1 Einführung
Die Akupunktur ist eines der ältesten Heilverfahren in der Menschheitsgeschichte. Sie wurde bereits vor mehr als 4000 Jahren in China angewandt. Neueste Forschungen am „Mann im Eis“ (Ötzi) belegen, dass dieses Heilverfahren sogar noch älter ist und bereits vor über 5000 Jahren im heutigen europäischen Raum angewendet worden sein muss [1–5]. Wir wissen heute, dass die Akupunktur eine Reflextherapie ist, die über bestimmte Akupunkturpunkte Störungen oder Symptome an zugehörigen Organen oder anderen Strukturen positiv beeinflussen kann.
Für den Körperakupunkturpunkt lässt sich schon seit Langem ein spezifisches morphologisches Substrat beschreiben [6]. Es besteht aus einem Gefäß-Nerven-Bündel, das die oberflächliche Körperfaszie durchstößt. Im Perforationsbereich sind um die Nerven mindestens zwei dünnwandige, konzentrische kollagene Zylinder entwickelt, die mit lockerem Bindegewebe gefüllt sind. Gegenüber der umgebenden Haut besteht im Bereich des Akupunkturpunktes ein leicht veränderter Hautwiderstand. Diese anatomischen Besonderheiten stellen die Grundlage für die elektrischen Auffälligkeiten eines Akupunkturpunktes dar, die sich auf die Haut projizieren. Man kann die Akupunkturpunkte mit Widerstandsmessgeräten (Punktsuchgeräten) auffinden. Das macht sie für jeden verifizierbar.
Ferner ist der Körperpunkt durch eine Häufung verschiedener Rezeptoren (Meissner’sche und Krause’sche Körperchen, Glomusorgane, glatte Muskelzellen) gekennzeichnet. Im histologischen Schnitt ist im Punkt eine Rezeptorendichte von 0,31/mm2 zu finden und außerhalb des Punktes nur von 0,16/mm2 [6].
Der Akupunkturpunkt weist in der Regel zu seiner umgebenden Haut auch eine Potenzialdifferenz auf (2– 60 mV). Der Erfahrene kann mit speziellen Techniken der Influenzverschiebung (Tastung mit dem Nogier-Reflex, 3-Volt-Hämmerchen) diese Potenzialdifferenz zur gezielten Diagnostik nutzen. Dass Akupunktur in ihren verschiedenen Formen wirkt, ist inzwischen durch zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten belegt worden. Man konnte beweisen, auf welchen Ebenen des Körpers die Methode Veränderungen hervorruft, was ein Akupunkturpunkt ist und welche Stoffwechselprodukte durch das Nadeln moduliert werden [8, 9].
1.1 Geschichte der Ohrakupunktur
Wann und wo erstmals die Ohrmuscheln therapeutisch genutzt wurden, ist nicht überliefert. Der älteste Bericht stammt von dem 460 v. Chr. auf der griechischen Insel Kos geborenen Griechen Hippokrates. Nach seiner Ausbildung, die ihn u. a. auch nach Ägypten führte, übte er seine Kunst auf der Wanderschaft durch Griechenland aus und gründete später auf Kos eine medizinische Akademie. So hatte er beispielsweise während seiner Lehrzeit in Ägypten Aderlässe an den Ohrvenen kennengelernt. Für diese Behandlung gab es viele Indikationen, z. B. soll auch Unfruchtbarkeit bei Männern und Frauen damit behandelt worden sein. Wir gehen davon aus, dass die therapeutische Wirkung durch die Einstiche am Ohr erfolgt ist und weniger durch das Blutenlassen.
Der Wissensstand zur gleichen Zeit in China: Etwa aus der gleichen Zeit stammt das Nei-King, das erste in der Medizingeschichte bekannt gewordene und sehr ausführlich gehaltene chinesische Lehrbuch der Medizin. Nach ihm werden die Grundlagen der energetischen Akupunktur, Behandlungsanweisungen, Meridianverläufe und Punktlokalisationen beschrieben. Allerdings enthält es nur zwei Akupunkturpunkte in Ohrnähe. Es sind die Endpunkte des Dreifachen Erwärmers und des Dünndarm-Meridians. Von einer „chinesischen Ohrakupunktur“, wie sie fälschlicherweise oft angenommen wird, kann zu damaliger Zeit somit keine Rede sein.
Begründer der modernen Aurikulotherapie ist Paul Nogier, praktischer Arzt in Lyon, mit einer Ausbildung in klassischer chinesischer Akupunktur. Um 1950 waren ihm auf den Ohrmuscheln seiner Patienten Narben aufgefallen. Die Befragung ergab, dass es sich um Spuren einer – von Heilkundigen durchgeführten – Ischiasbehandlung handelte. Eine bestimmte Stelle der Ohrmuschel war mit einem glühenden Eisenstab gebrannt (kauterisiert) worden (▶ Abb. 1.1). Übereinstimmend wurde ihm berichtet, dass die Beschwerden in kürzester Zeit – oftmals schon während der Behandlung – nachgelassen hätten.
