Stell dir vor, du befindest dich in einer warmen, wolkenlosen Sommernacht auf einer fernen Vulkaninsel. Das Meer um die Insel herum ist so unbewegt wie ein See. Nur flache Wellen laufen auf den weißen Sand. Kein Geräusch ist zu hören. Du liegst am Strand und hast die Augen geschlossen. Der knochentrockene, sonnenwarme Sand heizt die mit süßen, exotischen Düften gesättigte Luft auf. Alles ist friedlich.
Plötzlich ein gellender Schrei in der Ferne. Du springst auf und starrst in die Dunkelheit.
Nichts. Was immer da aufschrie, ist jetzt still. Es gibt keinen Grund, sich zu fürchten. Vielleicht ist diese Insel für manche Geschöpfe gefährlich; für dich ist sie es nicht. Schließlich bist du ein Mensch, ein Individuum der mächtigsten Raubtierart. Nicht mehr lange, dann kommen deine Freunde, um dir bei einem Drink Gesellschaft zu leisten. Du bist im Urlaub, und so legst du dich wieder in den Sand, um dich Gedanken zuzuwenden, die deiner Spezies würdig sind.
Zahllose winzige Lichter flimmern am unermesslichen Nachthimmel: Sterne. Überall Sterne. Du kannst sie mit bloßem Auge erkennen. Und dir fallen Fragen aus deiner Kindheit ein: Was hat es auf sich mit diesen Sternen? Warum flimmern sie? Wie weit sind sie entfernt? Aber dann fragst du dich: Werden wir das jemals wissen? Achselzuckend entspannst du dich und schiebst die dummen Fragen beiseite. Du denkst: Warum sollte uns das interessieren?
Eine kleine Sternschnuppe streicht sanft über den Himmel, und gerade als du dir etwas wünschen möchtest, geschieht etwas höchst Ungewöhnliches: Wie um deine letzte Frage zu beantworten, sind im Nu fünf Milliarden Jahre vergangen. Du liegst nicht mehr an einem Strand, sondern gleitest im Weltall durch die Leere. Du kannst sehen, hören und fühlen, aber dein Körper ist verschwunden. Du bist ätherisch. Reiner Geist. Und du hast nicht einmal Zeit, dich zu fragen, was gerade geschehen ist, oder um Hilfe zu rufen, denn du befindest dich in der befremdlichsten Situation, die du dir vorstellen kannst.
Vor dir, ein paar hunderttausend Kilometer entfernt, schwebt vor einem Hintergrund aus kleinen, noch weiter entfernten Sternen ein kugelförmiges Gebilde. Es leuchtet dunkel orangefarben und kommt, sich drehend, auf dich zu. Du erkennst schnell, dass seine Oberfläche von geschmolzenen Gesteinsmassen bedeckt ist und dass es sich um einen Planeten handelt. Um einen geschmolzenen Planeten!
Du bist geschockt, und eine Frage kommt dir in den Sinn: Welche monströse Wärmequelle konnte ihn schmelzen?
Aber dann taucht rechts von dir ein gewaltiger Stern auf. Seine Größe ist, verglichen mit der des Planeten, einfach erstaunlich. Auch er dreht sich und fliegt durchs All. Und er scheint größer zu werden.
Obwohl er viel näher ist, wirkt der Planet jetzt wie die kleine orangefarbene Murmel eines Kindes neben einer gigantischen Kugel, die in erstaunlichem Tempo weiterwächst: Sie ist jetzt schon doppelt so groß wie vor einer Minute. Sie hat eine rote Färbung angenommen und spuckt wütend ellenlange Fäden von eine Million Grad heißem Plasma aus, die anscheinend fast mit Lichtgeschwindigkeit durchs All schießen.
Alles, was du siehst, ist von einer monströsen Schönheit. Du erlebst ja auch eines der gewaltigsten Ereignisse, die das Universum zu bieten hat. Und doch ist nichts zu hören. Alles ist still, denn Geräusche verbreiten sich nicht im luftleeren Raum des Weltalls.
Sicher, denkst du, wird der Stern nicht in diesem Tempo weiterwachsen. Und doch, er tut’s! Er hat jetzt eine Größe, die du dir nicht hättest vorstellen können, und der geschmolzene Planet, zerstört von Energien, denen er nicht standhalten konnte, zergeht in Nichts. Der Stern nimmt davon nicht einmal Notiz. Er wächst weiter, bis zum Hundertfachen seiner ursprünglichen Größe, und explodiert dann plötzlich, wobei er die ganze Materie, aus der er bestand, ins Weltall feuert.
