Begegnung im Regenwald
Die Sonne war untergegangen, der Regenwald erwachte mit tausend Stimmen. Über dem flachen Wasser am Ufer der Lagune tanzten die Moskitos, und die letzten Boote erreichten Puerto Callao, eine Siedlung aus Bretterbuden, Vorposten der Zivilisation im Tiefland Perus.
Ich saß in einem weißen Raum, dem Zimmer der Chefärztin des Amazonas-Hospitals, und blickte durch das engmaschige Fliegengitter hinaus auf den See. Im graublauen Licht der beginnenden Nacht kreuzten die Einbäume der Indianer auf dem Weg zu ihren nahe gelegenen Dörfern.
Die Lagune Yarinacocha, der »See der ragenden Palmen«, war das Zentrum ihrer Welt, das Land am Rio Ucayali ihr Land, das Land der Shipibo-Conibo, eines der größten indianischen Völker im Regenwald.
Das Hospital hatte der deutsche Arzt Theodor Binder vor einigen Jahrzehnten gegründet, fasziniert vom Werk Albert Schweitzers wollte auch er vergessenen Ureinwohnern helfen, mit moderner Medizin. Ärzteteams erkundeten seitdem in motorisierten Einbäumen die mäandernden Flüsse und boten auch in entlegenen Dörfern ihre Dienste an, sie behandelten Kranke und Verletzte und bildeten Sanitarios aus, Gesundheitsberater, die vor Ort die Grundversorgung sichern sollten.
Zum ersten Mal seit der Eroberung des Landes durch die Weißen wurden den Indianern die Segnungen der westlichen Medizin zuteil, moderne Diagnosemethoden, chemische Medikamente, chirurgische Kunst.
Doch die Gründer des Hospitals hatten eine wichtige Tatsache übersehen: Die Shipibo-Conibo waren seit undenklichen Zeiten selbst Meister der Heilkunst. Ihre Ärzte verfügten über tiefes medizinisches Wissen, kannten Hunderte von wirksamen Pflanzen, und sie heilten mit der Macht ihres Bewusstseins.
Die Schamanen der Shipibo waren jahrhundertelang im ganzen Amazonas-Tiefland berühmt, aber ihre Kunst schien am Einbruch der Moderne zerbrochen. Die spanischen Eroberer hatten ihr Gebiet nicht entdeckt, doch im 20. Jahrhundert waren fundamentalistische Missionare aus den USA gekommen, um ihnen das Christentum zu bringen. Die Missionare hatten keinen Respekt vor den Geheimnissen der indianischen Geschichte, kein Auge für die Schöpfungsmythen aus der Ferne der Zeit und für das geheime Netzwerk der Geister, die das spirituelle Gleichgewicht in der Balance hielten, auch nicht für den nächtlichen Kampf der Schamanen, die auf den Flügeln ihres Bewusstseins in magische Welten jenseits des Alltags reisten, um neue Kraft für ihre Patienten zu finden. Die Missionare waren von der Überlegenheit ihres eigenen Glaubens und ihres modernen Wissens überzeugt, auch deshalb, weil die Kräuter des Regenwaldes und die schamanischen Rituale offenbar im Kampf gegen die Infektionskrankheiten, die mit den Weißen ins Land gekommen waren, nicht halfen. So bewirkten sie mit Antibiotika Wunderheilungen und demonstrierten mit diesem Zauber ihre Überlegenheit.
Die weiße Medizin und das alte Wissen wurden zu Gegnern, und die Ärzte aus den Ländern des Westens siegten. Auch das Amazonas-Hospital stand in dieser Tradition, ein Brückenkopf naturwissenschaftlichen Fortschritts in einer vergessenen Welt.
An diesem Abend im Mai 1979 aber erzählte die Chefärztin ganz andere Geschichten. Vor einem halben Jahr erst war sie aus Deutschland in diese Klinik gekommen, aber dieses halbe Jahr hatte genügt, um ihr Weltbild zu erschüttern. Der Schamanismus der Shipibo war in Wahrheit nicht vollständig untergegangen, sondern hatte in der Stille überlebt. Das Wissen um die Kraft der Pflanzen war nicht verloren gegangen, und noch immer beherrschten die Meister des Heilens in den entlegenen Dörfern die archaische Reise des Bewusstseins in die »andere Wirklichkeit«.
Eines Tages, so erzählte die Chefärztin, sei ein zwölfjähriges Mädchen in die Klinik gebracht worden. Es litt unter Osteomyelitis, einer Knocheninfektion, die mit Antibiotika nicht zu beherrschen war. Eine Röntgenaufnahme zeigte, dass der Herd sich von einer bestimmten Stelle im Knochen ausbreitete. Das Bein war auf das Doppelte des normalen Umfangs angeschwollen und völlig unbeweglich, das Kind hatte starke Schmerzen und hohes Fieber, es musste ständig gekühlt werden, damit die Temperatur unter dem kritischen Punkt blieb. Seine Überlebenschancen waren gering, aber Ärzte und Krankenschwestern taten alles, um das Mädchen zu retten.
Als das Kind immer schwächer wurde, baten die besorgten Eltern um ein Gespräch mit der Chefärztin. Sie fragten vorsichtig, ob sie einen Curandero hinzuziehen dürften, einen traditionellen Heiler. Die Ärztin war einverstanden, stellte aber eine Bedingung: Der Schamane solle sich zunächst bei ihr vorstellen, damit sie ihm die Röntgenaufnahmen zeigen könne, bevor er mit seiner Arbeit beginnen würde.
