EINLEITUNG
AFRIKA IM MITTELALTER: DIE WIEDERGEFUNDENE ZEIT
Wenn der Leser dieses Buch aufschlägt, macht er sich auf eine Reise durch mehrere Jahrhunderte afrikanischer Geschichte. Ein chinesischer Reisender im 8. Jahrhundert ist unser erster Führer, ein portugiesischer Eroberer Ende des 15. Jahrhunderts der letzte. Zwischen den beiden begleiten uns Händler, Geographen, Diplomaten, Muslime, Juden, Christen, Persönlichkeiten wie Marco Polo und Ibn Battûta. Wir werden uns damit abfinden müssen, nicht immer zu verstehen, was wir sehen, und nicht immer sicher zu sein, dass das, was wir sehen, von unseren Führern richtig verstanden worden ist. Denn was sie beschreiben und was wir ohne sie nie erfahren hätten, sind zumeist Dinge, die sie gehört oder gelesen haben. Wir dürfen uns nicht stören an den geographischen Ungenauigkeiten jener Zeit, an den Widersprüchen der Gewährsleute, an den Infragestellungen, denen sich jeder ausgesetzt sah, der sich von einer Welt in eine andere wagte. Wir müssen uns von dem Bild eines «ewigen» Afrika, des Afrika der «Stämme», des Afrika als Spiegel der Ursprünge des Menschen trennen. Denn wir werden hier über ein Afrika in der Geschichte reden.
Acht Jahrhunderte: fast ein Jahrtausend. Und dennoch so wenig beachtet. Es ist nicht zu bestreiten, unsere Aufmerksamkeit richtet sich meistens auf die afrikanischen Zivilisationen der Antike: das pharaonische Ägypten, das meroitische Nubien, das punische oder römische Afrika, Aksum in Äthiopien, dessen überwältigende architektonische Relikte seit langem unsere Vorstellungskraft herausfordern. Vielleicht kennen wir ja auch nur die jüngsten Jahrhunderte besser, oder glauben sie besser zu kennen, die Zeit, als der afrikanische Kontinent, mit Gewalt an das Schicksal der europäischen Mächte gekoppelt, «entdeckt», dann «erforscht» wurde von denen, die sich eifrig seiner bemächtigten; als er den Sklavenhandel erlitt, die Kolonisation und schließlich vor den gewaltigen Umbrüchen der Gegenwart stand. Zwischen diesen beiden, uns vergleichsweise besser vertrauten Afrikas, dem antiken Afrika, dessen prunkvolle Rituale weiterhin einer gelehrten Nostalgie Nahrung liefern, und dem modernen Afrika, dessen Sprünge und Erschütterungen ein begehrliches Interesse schüren, erstreckt sich, was man als die «dunklen Jahrhunderte» Afrikas bezeichnet hat.
«Dunkle Jahrhunderte», tatsächlich? Der Ausdruck stammt von Raymond Mauny, der in Frankreich als einer der Begründer der Geschichte des Alten Afrika gilt, des Afrika also vor der Zeit der Entdeckungen (die mit den portugiesischen Seefahrern des 15. Jahrhunderts beginnen) und vor der Zeit der Kolonisation, zweier Perioden, die eine verhältnismäßig große Fülle von schriftlichen Quellen hervorgebracht haben. Weit davon entfernt, die frühe Vergangenheit Afrikas abwerten zu wollen, war Maunys Begriff ein Ausdruck der Frustration angesichts des schmerzlichen Fehlens verfügbarer Quellen, um diese Vergangenheit zu ergründen. Die «dunklen Jahrhunderte» Afrikas sind nur so dunkel, weil die Dokumentation ein so schwaches Licht auf sie wirft. Doch so spärlich und vage sie auch dokumentiert sein mögen, sie verdienten wohl eher den Namen «goldene Jahrhunderte». Klischee hin oder her, das trifft es viel besser. Die wenigen Quellen sagen uns, dass das Afrika dieser Zwischenära mächtige und blühende politische Gebilde kannte und aktiv an den großen Strömen interkontinentalen Austauschs teilnahm, die Menschen, Güter und religiöse Anschauungen beförderten. Dieses Afrika erlebte die Entwicklung von Städten, in denen Fürsten ihre Paläste hatten und Moscheen oder Kirchen gebaut wurden, wo fremde Kaufleute ansässig waren und man Luxusartikel und Sklaven tauschte. Es war entscheidend an der Ausbeutung seiner eigenen Ressourcen beteiligt, unter denen das Gold eine besondere Stellung einnahm. In der damaligen Welt genoss dieses Afrika großes Ansehen, von Europa bis China.
Aber wir wollen nicht einfach ein Bild der Dunkelheit gegen eine Goldene Legende eintauschen. Wichtiger ist zu verstehen, wie das Afrika jener Jahrhunderte zwischen Antike und Neuzeit ein Zentrum so strahlender Kulturen sein und sich gleichzeitig so sehr in Dunkel hüllen konnte, dass seine späte Wiederentdeckung wie ein Schandfleck erscheint. Was sind die Gründe für dieses Vergessen?
