Vorwort
von Robert Thurman
Der Shakya-Mönch Tenzin Gyatso, der Große Vierzehnte Dalai Lama von Tibet, kommt mir so vor, als sei er genau das, was Shakyamuni Buddha selbst wäre, falls dieses vermutlich schon lange verstorbene Buddha-Wesen in diesem Augenblick seiner Geschichte wieder auf diesem Planeten in seinem eigenen Buddha-Land namens Sah („das Erträgliche“) in einer Emanation auftreten würde. Das heißt, der Dalai Lama verfügt über die volle Weisheit bezüglich der Wirklichkeiten, mit denen er sich beschäftigt. Er ist unermüdlich mitfühlend mit allen uns leidenden Wesen, die gegen die anscheinend unbezähmbaren Kräfte des Egoismus und der Selbstsucht ankämpfen, welche den bewohnbaren Lebensraum auf diesem Planeten zerstören; und er ist makellos kompetent in seinen Gedanken, Worten und physischen Taten, da er angetrieben ist von der spontanen und hochkomplizierten Kunst, die die Wesen in die Möglichkeit ihrer eigenen Befreiung vom Leiden einführt.
Was von Tsongkhapa (1357–1419), dem geliebten Lehrer von Gendun Drubpa (1391–1474) – der ersten formell (wenn auch im Rückblick) anerkannten Inkarnation des Dalai Lama in Tibet – gesagt wurde, das gilt auch von unserem Dalai Lama Tenzin Gyatso:
Du bist Avalokiteshvara, der große Schatz bedingungsloser Liebe, Mañju hr gho ha, Prinz der makellosen intuitiven Erkenntnis, und Vajrapa i, mystischer Herr, Eroberer der Schar der Dämonen – o Tsongkhapa, Kronjuwel der erleuchteten Weisen des Schneelands, ich verbeuge mich tief zu deinen Füßen, ruhmreicher gutherziger Losang Drakpa!
Wiederum habe ich die Ehre und bin erfreut, eine ganze Anzahl von äußerst nützlichen, prägnanten Lehren des guten Freunds von uns allen, Seiner Heiligkeit des Dalai Lama, kunstfertig gesammelt und aufgereiht von Dr. Renuka Singh, willkommen zu heißen. Das beste Inbild des „Guru“ in der indischen und tibetischen Tradition ist genau der „gute Freund“ (auf Sanskrit kalya_namitra; tibetisch geway shenyen oder Geshey), mit dem die Tatsache hervorgehoben wird, dass wir uns mithilfe von kundigen und tugendhaften Freunden vom Leiden erretten müssen, statt nur nach göttlichen oder menschlichen Autoritäten Ausschau zu halten, die uns retten könnten.
Die schlechte Nachricht für uns zaghafte Sucher nach Zuflucht ist, dass uns kein göttliches oder menschliches Wesen, so groß und mächtig es auch sein mag, aus den anscheinend endlosen Leiden zu erretten vermag, die uns ständig aufgebürdet werden, und zwar wegen unseres falschen Verständnisses unserer Beziehung zu einem scheinbar fremden Universum. Die gute Nachricht – die wirklich gute – ist, dass wir bereits anfangslos von der segensreichen Freiheit einer letzten Wirklichkeit umfasst sind, die mit ihrer alles erhaltenden Energie von grenzenloser Fülle ist. So haben wir tatsächlich die Möglichkeit und Fähigkeit, uns von unserem falschen Verständnis dieser Wirklichkeit zu befreien, das die Ursache dafür ist, dass wir uns fürchten und kämpfen und uns von ihren Segnungen ausschließen – und das kann uns mit der Hilfe der guten Freunde (erleuchteter Wesen) gelingen, die bereits zumindest ein Stück weit ihr eigenes falsches Verständnis und ihre Angst in Weisheit und Liebe umgewandelt haben.
Aus den guten uns heute umgebenden Freunden ragt der brillante, gutherzige und kompetente Dalai Lama hervor, als außergewöhnlich effizient mit seiner Meisterschaft in der Kunst, uns die Augen zu öffnen, unsere Einsicht zu erweitern und unsere Herzen mit der Energie dafür zu erfüllen, unsere verworrenen Vorstellungen zu durchschauen, zu entdecken, was offensichtlich in Schönheit vor uns leuchtet, und uns aufstehen zu helfen aus unseren deprimierten und bitteren Gedanken der Unzufriedenheit mit uns selbst und unserer Hoffnungslosigkeit, wir könnten mit anderen nicht auf die gütigen und liebevollen Weisen in Beziehung treten, die uns erleichtern würden. Er selbst ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie fröhlich der Mensch sein kann, und das sogar in großer Widrigkeit, denn er war ja unaufhörlich seitens mächtiger Feinde extremer Misshandlung ausgesetzt, von der man annehmen müsste, dass man davon traumatisiert, mit Wut erfüllt, von Angst geplagt und bar aller Hoffnung sein müsste. Aber sein Geheimnis lautet:
Für Buddhisten ist das Nirvana, der wahre Zustand des Aufhörens alles Leidens, die eigentliche Zuflucht. Es ist unser undisziplinierter Geisteszustand, der unser Leiden verursacht. Wenn wir die Ursachen des Leidens ausmerzen können, erreichen wir den Zustand der Befreiung oder des Nirvana oder ein wahres und andauerndes Glücklichsein, eine wahre Harmonie.