▶ Abb. 1.1 Kauterisationstelle bei Ischias, Punkt L 5/S 1 am Ohr.
Und genau an dieser Stelle darf man dankbar ein wenig innehalten: Denn allein Nogiers Unvoreingenommenheit und Neugier einer „Barfußtherapie“ gegenüber ist es zu verdanken, dass damals der Grundstein für die Entdeckung und systematische Entwicklung dieser inzwischen weltweit verbreiteten, effizienten und dennoch leicht erlernbaren Methode gelegt werden konnte.
In seinem Buch Lehrbuch der Aurikulotherapie von 1969 [19] schildert er seine Entdeckung:
„Etwa im Jahre 1950 entdeckte ich in der Gegend von Lyon, wo ich meine Praxis habe, in der Ohrmuschel einiger Patienten eine seltsame Narbe, die meine Neugierde erweckte. Ich erkundigte mich genauer danach und erfuhr, dass es sich hier um eine besondere Behandlungsart der Ischias handelte. Man hatte den oberen Teil sowie den Rand der Anthelix auf der gleichen Seite, auf der man die Neuralgie festgestellt hatte, kauterisiert. Erst sehr viel später erfuhr ich, dass man seit dem Altertum die Ohrmuschel reizte, um bestimmte Funktionen zu beeinflussen und bestimmten Störungen entgegenzuwirken.
Da ich damals nichts von den Erfahrungen, die man im Altertum gesammelt hatte, wusste, dachte ich, es handle sich um etwas Neues, und ich untersuchte das Ganze als etwas Neues und beobachtete unvoreingenommen die Reaktionen derjenigen, die auf diese Weise behandelt worden waren. Fast einstimmig sagten die von mir befragten Kranken, dass die Schmerzen sehr schnell (innerhalb von einigen Stunden, manchmal Minuten) nachgelassen hatten, so dass man an dem Zusammenhang zwischen der Kauterisation und der Schmerzlinderung nicht zweifeln konnte. Außerdem, und dies überraschte noch mehr, handelte es sich oft um Kranke, die vorher nach den verschiedensten bewährten Verfahren behandelt worden waren, was vermuten ließ, dass es sich um besonders schwer zu heilende Fälle handelte. Ich nahm daraufhin selbst einige Kauterisationen vor, die sich als erfolgreich erwiesen, anschließend erprobte ich andere weniger barbarische Verfahren.
Das einfache trockene Stechen mit einer Nähoder Stecknadel zeigte bei Ischiasfällen eine positive Wirkung, wenn man am gleichen oberen Teil der Anthelix und an den Punkten, die in diesem Bereich druckempfindlich waren, stach.
Plötzlich erkannte ich, dass diese kauterisierte Stelle vielleicht der Articulatio lumbosacralis entspricht und dass in diesem Fall die ganze Anthelix die Wirbelsäule darstellt, aber auf den Kopf gestellt, und dass der Antitragus dem Kopf entspricht; so konnte das Ohr im großen und ganzen als das Abbild eines Embryos in utero erscheinen.“ (▶ Abb. 1.2)
▶ Abb. 1.2 Ähnlichkeit der Korrespondenzpunkte am Ohr mit der Fötuslage.
Nogier durchforschte die Literatur der Vergangenheit. Neben den Berichten des Hippokrates fand weitere frühere Arbeiten:
- Zacatus Lusitanus, portugiesischer Arzt, beschreibt 1637 die Behandlung von Lumbalgien und Ischialgien durch Kauterisation der Ohrmuschel.
- 1717 berichtet der italienische Arzt Valsalva über erfolgreiche Kauterisation der Ohrmuschel bei Zahnschmerzen. Es handelte sich hierbei um neue Areale, die sich von den zu dieser Zeit bereits bekannten Stellen der Ohrmuschel unterschieden, die für eine Behandlung von Ischialgien empfohlen wurden. In seiner Schrift De Aure Humana Tractatus gab er als Anweisung zur Unterdrückung von Zahnschmerzen an: „… der Chirurg muss hinter dem Antitragus und quer zum Ohr einen erhitzten Eisenstab ansetzen …“ (▶ Abb. 1.3, 1.4). Dieser Punkt wurde akupressiert oder kauterisiert. Er wurde dann in der späteren Literatur unter dem Begriff „Point H. Calmant L’Odontalgie“ beschrieben.
- Um 1850 gab es in Frankreich ganze Serien von Publikationen zu diesem Thema. Für etwa 10 Jahre scheint eine Ohr-Euphorie zu bestehen. Zumindest spricht die Vielzahl der in dieser Zeit veröffentlichten Arbeiten dafür. Während der Zeit von 1850–1900 ließen manche Patienten nicht nur bei Zahnschmerzen Ohrkauterisationen durchführen, manchmal versuchte man auf diese Weise sogar, eine Extraktion zu vermeiden. Behandlungen von Dentalneuralgien durch Kauterisationen und Einschneiden der Helix folgten. Auch Fazialisstörungen wurden im 19. Jahrhundert durch Reizungen an der Ohrmuschel behandelt.