Moral, christliche Freiheit und Verantwortung
1. August 1976
7. Sonntag nach Trinitatis
1. Korinther 6,9-14.18-20
Es ist manchmal ein sonderbares Gefühl, wenn wir aus dem Urlaub zurückkehren in die gewohnte Umgebung. Es kann passieren, dass uns manches gar nicht mehr so vertraut erscheint. Für einen Augenblick vielleicht nur, aber immerhin, kann uns ein Gefühl des Befremdens erfassen. Das geht meist schnell vorüber, und wir fühlen uns wieder ganz zu Hause. Aber dieser eine Augenblick des Befremdens birgt doch allerhand Möglichkeiten in sich. Wenn wir den richtig nutzen, dann können wir vielleicht die uns vertraute Umgebung, in der wir bisher wie selbstverständlich gelebt haben, die wir sozusagen immer nur von innen heraus gekannt haben, auch einmal von außen betrachten mit ein wenig Abstand, so, wie sie sonst nur Fremde sehen. Das ist dann vielleicht ein etwas kritischer Einblick. Manchmal kann uns das zu neuen Erkenntnissen über uns selbst und unsere Umgebung führen.
Wenn zum Beispiel diejenigen von uns, die mit beiden Beinen in der Kirche stehen, die Sonntag für Sonntag den Gottesdienst besuchen, die regelmäßig biblische Texte hören und lesen, beten und singen und sich regelmäßig mit theologischer Literatur befassen, wenn diejenigen von uns einmal für einige Wochen Urlaub von der Kirche machen, dann kann es sein, dass dieses ganze Kirchliche und Christliche uns bei der ersten Wiederbegegnung etwas fremdartig erscheint.
Dann bekommen wir vielleicht für einen Augenblick eine Ahnung davon, was Leute, die mit Kirche nichts im Sinn haben, empfinden, wenn sie mit Kirche und christlichem Glauben einmal in Berührung kommen.
Diese Perspektive von draußen, wenn wir die konservieren könnten, wäre das, meine ich, für uns durchaus ein Gewinn. Dann hätten wir in uns selbst sozusagen immer eine Kontrollinstanz uns selbst gegenüber, unser eigenen Kirchlichkeit, unserem Christsein gegenüber. Das wäre insofern ein Gewinn, als wir uns dann umso besser auf all diejenigen einstellen könnten, die der Kirche und dem christlichen Glauben fernstehen, und das ist eben doch die Mehrzahl unserer Mitmenschen. Die innere Distanz zu uns selbst, dieser selbstkritische Blick, wäre eine gute Voraussetzung für das Gespräch mit den anderen.
Warum diese lange Einleitung? Der heutige Predigttext im 1. Brief des Apostels Paulus an die Korinther im 6. Kapitel fordert dazu heraus. Denn über diesen Text werden Außenstehende vielleicht entsetzt den Kopf schütteln oder sich gehörig ärgern oder, und das wäre wohl noch schlimmer, mitleidig verständnisvoll sagen: „Ja, so ist das Christentum!“
Worum geht es in diesem Text? Paulus warnt die Gemeinde in Korinth davor, sich rechtlicher und moralischer Vergehen schuldig zu machen. Insbesondere warnt er vor, wie er es nennt, der Unzucht. Gerade diese Bemerkung wird viele, vielleicht auch manchen unter uns, zum Zorn reizen.
Die, wenn ich so sagen darf, schlimmste Reaktion auf diesen Text wäre wohl die etwas mitleidig verständnisvolle, in dem Sinne etwa, dass einer sagt: Ja, so ist das Christentum: Es soll uns Sitte und Anstand lehren, lehren, was gut und böse ist, was wir tun und was wir nicht tun dürfen.
Aber das ist ganz und gar nicht das Wesen des christlichen Glaubens. Christlicher Glaube ist keine Morallehre. Ganz im Gegenteil, er ist eine Befreiung von den Zwängen der Moral. Jesus Christus ist gerade gekommen, um uns von der Zwangsvorstellung zu befreien, wir müssten die ganze Seligkeit unseres Lebens darin suchen, ein moralisch einwandfreies Leben zu führen.
Schuldig werden wir immer wieder, jeden Tag neu und vielfältig. Jesus Christus ist nicht gekommen, uns mit drohend erhobenem Zeigefinger zu Sitte und Anstand zu ermahnen. Er hätte uns damit zugrunde gerichtet. Nein, er wollte uns gerade dazu verhelfen, unsere unauslöschliche Schuldhaftigkeit einzugestehen.
Er verhilft uns dazu, indem er die Vergebung Gottes anbietet. Christlicher Glaube ist also nicht schon da verwirklicht, wo einer nach moralischen Grundsätzen lebt. Christlicher Glaube, das ist Eingeständnis der Schuld und Leben aus der Vergebung.
„Nicht um der Gerechten willen, sondern um der Sünder willen“ ist Jesus Christus gekommen. Weil wir das wissen, klingt es auch zunächst für uns etwas schockierend, wenn Paulus sagt: „Wer Unrecht tut, wird Gottes Reich nicht erben.“ Denn wir tun ja Unrecht! Und wir werden es trotz aller Anstrengungen auch morgen noch tun. Und manch einer von uns wird sich zu der einen oder anderen Gruppe von Sündern zählen können, die Paulus hier aufführt: zu den Unzüchtigen, Götzendienern, Ehebrechern, Lüstlingen, Knabenschändern, Dieben, Wucherern, Trunkenbolden, Lästerern und Räubern.
