern die regenfeuchte Landschaft an mir vorbeizog, wanderten meine Gedanken zu meinem neuen Projekt. In Bern würde ich aus erster Hand kompetente Auskünfte über eine spektakuläre, mutige und eigenwillige, ja trickreiche Rettungsaktion erhalten, die sich im Jahr 1944 in Budapest abspielte, im von Hitlerdeutschland besetzten Ungarn.
Im Auge des Sturms und unter den Augen der zum Äußersten entschlossenen Besatzer gelang es damals einem bis dahin eher unauffälligen Schweizer Konsularbeamten, dem Cheforganisator des Holocaust Adolf Eichmann das Leben eines Teiles der Budapester Juden abzutrotzen und immer wieder Sand in das Getriebe der bereits angelaufenen Mordmaschinerie zu streuen. Wenngleich sich die genauen Zahlen nicht exakt eruieren lassen, geht man von etwa 60.000 Menschen aus, die dank der Initiative dieses Beamten vor dem sicheren Tod bewahrt wurden.
Es handelte sich unbestritten um die größte Rettungsaktion im Dritten Reich, und dennoch geriet sie weitgehend in Vergessenheit. Ebenso wie der Name des Mannes: Carl Lutz. Nur wenige Historiker und Publizisten beschäftigten sich mit ihm. Einem anderen, dem Schweden Raoul Wallenberg, schrieb die Nachwelt das Verdienst an der spektakulären Rettungsaktion zu, und so wurde Lutz zum »vergessenen Helden«.
Eine gleichermaßen unverständliche wie unerträgliche Situation. Und für mich ein Ansporn, mich mit dem Leben und Wirken dieses Mannes zu beschäftigen, der mehr jüdische Leben als jeder andere gerettet hat.
Seit ich mich vor einigen Jahren mit Oskar und Emilie Schindler zu befassen begann, ist es für mich zu einem Herzensanliegen geworden, Menschen nachzuspüren, die wie diese beiden trotz Gefährdung des eigenen Lebens nach Mitteln und Wegen gesucht haben, in Europas dunkelster Stunde denjenigen beizustehen, die durch absurde Rassengesetze willkürlich ausgegrenzt wurden aus einer Gemeinschaft, in der sie seit Jahrhunderten zu Hause gewesen waren, deren Kultur, Literatur, Kunst und Wissenschaft sie bereichert und befördert hatten.
Und denen man mit einem Mal selbst das Recht zu leben absprach.
Was das bedeutete, habe ich als Kind indirekt durch meine Eltern erfahren. Zwar gelang ihnen in letzter Minute die Flucht aus Nazideutschland nach Argentinien, doch wirklich glücklich wurden sie nie mehr – beraubt ihrer Wurzeln, ihrer Sozialisation und vor allem ihrer Familien, von denen niemand mehr aus den Konzentrationslagern zurückkehrte. Sie haben nicht viel darüber geredet. Das Wissen um das, was damals in Deutschland geschah, hat sie wohl stumm gemacht, aber ich konnte das Trauma ihrer zerstörten Identität spüren.
Und das hat mich vermutlich sensibilisiert für die Leiden der Verfolgten und für das Heer der Heimatlosen und Entwurzelten, die auch heute wieder auf der Suche nach Schutz und einer sicheren Zuflucht herumirren, und lenkte zugleich meine Aufmerksamkeit auf jene Menschen, die ohne nachzudenken halfen. Einfach so, weil sie sich den Geboten der Menschlichkeit verpflichtet fühlten. Ob nun in kleinem oder großem Maßstab – ein jeder von ihnen verdient es, zu den »Gerechten unter den Völkern« gezählt und vor allem dem Vergessen entrissen zu werden.
Auf den Namen Carl Lutz stieß ich zum ersten Mal vor ein paar Jahren, als ich Recherchen für ein Buchprojekt über die argentinische Politik im Zweiten Weltkrieg und in der Vorkriegszeit anstellte.
Bekanntlich hegte der damalige Staatspräsident Juan Domingo Perón durchaus Sympathien für das nationalsozialistische Deutschland. Dass er dem Dritten Reich 1945 kurz vor Toresschluss noch den Krieg erklärte, geschah wohl lediglich auf Druck der USA und hinderte ihn nicht daran, Nazitäter jeder Couleur nach Kriegsende über die sogenannte Rattenlinie in sein Land einschleusen zu lassen und sie damit dem Tribunal der Siegermächte zu entziehen. Sein Beispiel machte Schule: Auch spätere argentinische Regierungen sowie andere südamerikanische Staaten bewahrten die geflohenen NS-Verbrecher vor einer Auslieferung an die Bundesrepublik oder etwa an Israel, das zumindest im Fall Eichmann die Sache auf seine Weise löste und den Organisator des Holocaust 1960 entführte, um ihn nach einem aufsehenerregenden Prozess zum Tode zu verurteilen.
1 Carl Lutz im Sommer 1944 in Budapest
Ich weiß nicht mehr, in welchem Zusammenhang genau mir der Name Carl Lutz seinerzeit begegnete, doch er ist mir im Gedächtnis geblieben. So nachhaltig, dass ich irgendwann beschloss, über ihn zu schreiben. Zudem reizte mich die Parallele zu Schindler. Nicht allein wegen der Rettungsaktion selbst, sondern ebenfalls wegen der Vorwürfe, die sich beide machten, weil sie nicht mehr jüdische Leben zu schützen vermochten. Dabei war bei Lutz die Zahl der Geretteten ohnehin unermesslich groß.
