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E-Book

Berühre die Wunden

Über Leid, Vertrauen und die Kunst der Verwandlung

AutorProf. Tomás Halík
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783451814501
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Zum christlichen Glauben gehört der Mut, die Wunden unserer Welt wahrzunehmen und sie mit dem Glauben zu berühren. Denn wir begegnen Gott überall dort, wo Menschen leiden. Und auch wenn jemand Christus nicht im traditionellen kirchlichen Umfeld finden kann, ist für ihn noch immer die Möglichkeit gegeben, ihm in den offenen Wunden unserer Welt zu begegnen. In 14 Essays zeigt Tomá? Halík, dass sich ein Glaube 'ohne Wunden' als Illusion erweist. 'Das Buch ist eine vom Alltag gesättigte Meditation.' forum

Tomá? Halík, geb. 1948, wurde während des kommunistischen Regimes in der Tschechoslowakei heimlich zum Priester geweiht und war Mitarbeiter von Kardinal Tomá?ek und Václav Havel. Er ist Professor und Universitätsseelsorger an der Karlsuniversität Prag sowie Ehrendoktor der Universitäten Erfurt und Oxford. Halík erhielt mehrere internationale Preise wie den Romano-Guardini-Preis (2010) oder den Templeton-Preis (2014). Seine Bücher wurden in 18 Sprachen übersetzt.

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Leseprobe

1. Das Tor der Verwundeten


Thomas aber, einer von den Zwölf, Zwilling genannt, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. Die anderen Jünger sagten zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er entgegnete ihnen: Wenn ich nicht an seinen Händen das Mal der Nägel sehe und meinen Finger in das Mal der Nägel lege und meine Hand in seine Seite lege, glaube ich nicht.

Nach acht Tagen waren seine Jünger wieder versammelt und Thomas war bei ihnen. Da kam Jesus bei verschlossenen Türen, trat in ihre Mitte und sagte: Friede sei mit euch! Dann sagte er zu Thomas: Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände an und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! Thomas antwortete ihm: Mein Herr und mein Gott! Jesus sagte zu ihm: Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig, die nicht sehen und doch glauben.

(Johannes 20, 24 –29)

Ich las dieses Evangelium zu Ende und ging vom Ambo wieder zurück, um mich auf meinen Platz zu setzen. Es war früh am Morgen und in der Kathedrale von Madras war es halbdunkel, still und fast leer. Indien lag vor mir wie ein bunter Blumenteppich, der mit vielen heiligen Orten durchwebt ist – ich befand mich auf dem Weg nach Bodhgaya, dem Schauplatz der Erleuchtung Buddhas, nach Sarnat, wo der Erleuchtete seine erste Ansprache zu seinen Schülern hielt, nach Varanasi am Ufer des Ganges, dem heiligsten Wallfahrtsziel der Hindus, nach Mathura, dem Geburtsort Krishnas –, hier jedoch in Madras, im Herzen des hiesigen Christentums, wo seit jeher das Grab des Apostels Thomas, des Patrons Indiens, verehrt wird, fühlte ich mich für einen Moment wirklich wie zu Hause – auch dank des vertrauten Textes.

Den vorgetragenen Abschnitt aus dem Evangelium des heiligen Johannes habe ich in diesem Moment noch so wahrgenommen, wie ich ihn zuvor jedes Mal wahrgenommen hatte und wie er gewöhnlich ausgelegt wird: Jesus hat durch seine Erscheinung den skeptischen Apostel von allen Zweifeln an der Realität seiner Auferstehung befreit; aus »dem ungläubigen Thomas« wurde mit einem Male der gläubige. Ich habe in diesem Moment noch nicht geahnt, dass der Text sich mir aufgrund eines Ereignisses nochmals öffnen und mich noch ganz anders und tiefer ansprechen würde – und dass er mir, bis sich der Tag neigte, sogar das größte Geheimnis des christlichen Glaubens in einem neuen Licht zeigen würde: die Auferstehung Jesu und seine Göttlichkeit. Und mehr noch: Diese neue Sichtweise führte mich allmählich auf einen bestimmten Weg der Spiritualität, von dem ich bis dahin nichts gewusst hatte. Sie zeigte mir »das Tor für den ungläubigen Thomas« – das Tor der Verwundeten.

