Teil 2: Die Bestie in Menschengestalt
Ekelpack
Schreiende Arschlöcher und ein umgedrehter Spieß
Als der Brief sich 1993 auf den postalischen Weg zu seinem Empfänger machte, waren fünf Jahre seit der Auflösung der Band vergangen. Fünf Jahre, die Deutschland veränderten und außerdem eine Phase waren, in der sich auch die Musiklandschaft entwickelte und wandelte. Als Die Ärzte aufhörten, war Berlin immer noch eine eingeschlossene Stadt, die sich aus dem damaligen Westdeutschland nur über einige sogenannte Transitstrecken durch das Territorium der damaligen Deutschen Demokratischen Republik erreichen ließ. Diese DDR wiederum war für Westdeutsche ein fremdes und unbekanntes Land, und den DDR-Bürgern wurde noch weisgemacht, der Westen an sich und damit auch der Westen Deutschlands sei der Feind, was jedoch nicht jeder glauben mochte.
Doch nur gut ein Jahr nachdem Die Ärzte sich aus der Musiklandschaft offiziell verabschiedet hatten, änderte sich alles. Die Berliner Mauer fiel, bald darauf stürzte das Regime der DDR in sich zusammen und wenig später feierte das so lange geteilte Land seine Wiedervereinigung. Politisch, geografisch – und auch musikalisch. Gerade in den nun neue Bundesländer genannten Regionen gab es einen immensen Nachholbedarf in Sachen Pop- und Rockmusik. Nahezu alle bekannten Stars der Musikszene machten sich daran, ihre Fan-Basis jetzt auch im Osten zu vergrößern – mit Ausnahme einer kürzlich aufgelösten Kapelle aus Berlin.
Anfangs folgte der Wiedervereinigung ein regelrechter Freudentaumel. Man war wieder ein gemeinsames Volk, hatte eine Währung und nicht zuletzt drang nun eben im Osten die gleiche Musik wie im Westen aus den Lautsprechern. Doch die große Freude hielt nicht lange an. Gerade in den neuen Bundesländern machten Betriebe gleich reihenweise dicht und schickten ihre einstigen Mitarbeiter in die Arbeitslosigkeit. Viele dieser Menschen zog es auf der Suche nach Arbeit in den Westen der Republik. Wer blieb, war oft frustriert von der Entwicklung und suchte nach Wegen, diese Wut abzureagieren. Das alles hat natürlich auf den ersten Blick herzlich wenig damit zu tun, dass sich ein Brief auf den Weg machte und nach fünf Jahren zwei Personen wieder miteinander ins Gespräch brachte. Doch gerade die Folgen der Wiedervereinigung in den Jahren 1992 und 1993 sollten mitentscheidend für die Zukunft der Band sein, die sich bald tatsächlich wieder Die Ärzte nannte. 1992 war der Frustpegel in manchen Bevölkerungsschichten nämlich so stark gestiegen, dass er sich in einigen äußerst hässlichen Vorfällen ausdrückte, die das Land zutiefst erschütterten. Im Mittelpunkt stand dabei ein in bislang unbekanntem Ausmaß aufflackernder Ausländerhass sowie das Auftauchen einer neuen rechten Szene mit einer großen Zahl gewaltbereiter Neonazis.
Wie auch heute wieder wurde in den frühen Neunzigern über die Zahl der Asylsuchenden debattiert und fanden radikale Stimmen zunehmend Zuhörer. In der Folge kam es immer häufiger auch zu Gewalt gegen Asylanten oder ausländische Mitbürger im Allgemeinen. Ein erster trauriger Höhepunkt war erreicht, als es vom 17. bis 23. September 1991 im sächsischen Hoyerswerda zu Angriffen auf ein Flüchtlingsheim kam. Neonazis warfen Molotowcocktails – Anwohner schauten tatenlos zu und die Polizei griff ebenfalls kaum ein. Noch übler wurde es vom 22. bis 26. August 1992 bei den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen, bei denen fast schon kriegsähnliche Zustände herrschten. Lichtenhagen war ein dicht besiedelter Stadtteil, in dem rund 18000 Menschen lebten, von denen zu jener Zeit viele miterleben mussten, wie ihre Zukunftsträume im vereinten Deutschland den Bach hinuntergingen. Inmitten dieses fast ausnahmslos von frustrierten Deutschen bewohnten Viertels hatte man in einem Sonnenblumenhaus genannten Wohnblock die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber eingerichtet, in der rund 300 Menschen unterkamen. Vor allem in den weniger gebildeten Bevölkerungsschichten gab es aber einige, die gerade den ausländischen Arbeitskräften eine Mitschuld am Verlust ihres Arbeitsplatzes gaben, sodass das Verhältnis zu den Asylbewerbern in Lichtenhagen von Anfang an gespannt war. Das führte schließlich dazu, dass sich am 22. August rund 2000 Menschen vor dem Sonnenblumenhaus versammelten. Bald schon wurden Gehwegplatten zertrümmert und die Betonbrocken auf das Haus geworfen. Die Situation eskalierte immer weiter, Wohnungen und Polizeiwagen brannten, Polizei, Anwohner und angereiste Rechte lieferten sich regelrechte Straßenkämpfe, während gleichzeitig eine wahre Volksfeststimmung herrschte. Es war ein Wunder, dass während dieser Tage keine Toten zu beklagen waren. Doch auch das sollte sich bald ändern.