2 Bei Agnes Hirschi, der Stieftochter von Carl Lutz
Von diesem Moment an stand für mich fest: Dieser Mann war eine der seltenen Sternstunden der Menschheit.
Ich konnte es also kaum erwarten, endlich in Bern seine Stieftochter und Nachlassverwalterin zu treffen, die es nach eigenem Bekunden als »ihre Mission« betrachtet, das Andenken an Carl Lutz wachzuhalten oder, richtiger gesagt, dafür zu sorgen, dass seine Leistung wenigstens posthum von einer breiteren Öffentlichkeit gewürdigt wird. Viele Überlebende, die selbst Zeugnis ablegen könnten, gibt es nicht mehr.
Ein paar wenige habe ich kontaktiert, und sie stellten mir ihre Erinnerungen zur Verfügung. Es sind bewegende Zeugnisse, die nicht mit diesen Menschen sterben dürfen. Genauso wenig wie die teilweise minuziösen Berichte und Aufzeichnungen von Carl Lutz, die Agnes Hirschi mir zur Einsicht überließ. Sie alle lassen jene dramatischen Monate in Budapest zwischen April und Dezember 1944 wiedererstehen, in denen ein Schweizer Konsularbeamter für ein wachsendes Heer von Hoffnungslosen zur einzigen, zur letzten Hoffnung und für einen Großteil zum rettenden Engel wurde.
Nun also Agnes Hirschi.
Wir hatten ein paar Tage zuvor telefoniert und dieses Treffen bei ihr zu Hause vereinbart. Sie lebt in der Nähe von Bern, in dem kleinen Ort Münchenbuchsee. An der Tür empfing mich eine zierliche Mittsiebzigerin, die mich freundlich mit ihren wachen dunkelblauen Augen anschaute. Ihrem Mann stellte sie mich als »die Dame aus Buenos Aires« vor, die ein Buch über Carl Lutz schreiben wolle. Sie sagte wirklich sehr sachlich, respektvoll fast »Carl Lutz«, nicht etwa »mein Stiefvater«.
»Was soll ich Ihnen erzählen, wollen Sie mir Fragen stellen?, erkundigte sich Agnes Hirschi.
Nein, sie solle lieber frei erzählen, was ihr so in den Sinn komme, schlug ich vor. Angesichts der Tatsache, dass ich bislang nicht allzu viel über Carl Lutz, seinen Background und seine Beweggründe wusste, schien mir dieses Vorgehen zielführender. Immerhin saß ich der Frau gegenüber, die diesen Mann seit ihrer frühesten Kindheit kannte und ihm bis zu seinem Tod 1975 eng verbunden blieb – das Verhältnis zwischen einem Vater und seinem leiblichen Kind hätte nicht besser gewesen sein können.
An diesem Nachmittag und am folgenden Tag hat sie mir so vieles erzählt, dass ich nach und nach begann, die Geschichte hinter der Geschichte zu verstehen, und das ist, hoffe ich, in die einzelnen Kapitel dieses Buches eingeflossen.
Darüber hinaus versorgte sie mich mit allen möglichen Niederschriften ihres Stiefvaters, mit Korrespondenzen, mit Berichten an seine Berner Dienststelle und mit Tagebuchnotizen, teilweise unveröffentlichten Quellen – nicht gehobenen Schätzen also, die wenig beachtet in Archiven liegen. Außerdem zeigte sie mir ganz persönliche Dinge, darunter ein Gebilde, das ich nicht zu identifizieren vermochte. Es handelte sich um ein verschmortes Kristallglas, das den Brand der ehemaligen britischen Botschaft in Budapest, wo Carl Lutz privat wohnte, zumindest in dieser Form überstanden hatte. Sie habe es unter der Asche gefunden, als sie mit den anderen den Luftschutzkeller nach zwei Monaten verlassen konnte. Das Glas gehörte zu einem großen Service für besondere Anlässe.
Vieles weiß Agnes Hirschi naturgemäß mehr aus Erzählungen denn aus eigener Erinnerung. Schließlich war sie in jenem schicksalhaften Jahr 1944 gerade mal sechs Jahre alt. Außerdem schirmten die Erwachsenen sie weitgehend von allen unangenehmen Dingen ab. Dass sie Weihnachten 1944 unter einem schönen Baum in der Residenz feierten, daran haben sie Fotos erinnert. Dass sie ihren siebten Geburtstag ein paar Tage später, am 3. Januar 1945, bereits im Keller begehen musste, hat sie nicht vergessen, weil sie von ihrem späteren Stiefvater eine ganz besondere weiße Schokolade geschenkt bekam, die bis auf den heutigen Tag ihre Lieblingssorte ist.
Agnes gehörte übrigens selbst zu den Schutzbefohlenen von Carl Lutz. Als Jüdin und britische Staatsbürgerin war sie nämlich in Ungarn seit dem deutschen Einmarsch doppelt gefährdet.
»Ich bin in London geboren worden«, erzählte sie, »und meine Mutter ging eines Tages in Budapest zur schweizerischen Gesandtschaft, wo Carl Lutz als Leiter der Abteilung fremde Interessen die Bürger jener Länder vertrat, die sich mit Deutschland im Krieg befanden. So haben er und meine Mutter sich kennengelernt. Er verliebte sich Hals über Kopf in sie und stellte sie in seiner Residenz als Hausdame ein.«
Ja, das war mir bekannt. Ebenso, dass es sich um eine ziemlich verzwickte Situation handelte, eine Ménage-à-trois, denn Lutz war seinerzeit noch verheiratet. Und zwar mit einer Frau, die ihn bei seiner Arbeit, speziell bei...