Eine Schockwelle geht durch deine geisterhafte Gestalt, dann ist der Stern zu Staub geworden, der in alle Richtungen geblasen wird. Der Stern existiert nicht mehr. Er hat sich in eine eindrucksvolle farbenprächtige Wolke verwandelt, die sich jetzt in einer Geschwindigkeit, die Göttern Ehre machen würde, in die interstellare Leere hinein verteilt.
Langsam kommst du wieder zu Sinnen, und du begreifst, was gerade geschehen ist. Eine furchtbare Wahrheit ergreift von dir Besitz: Der Stern, der da gestorben ist, war kein x-beliebiger. Es war die Sonne. Unsere Sonne. Und der geschmolzene Planet, der in ihrer gleißenden Helle verschwand, war die Erde.
Unser Planet. Deine Heimat. Weg!
Du hast das Ende unserer Welt miterlebt. Kein spekulatives Ende, keine weithergeholte, angeblich auf die Mayas zurückgehende Phantasie. Nein, das wirkliche Ende. Ein Ende, von dem die Menschheit schon einige Zeit vor deiner Geburt, also fünf Milliarden Jahre vor dem, was du gerade gesehen hast, wusste, dass es eintreten würde.
Als du versuchst, deine Gedanken zu ordnen, wird dein Geist jäh in die Gegenwart zurückversetzt, in deinen am Strand liegenden Körper.
Dein Herz rast, du setzt dich auf und siehst dich um, als wärest du gerade aus einem seltsamen Traum erwacht. Die Bäume, der Sand, das Meer und der Wind sind noch da. Deine Freunde sind auf dem Weg, du kannst sie in der Ferne erkennen. Was ist geschehen? Warst du eingeschlafen? Hast du geträumt, was du gesehen hast? Ein unheimliches Gefühl kriecht in dir hoch, als dir andere Fragen in den Sinn kommen: Kann es sein, dass das real war? Wird die Sonne wirklich eines Tages explodieren? Und wenn, was wird dann aus der Menschheit? Kann irgendjemand eine solche Apokalypse überleben? Oder wird alles und jedes, auch die Erinnerung an unser Dasein, in kosmischer Vergessenheit versinken?
Du blickst wieder in den sternenklaren Himmel über dir und versuchst verzweifelt zu verstehen, was geschehen ist. In deinem tiefsten Innern weißt du, dass du das alles nicht nur geträumt hast. Obwohl dein Geist wieder auf dem Strand ist, wiedervereinigt mit deinem Körper, weißt du, dass du wirklich eine Zeitreise in eine ferne Zukunft getan und etwas gesehen hast, das niemand jemals sehen sollte.
Du atmest langsam ein und aus, um zur Ruhe zu kommen, als merkwürdige Geräusche an dein Ohr dringen, so als ob der Wind, die Wellen, die Vögel und die Sterne ein Lied flüsterten, das nur du allein hören kannst. Und plötzlich verstehst du, wovon sie singen. Es ist zugleich eine Warnung und eine Einladung. Egal, was die Zukunft bringen wird, murmeln sie, die Menschheit kann nur einen Weg beschreiten, um den unvermeidlichen Tod der Sonne und die meisten anderen Katastrophen zu überleben:
Den Weg des Wissens, der Wissenschaft. Auf einer Reise, die nur Menschen machen können.
Einer Reise, die du anzutreten im Begriff bist.
Wieder durchbohrt ein gellender Schrei die Nacht, aber diesmal hörst du ihn kaum. Als ginge schon ein Same auf, der gerade erst in deinen Geist gepflanzt wurde, verspürst du den Drang herauszufinden, was man weiß über das Universum.
Demütig richtest du den Blick wieder nach oben. Du betrachtest die Sterne jetzt mit den Augen eines Kindes.
Woraus besteht das Universum? Was liegt im Nahbereich der Erde? Und was weiter entfernt? Wie weit kann man sehen? Weiß man etwas über die Geschichte des Universums? Hat es überhaupt eine?
Als die Wellen sanft über den Strand streichen und du dich fragst, ob man jemals in der Lage sein wird, diese kosmischen Geheimnisse zu lüften, beginnt das Blinken der Sterne dich einzulullen, deinen Körper in einen halbbewussten Zustand zu versetzen. Du kannst hören, wie deine näher kommenden Freunde sich unterhalten, aber seltsam, du empfindest die Welt schon nicht mehr so wie noch vor einigen Minuten. Alles scheint irgendwie reicher, tiefer, so als wären dein Geist und dein Körper Teil von etwas, was viel, viel größer ist als alles, woran du je gedacht...