Der Mensch wird „Buddhist“, indem er „Zuflucht nimmt“. Aber aus Hochachtung gegenüber anderen Religionen ist der Dalai Lama nicht auf Konvertiten aus, er drängt also niemanden, Buddhist zu werden. Doch in diesem kurzen Spruch aus dem Werk weiter unten, der ausdrücklich „für Buddhisten“ gedacht ist, und der besagt, man solle andere nicht mit Macht unter Druck setzen, verrät er, warum er glücklich bleibt, ganz gleich, mit wie vielen Schwierigkeiten er und sein Volk leben müssen. Er hat sich an die Entdeckung der Lehre des Buddha gehalten und herausgefunden, dass unsere Wirklichkeit selbst ja der „Zustand“ des Nirvana ist, der Freiheit vom Leiden und des wahren Glücks – das „anhaltend“ insofern ist, als es sogar über Schmerz und Tod hinausgeht. So finden wir einfach dadurch, dass wir unseren Geist ändern, die Realität erkunden und deren wahre Natur entdecken, die echte Zuflucht vor dem Leiden. Dazu brauchen wir gar nicht „Buddhisten werden“!
Beim Gedanken an diesen kleinen Spruch kommt mir in den Sinn, wo ich meine kürzeste Antwort auf die häufige Frage „Was ist Buddhismus?“ gelernt habe. Ich sage jetzt immer bloß: „Buddhismus ist schlicht und einfach Realismus!“ Denn was Buddha aufging, hatte nichts mit einer religiösen Glaubensüberzeugung zu tun, sondern er entdeckte einfach die Tatsache, dass wir desto glücklicher werden, je realistischer wir sind. Manche Menschen sagen: „Nichtwissen macht glücklich“, weil sie der Auffassung sind, dass die Realität erschreckend und letztlich entsetzlich sei. Buddha und der Dalai Lama sagen: „Die Realität ist Glück, und deshalb verursacht Nichtwissen Leiden; Wissen besiegt das Nichtwissen, und so ist tatsächlich Weisheit Glück!“
Wenn man die scheinbar einfachen Aussprüche, die Dr. Renuka Singh zusammengestellt hat, eine Zeit lang mit einem gewissen Maß an Konzentration auf sich wirken lässt, erschließen sie eine solche Sinntiefe, dass sie Weisheit aufblitzen lassen und damit Ihr Glücklichsein steigern.
Die dieses Werk abschließende Kostbarkeit sind die drei Grundsätze des Wegs: entsagende Transzendenz – ein sicherer Ausdruck des Mitgefühls mit sich selbst, wobei man sich vom Zwang des Gefühls löst, man müsse eine Fülle von Beziehungen, Reichtum, Ruhm, Erfolg usw. anhäufen, und sich deshalb auf den Zweck des Lebens konzentrieren kann; ein allumfassendes Mitgefühl mit anderen – indem man sein Empfinden, mit anderen identisch zu sein, ausweitet und schließlich alle umfasst, und dabei das Elend der Beschäftigung mit sich selbst gegen die Freude eintauscht, anderen mit liebevoller Hingabe zugetan zu sein; und – das wichtigste von allem – die Quelle einer solchen Liebe: realistische Weisheit, die mangelhafte Kenntnis durchschaut und die glückliche Realität der Dinge erkennt, sowie die mutige und positive Einstellung, die sie fördert.
Alles in allem sind also die drei Grundsätze die folgenden: erstens die echte Liebe seiner selbst, indem man sich von allem Müll und allen Ablenkungen frei macht und darauf konzentriert, seinen Zweck als Mensch zu finden, indem man sich vom Leiden befreit; zweitens die echte Liebe zu anderen, die einem ganz natürlich aus dem Herzen heraus überquillt, wenn man die Erleichterung empfindet, einen transzendenten Zweck zu finden und sich recht scharf dessen bewusst zu werden, wie dringend die meisten anderen Menschen diese Art von echter Erleichterung brauchen, genau wie das bei einem selbst der Fall war; und schließlich die Entdeckung der Quelle aller Liebe in der Realität selbst, wie sie sich in irrtumsfreien kritischen Blicken auf die transzendierende Weisheit offenbart, welche irreführende mentale Gewohnheiten bezüglich des Selbst und der Welt durchschaut und zu jener glückseligen Freiheit durchbricht, die jene Realität ist, die man als diejenige erkennt, die schon immer für einen, in einem und in allen anderen dagewesen ist.
Was Sie, liebe Leserinnen und Leser, also in diesem kleinen Buch vor sich haben, ist nicht weniger als ein Rezept zur Besserung Ihres Lebens entweder auf ganz bescheidene Weise oder auch auf weitreichende Weisen. Von Tsongkhapa selbst stammt der denkwürdige Spruch: „Von allen Taten des Buddha ist die Tat der Rede die höchste!“ So mag der „Mystiker“ unter manchen Umständen zuweilen im Schweigen verharren, gewöhnlich aus Sorge, jemand könne ihn oder sie falsch verstehen, aber dennoch sind Worte von vitaler Bedeutung dafür, die Tür in Richtung jener tiefen Wirklichkeit zu öffnen, die immer verlässlich ist und durch Erfahrung entdeckt werden kann, bei der man begleitet wird, aber jenseits aller Worte. Deswegen lade ich Sie dazu ein, dieses Buch aufzuschlagen und daraus die Stimme des Dalai Lama zu hören, seine Worte kontemplativ zu erwägen und seine Weisheit und Fürsorge sowie seinen Humor Tag für Tag zu genießen.
Robert A. F. Thurman
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