Auch die Christen in der Gemeinde von Korinth waren in der einen oder anderen Weise schuldig geworden. Paulus sagt: „Aber das ist von euch abgewaschen. Ihr seid heilig, ihr seid gerecht geworden durch den Namen unseres Herrn Jesus Christus und den Geist unseres Gottes.“
„Ihr seid heilig, ihr seid gerecht geworden“ – soll das nun heißen: Seit diese Korinther Christen geworden sind, seit der Taufe also, führen sie ein moralisch einwandfreies Leben, sind sie gegen alle Anfechtungen gefeit? Nein, „ihr seid heilig, ihr seid gerecht geworden“, heißt nicht: Ihr habt es nun geschafft, ein makelloses Leben zu führen. Es bedeutet vielmehr: „Alle eure Vergehen werden euch nicht zugerechnet. Sie sind euch bereits im voraus vergeben, weil Gott euch die Tür zum unbeschwerten, fröhlichen Leben immer offenhalten möchte.“
Wenn wir mit Paulus so weit einig sind, bleibt noch der schwerste Brocken, die Sache mit der, wie Paulus sagt, Unzucht. Es mag ja für jeden leicht einzusehen sein, dass ein Dieb oder ein Buchhalter oder ein Räuber sich eines echten strafwürdigen Vergehens schuldig gemacht hat. Aber im Bereich des Sexuellen sind wir heute nicht mehr so leicht bereit, von Vergehen zu sprechen. Ein so abwertender Begriff wie Unzucht passt nicht mehr zu den positiven und freizügigen Einstellungen zur Sexualität, an die wir uns inzwischen schon gewöhnt haben.
Sollen wir diese Abschnitte im Korintherbrief also einfach als veraltet und überholt streichen? Nun, zunächst müssen wir uns näher ansehen, was Paulus geschrieben und gemeint hat. Es geht ihm im Wesentlichen um einen Gedanken – er ist in diesem Satz zusammengefasst: „Euer Leib ist ein Tempel des Heiligen Geistes, der in euch wohnt. Gott hat ihn euch gegeben. Ihr gehört nicht euch selbst.“
„Ihr gehört nicht euch selbst“, vielleicht ist Ihnen bei diesem Satz schon das Schlagwort eingefallen, dass im Rahmen der Diskussion um den § 218 umgegangen ist: „Mein Bauch gehört mir!“ In diesem Schlagwort äußert sich eine Einstellung, die der des Paulus genau entgegengesetzt ist.
Also: Ist unser Körper nun unser Eigentum, mit dem wir nach Belieben verfahren können, oder ist er es nicht? Die Antwort auf diese Frage lässt sich nicht allgemein verbindlich, in einem wissenschaftlich objektiven Sinne etwa, geben. Sie hängt von meiner persönlichen Einstellung ab, von meinem Glauben.
Als Christen verstehen wir uns, mit unserem Körper, mit unserem ganzen Dasein so, wie es Paulus hier formuliert hat, als Geschöpfe Gottes, in denen Gott selbst gegenwärtig ist. Wir sind durch Gott geschaffen und Gott wohnt in uns. Das führt uns zu einem ungeheuren Respekt vor uns selbst und vor jedem anderen Menschen. Unserem Körper gegenüber gebrauchen wir nicht die völlig ungebundene, gänzlich willkürliche Freiheit unseres eigenen Gutdünkens, sondern wir behandeln unseren Körper und den jedes anderen Menschen als etwas Heiliges, nämlich Gott Zugehöriges, das uns zum größtem Respekt verpflichtet.
Selbst wenn wir uns in diesem Punkt mit Paulus einig wissen, bleibt die Frage, warum Paulus das Sexuelle so negativ beurteilt. Warum lässt es sich mit der Heiligkeit unseres Körpers seiner Meinung nach nicht vereinbaren? Paulus sagt an der einen Stelle: „Unser Leib ist nicht für die Unzucht da, sondern für den Herrn.“ Er sieht also die Gefahr, dass derjenige der sich seinen sexuellen Trieben überlässt, nicht gleichzeitig auch ganz für Christus da sein kann. Beide üben eine Herrschaft aus, und nur einem können wir dienen. Die meisten von uns werden aus eigener Erfahrung die Macht des Sexuellen kennen. Aber wiederum die Frage: Inwiefern steht sie im Gegensatz zu Jesus Christus? Nun, insofern als sie unseren zwischenmenschlichen Beziehungen Schaden zufügen kann und zufügt. Wir brauchen nur an den Ehebruch zu denken, um uns vorstellen zu können, welches seelische Leid diese Macht auslösen kann.
Sie kann da eine zerstörerische Kraft haben, wo sie rücksichtslos auf die eigene Befriedigung ausgerichtet ist. Paulus hat in der Macht des Sexuellen eine Gefahr für die menschliche Gemeinschaft gesehen. Wenn sich Menschen ihr überlassen, werden sie leiden und Leid verursachen. Er sagt deshalb an anderer Stelle: „Um Unzucht zu vermeiden,...