Der christliche Glaube besteht darin, das Evangelium und unser Leben ständig in Beziehung zu setzen; er besteht in dem Mut, »sich in diese Geschichte hineinzubegeben«. Es gilt, den Sinn der biblischen Erzählungen aufgrund der eigenen Lebenserfahrungen immer neu und tiefer entdecken zu suchen und die mächtigen Bilder des Evangeliums wirken zu lassen, damit sie allmählich den Fluss unseres eigenen Lebens beleuchten, auslegen und verwandeln.

Viele Ereignisse, Erlebnisse, Ideen und Einsichten des Augenblicks brauchen ihre Zeit, um in uns zu reifen und Frucht zu bringen. Zwölf Jahre waren seit meiner Wallfahrt nach Indien vergangen. Ich sitze in diesem Moment wieder in der Stille und Einsamkeit der Waldeinsiedelei im Rheinland; nach einem nächtlichen Sturm ist der ganze Berggipfel mit einem dichten Nebelschleier bedeckt, durch den sich nur langsam und mit Mühe die ersten Morgenstrahlen durchkämpfen; tiefhängende Wolken bedecken das Tal ringsherum. Mitten in der Wolke also beginne ich dieses Buch zu schreiben, einen weiteren Versuch, »Rechenschaft über meine Hoffnung abzulegen«1.

***

»Gott ist tot – wir haben ihn getötet, ihr und ich!« Wie oft habe ich schon dieses Schicksalsverdikt Nietzsches aus der »Fröhlichen Wissenschaft« zitiert, in dem »der Narr« (dem es als Einzigen erlaubt ist, unangenehme Wahrheiten auszusprechen) denen, die an Gott nicht glaubten, seine Diagnose der Welt verkündet; er gibt der Welt bekannt, dass sie die Basis ihrer bisherigen metaphysischen und moralischen Sicherheiten verloren hat.2 In einem anderen Buch Nietzsches kann man jedoch auch eine weniger bekannte und weniger zitierte Passage finden, die Schilderung des Todes der alten Götter: Als sich der Gott der Juden zum einzigen Gott erklärte, brachen angeblich alle Götter über diese anmaßende Torheit in ein so höhnisches Gelächter aus, dass sie sich zu Tode lachten.3

»Die Religion kehrt zurück« – hören wir heute oft aus allen Ecken unserer Welt. Die Meinungen unterscheiden sich nur darin, ob dies gut oder schlecht ist – und vielleicht auch darin, woher und wer oder was eigentlich zurückkehrt. Kehrt der einzige Gott zurück, »der Gott Abrahams, Isaaks, Jakobs und Jesu«, an den Juden, Christen und Muslime glauben, oder eher der »Gott der Philosophen«, das höchste Wesen – die Entdeckung der Aufklärer, der Schmuck der politischen Proklamationen und Präambeln der Verfassungen? Kommt ein Gott zurück, der auf die ausgetrockneten menschlichen Herzen still antworten kann und ihre Wunden heilt, oder ein Gott des Krieges und der Rache, der im Gegensatz dazu Wunden schlägt? Oder sollen wir uns auf die neue Ankunft der alten, kichernden, sarkastischen Götzen freuen?

Über den heiligen Martin wird erzählt, dass ihm der Satan einmal sogar in der Gestalt Christi erschienen ist. Der Heilige ließ sich jedoch nicht täuschen. »Wo hast du deine Wunden?«, fragte er.