Als der Curandero kam, ein unscheinbarer kleiner Mann, versuchte die Ärztin, ihm die Ausweglosigkeit des Falles klarzumachen. Sie führte ihn an eine Leuchttafel mit den Röntgenbildern und erklärte ihm so einfach wie möglich die Ursache und den Verlauf der Erkrankung. Dann zeigte sie ihm das Mädchen, das nur noch ein Schatten seiner selbst war. Auf dem Rücken der Patientin hatten sich tiefe Geschwüre gebildet, die Krankenschwestern wussten nicht mehr, wie sie das Kind lagern sollten, es konnte sich vor Schmerzen nicht mehr bewegen, und es gab keine Position, die ihm Erleichterung verschaffte.
Der Curandero hörte sich die Erläuterungen der Ärztin ruhig an, ab und zu nickte er, und dann blieb er allein im Krankenzimmer und begann mit seinem Heilungsritual.
Die Schamanen der Shipibo benutzen, wie viele indianische Völker des Regenwaldes, eine machtvolle Droge, um ihr Bewusstsein zu verändern und den Blick in die Welt der Geister zu lenken, wo sie um Hilfe für ihre Patienten bitten. Die Ayahuasca-Liane, zubereitet in einem bitteren Trank, dem noch weitere Pflanzen hinzugefügt werden, schleudert das Bewusstsein aus der Begrenzung des Körpers und hilft dem geübten Heiler, vordergründig unsichtbare Zusammenhänge zu sehen, die sich den strengen Gesetzen des Wachbewusstseins entziehen. Auf einer Reise in eine Welt, in der mythologische Figuren zu realen Wesen werden, erfährt der Schamane, was er am Krankenbett tun muss. Hilfreiche Geister, die ihm auf seiner Trance-Reise begegnen, übernehmen einen Teil der Arbeit.
Die Krankenschwestern, ausgebildet an modernen medizinischen Schulen in Lima, hörten durch die geschlossene Tür des Zimmers pentatonische Gesänge, eine endlose Melodie, beruhigend und aufwühlend zugleich. Einige Pflegerinnen beschwerten sich bei der Ärztin – sie hätten sich nicht in moderner Heilkunde ausbilden lassen, um nun der längst überwundenen Vergangenheit wieder zu begegnen. Aber die Chefärztin ließ sich in ihrer Entscheidung nicht beirren: Wir sind mit unserer Kunst am Ende, sagte sie, also lassen wir der Patientin und ihren Eltern diese letzte Hoffnung.
Mehrere Tage arbeitete der Heiler hinter der stets verschlossenen Tür des Krankenzimmers, dabei setzte er auch Kräuter ein, die zweite Säule der indianischen Naturmedizin. Das Kind lebte entgegen den Erwartungen der Ärztin noch immer, aber offenbar verbesserte sich sein Zustand nicht wesentlich. Als eine Woche vergangen war, bat der Curandero um ein weiteres Gespräch. Seine Möglichkeiten, sagte er, seien in dieser Umgebung begrenzt, er könne hier keinen Zugang zur Krankheit finden, könne das Mädchen so nicht heilen. Um es zu retten, müsse er es in sein Dorf mitnehmen. Die Ärztin stimmte zu, denn noch immer sah sie keine medizinische Möglichkeit, weiter etwas für die Patientin zu tun.
In einem Geländewagen wurde das Kind, auf Schaumstoff gelagert, über staubige Buckelpisten und schlammbedeckte Pfade in ein kleines Dorf gebracht. Die Hütten der Shipibo haben keine Wände, es sind Pfahlbauten mit einem erhöhten Boden aus biegsamem Holz. Sie bieten kaum Schutz vor der Hitze und noch weniger vor Wind und plötzlicher Kälte, die im Urwald oft auf heftige Regengüsse folgen. Das Kind wurde auf einer schmutzigen Decke gelagert, und die Ärztin fuhr zurück ins Hospital, ganz sicher, dass der Tod nur noch eine Frage von Tagen war – das hohe Fieber konnte in der Klinik nur mit Eiswasser unter dem tödlichen Wert von zweiundvierzig Grad gehalten werden, aber hier in der Hütte gab es kein Eis.
Nach vierzehn Tagen fuhr die Ärztin noch einmal in das Dorf, um sich nach dem Schicksal ihrer Patientin zu erkundigen. Sie fand das Kind aufrecht sitzend auf dem Boden der Hütte, es ging ihm offensichtlich besser. Zwei Monate später machte sie sich noch einmal auf den Weg, jetzt hatte sich der Zustand des Mädchens fast vollständig normalisiert. Es konnte wieder laufen, hielt allerdings noch das linke Bein, dessen Knochen ja befallen war, in einer Schonhaltung. Der Curandero sagte, das werde sich in der nächsten Zeit noch wesentlich bessern.
Der Heiler erlaubte der Ärztin, das Kind noch einmal mit in die Klinik zu nehmen, um das Bein abschließend zu röntgen. Das Bild zeigte, dass die Krankheit zum Stehen gekommen war. Und das Mädchen war nicht nur fieberfrei und wieder bewegungsfähig, es hatte auch keine Schmerzen mehr, und die Geschwüre am Rücken hatten sich fast vollständig zurückgebildet.
Die Chefärztin lehnte sich zurück und lächelte. Seit diesem Erlebnis, sagte sie, habe sie begonnen, die traditionellen Heiler ernst zu nehmen. Sie sei beeindruckt von der indianischen Vorstellung, dass Krankheit nicht das individuelle, vom Spiel des Zufalls diktierte Schicksal eines Menschen sei, sondern Ausdruck eines Problems der Gemeinschaft. So beschrieben die...