Am 23. November 1992 wurde im schleswig-holsteinischen Mölln ein Brandanschlag auf zwei von türkischen Familien bewohnte Häuser verübt. Auch hier starb niemand, aber neun Menschen wurden zum Teil schwer verletzt. Als Täter ermittelte die Polizei zwei Neonazis. Am 29. Mai 1993 dann kam es in Solingen ebenfalls zu einem Brandanschlag auf ein von Familien türkischer Abstammung bewohntes Haus. Dieses Mal starben fünf Menschen, darunter ein vierjähriges Kind.
All diese Ereignisse prägten die Atmosphäre und auch die Stimmung im Deutschland des Jahres 1993. Nach dem Höhenflug der Wiedervereinigung war nun ein vollkommener Tiefpunkt erreicht. Auch Farin Urlaub und Bela B. wurden zweifellos von diesen Ereignissen beeinflusst. Doch als der von Farin Urlaub geschriebene Brief den Briefkasten des Bela B. erreichte, konnten beide nicht ahnen, wie sehr wiederum sie selbst dieses Deutschland bald beeinflussen sollten.
Zunächst einmal wurde der Brief von Bela B. recht kritisch betrachtet. Er selbst erzählte halb im Scherz, dass er sich zu jener Zeit nach den jahrelangen erfolglosen Versuchen mit Depp Jones darauf eingestellt hatte, in Zukunft vielleicht als Radiomoderator sein Geld zu verdienen oder auch damit, hinter einem Tresen zu stehen. Die Ärzte wieder zu vereinen, hatte er ja immer wieder und auch öffentlich kategorisch ausgeschlossen, außerdem lag diese Phase lange zurück und der Kontakt zu Farin Urlaub war mehr oder minder eingeschlafen. Natürlich wusste Bela B., dass dessen Projekt King Køng ähnlich erfolglos wie Depp Jones geblieben war. Trotzdem überraschte ihn das, was er in dem Brief las: Auf den handschriftlich verfassten Seiten erklärte Farin Urlaub seine Überlegung, es noch einmal gemeinsam zu versuchen und Die Ärzte wiederzubeleben.
Bela B. war sich zunächst nicht einmal sicher, ob der Brief tatsächlich von seinem ehemaligen Bandkollegen stammte – nach all der Zeit hätte es sich ja schließlich auch um den schlechten Scherz eines Außenstehenden handeln können. So vergingen einige Tage, bevor Bela B. in dieser noch weitgehend handyfreien Epoche zum Telefon griff und Farin Urlaub zunächst die Frage stellte, ob das Schreiben denn tatsächlich von ihm stamme – was der Fall war. Doch auch jetzt reagierte Bela B. nicht mit Begeisterung auf den Vorschlag, sondern äußerte sich zurückhaltend bis ablehnend. Wie Farin Urlaub sich erinnerte, war Bela B. vor allem auch davon überzeugt, Die Ärzte könnten im Grunde nach einer Reunion nur schlechter sein als früher. Er selber habe jedoch gesagt, man könne auch anders sein als früher.
Das Telefongespräch führte zu keiner eindeutigen Entscheidung, immerhin aber gab Bela B. seine vollkommen ablehnende Haltung so weit auf, dass er sagte, er würde über die Sache noch einmal nachdenken wollen. Die weiteren Ereignisse lassen sich wie folgt zusammenfassen: Farin Urlaub schrieb einen Haufen neuer Lieder und nahm Demos auf. Dann trafen die beiden Männer sich zu einem Gespräch unter vier Augen, das jedoch noch immer nicht alle Zweifel des Bela B. vollständig ausräumte. Schließlich spielte Farin Urlaub in einem letzten verzweifelten Überzeugungsversuch seine Demos vor. Darunter befanden sich laut der offiziellen Band-Biografie eine frühe Version des später auch veröffentlichten Liedes »Quark«, dazu »Mach die Augen zu« und schließlich »Wenn es Abend wird«, das in eine volkstümliche Melodie Themen wie Mord, Inzest, Alkoholmissbrauch und Ausländerfeindlichkeit verpackt. Ein Stück, das sehr deutlich machte, was Farin Urlaub meinte, als er sagte, Die Ärzte könnten auch anders sein als früher. »Wenn es Abend wird« war nicht weniger als ein kleiner Geniestreich, der allerdings bis heute außerhalb der Fangemeinde wenig bekannt und daher auch unterschätzt ist. Tatsächlich ist gerade dieses Lied einer der deutlichen Beweise für die Fähigkeit der beiden Berliner Musiker, brisante Themen auf äußerst intelligente Weise ohne den Vorschlaghammer in Text und Melodie zu verpacken. Es soll auch das Lied innerhalb des Demomaterials gewesen sein, das Bela B. zum ersten Mal wirklich aufhorchen ließ. Noch einmal ging man an diesem Tag allerdings auseinander, ohne zu wissen, wie und ob es weitergehen würde. Doch nun machte sich auch Bela B. an die Arbeit und begann, wieder neue Lieder zu schreiben. Man kam erneut zusammen und schrieb nun auch wieder gemeinsam an Musik. Alles in allem: Die Ärzte waren wieder da, zwar noch nicht in der Öffentlichkeit, aber als kreatives Team, das in genau dieser Konstellation schon immer funktioniert hat.
Ein Team allerdings, das eben nur aus zwei Köpfen bestand. Diese zwei Köpfe konnten zwar neue Lieder schreiben, für die Aufnahmen waren zwei jedoch eindeutig mindestens einer zu wenig. Traditionell waren Die Ärzte immer ein Trio mit einem Gitarristen, einem Schlagzeuger und...