Bei aller geistigen Offenheit bekenne ich mich nicht zur gefälligen »grenzenlosen Toleranz«, die eher ein Ausdruck von Gleichgültigkeit und geistiger Faulheit ist, wenn sie auf die Mühe einer sorgfältigen »Scheidung der Geister« verzichtet. Denn ist es nicht naiv und gefährlich, nicht wahrzunehmen, dass auch destruktive »Gottesbilder« existieren und dass auch in den ehrwürdigsten Traditionen Symbole, Aussagen und Geschichten schlummern, die leicht in Waffen anstatt in Pflugscharen umgeschmiedet werden können? Die Religionen haben wie alles, was im Leben groß und existenziell ist, ihre Risiken und Gefahren. Mit dem Apostel Thomas und dem heiligen Martin fordere ich deshalb von allen, die sich nach dem »Tod Gottes« oder nach dem Kollaps der ironischen Götzen um den verwaisten Thron bewerben: »Zeigt zuerst eure Wunden!« Ich glaube nämlich nicht mehr an »unverwundete Religionen«.

***

Ja, seit Jahren bemühe ich mich darum, die unterschiedlichsten religiösen Wege mit Wertschätzung und Offenheit zu studieren. Ich durchschritt ein Stück der Welt, und das, was ich sehen und kennenlernen konnte, erlaubt mir nicht, in der einfachen Logik des »Entweder-Oder« zu verharren (wenn zwei Menschen verschiedener Meinung sind, muss sich zumindest einer täuschen). Mir ist bewusst, dass wenn jemand etwas anderes als ich sagt und denkt, dies schlicht daran liegen kann, dass er von einem anderen Standpunkt, einer anderen Perspektive, einer anderen Tradition oder einer anderen Erfahrung her schaut; dass er sich in einer anderen »Sprache« ausdrückt – dass also die Verschiedenheit unserer Sichtweisen und Aussagen weder meinen noch seinen Anspruch auf die Wahrheit widerlegen muss; genauso wenig wie diese Verschiedenheit seine oder meine Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit in Frage stellen muss. Gleichzeitig ist mir bewusst, dass diese Erkenntnis nicht zu einem bequemen, resignierenden Relativismus führen muss (»jeder hat seine Wahrheit«), sondern eher zu dem Bemühen, durch das gegenseitige Gespräch und den Austausch von Erfahrungen die eigenen, stets notwendig begrenzten Horizonte zu erweitern und im Gespräch mit dem anderen auch sich selbst kennenzulernen.

Ich habe gelernt, viele verschiedene Pfade zu respektieren, auf denen Menschen zum letzten Geheimnis des Lebens vorzudringen versuchen. Ich glaube, dass jenes »äußerste Geheimnis« alle Vorstellungen und Namen unendlich übersteigt, die wir Menschen damit verbinden. Ja, ich glaube an den einen Gott, den Vater aller Menschen, auf den weder ein einzelner Mensch noch eine der »religiösen Institutionen« oder ihre Repräsentanten ein »Monopol« hat; ich bin zuversichtlich, dass Er die endgültige Mündung auch der verschlungensten Flüsse ist, dass zu ihm schließlich (über alle Grenzen der verschiedenen religiösen Systeme und Kulturen hinweg) die Wege aller ausgerichtet sind, die geführt vom Licht ihrer Traditionen, ihrer Sehnsucht nach der Wahrheit, ihres Gewissens und ihrer Erkenntnis aufrichtig das letzte Geheimnis des Lebens suchen und es achten.

Ich bin weder der Allwissende noch der Allsehende – mir steht es deshalb nicht zu, definitive und unfehlbare Urteile über andere und ihren persönlichen Glauben zu fällen, weil ich nicht in ihre Herzen sehen kann und auch nicht ihr letztes Ende und das Ziel ihrer Pilgerschaft erblicke. Niemand kann mir aber die Hoffnung nehmen, dass »der Gott der anderen« letztendlich »mein Gott« ist; denn der Gott, an den ich glaube, ist auch der Gott derer, die nicht den Namen kennen, mit dem ich ihn rufe.

Im selben Atemzug füge ich jedoch hinzu und bekenne: Für mich gibt es keinen anderen Weg, kein anderes Tor zu Ihm, als dasjenige, das von einer verwundeten Hand und einem durchstochenen Herz geöffnet wird. Ich kann nicht »mein Herr und mein Gott« rufen, wenn ich nicht die Wunde sehe, die bis ins Herz trifft. Wenn »credere« (glauben) von »cor dare« (das Herz geben) abgeleitet ist, dann muss ich bekennen, dass mein Herz und mein Glaube...

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