An erster Stelle die spärlichen externen Quellen. Man ist beim Lesen dieses Buches vielleicht überrascht, dass den schriftlichen europäischen Quellen so wenig Platz eingeräumt wird, aber sie haben so gut wie kein Gewicht gegenüber den für unsere Periode relevanten arabischen Quellen. Dabei umfassen auch die nur einen Band von wenigen hundert Seiten – ein Armutszeugnis, verglichen mit den Quellen der vorangegangenen Periode! Aber hier geht es um ein anderes Afrika, eines, das sehr viel weiter vom Mittelmeer entfernt liegt. Zu einem späteren Zeitpunkt werden wir auf diese eigentümliche Konstellation zurückkommen. Hier sei nur so viel gesagt, dass Informationen dieselben Wege nehmen wie Schiffe nach Übersee und Karawanen in ferne Länder. Sie zirkulieren mit den Händlern, mit Personen also, die sich oft nur für Handelsplätze und für mächtige Personen interessieren, die ihren Unternehmungen dienlich sein könnten, und normalerweise eher zurückhaltend sind mit Angaben über Bezugsquellen, Modalitäten von Transaktionen, genaue Routen und persönliche Kontakte. Dennoch haben zum Glück einige weniger skrupulöse Reisende, einige auf die Welt neugierige Amateurgeographen gelegentlich die Ergebnisse ihrer Erfahrungen und Untersuchungen der Nachwelt geschenkt. Was die europäischen Quellen betrifft, die ab dem Ende des 15. Jahrhunderts, als die europäische Expansion ihren Anfang nimmt, eine Führungsrolle in der Dokumentation übernehmen, so richten sie damals ihren Blick auf ein anderes Afrika, und zwar das der innertropischen Küstengebiete, die mit Europa und Amerika den dritten Pol eines Handelsdreiecks bilden. Im Übrigen sind sie, bis auf wenige bemerkenswerte Ausnahmen, durch und durch von Rassenvorurteilen geprägt, die erheblich zu dem Desinteresse an der Geschichte der afrikanischen Gesellschaften beigetragen haben.
Der zweite Grund für das Vergessen der «goldenen Jahrhunderte» ist die Tatsache, dass wenige afrikanische Gesellschaften dieser Periode eine Schrift verwendet und entsprechende Archive unterhalten haben, die «aus dem Innern heraus» ihre Stärke und ihren Wohlstand bezeugen könnten. Zwar haben zahlreiche afrikanische Gesellschaften der Antike eine Dokumentation in verschiedenen Sprachen und Schriftsystemen hinterlassen, insbesondere auf Punisch, Libysch-Berberisch, Altäthiopisch, Altnubisch, Griechisch und Lateinisch. Andere erstellen ab dem 17. Jahrhundert historische Chroniken (denken wir etwa an die Gemeinschaften der Sahelzone, insbesondere an die von Timbuktu, oder an verschiedene Gemeinschaften der Swahili-Küste), und ab dem 19. Jahrhundert beginnt sich die Produktion von Schriftstücken auf ganz Afrika auszuweiten. Aber die afrikanischen Gesellschaften der Periode, die uns hier beschäftigt, haben bis auf ganz wenige Ausnahmen keine schriftlichen Traditionen entwickelt, die den Historikern als Quellen dienen können. Und dies nicht etwa, weil es ihnen an Anregungen oder Kenntnissen mangelte, sondern einfach, weil sie diese Kommunikation nicht brauchten. Denn in etlichen afrikanischen Gesellschaften existierte eine andere, ebenfalls Spezialisten anvertraute Form der Übermittlung: das gesprochene Wort, die mündliche Überlieferung. Über Jahrhunderte immer wieder weitergegeben, sind bestimmte mündliche Berichte bis zu uns gelangt, ohne dass wir das Ausmaß ihrer unterwegs erfahrenen Veränderungen ermessen, geschweige denn ihre Glaubhaftigkeit überprüfen können. Selbst wenn ein ehemaliger Sachverhalt, schriftlich niedergelegt, bis zu uns gelangt ist, wie im Falle des Berichts über die Thronbesteigung des Königs Mûsâ von Mâli, den dieser persönlich einem Sekretär der arabischen Kanzlei von Kairo erstattet hat, ist seine Auslegung schon schwierig. Deshalb müssen diese mündlichen Berichte außer Acht gelassen werden. Um in so ferne Vergangenheiten vorzudringen, sind sie nicht zu gebrauchen.
Aber bleiben uns dann nicht wenigstens noch Städte, Paläste, Baudenkmäler, Tempelanlagen, all die materiellen Zeugen der Vergangenheit? Nur sehr wenige, sehr schlecht erhalten und äußerst dürftig von der Forschung dokumentiert. Man stelle sich vor, wir wissen nicht einmal, wo sich die Hauptstadt von Mâli in ihrer Blütezeit, Mitte des 14. Jahrhunderts, befand. Unzureichende Forschung? Wahrscheinlich. Aber fügen wir gleich hinzu: Wenn die Orte, von Dünen, Mangroven oder der Savanne verschlungen, verloren gegangen sind, wenn die zufällig durch...