1. Familie
Dem Elend des Alters bin ich in Miami Beach begegnet. Auf einer meiner Reisen nach Nicaragua, Ende der achtziger Jahre, musste ich dort übernachten, weil erst am nächsten Tag wieder ein Flugzeug nach Managua ging. Ich wollte nicht im Flughafenhotel bleiben und fuhr in die Stadt. Was ich zu sehen bekam, war – ergraut. Alte Menschen, die am Strand lagen und auf den Abend warteten. Alte Menschen in den Shopping-Malls. Und Alte an den Highways, die auf Campingstühlen saßen und nichts weiter taten, als den vorüberfahrenden Autos hinterherzustarren, Stunde um Stunde, bis zur nächsten Mahlzeit.
In einem der Restaurants am Strand, in dem ich zu Abend aß, saßen ein paar alte Damen am Nachbartisch. Sie sprachen deutsch miteinander, und nach einer Weile stellte ich mich vor. Mit welcher Begeisterung sie mich aufnahmen – endlich jemand Neues, mit dem sie in ihrer Muttersprache reden konnten! Es waren deutsche Jüdinnen, die vor den Nationalsozialisten geflohen waren, sich durchgebissen hatten, in den Dreißiger-Jahre-Nöten der Vereinigten Staaten. Frauen, die einige Male so weit waren, nach Deutschland zurückzugehen, obwohl dort die Gaskammern waren. Die es dann doch nicht taten, sich in New York und in anderen Großstädten der Ostküste einrichteten, alt wurden, ihre Männer überlebten. Und die dann ihr gesamtes Geld investierten und sich in eines dieser unzähligen Rent-Hotels im Süden Floridas einkauften, sich endlich den erträumten Lebensabend im Süden gönnten. Wohnen im Hotel, Essen in der Lobby. Doch der Traum von Sonne, Strand und Meer erwies sich als tückisch. Tag für Tag am Licht – das macht die alte, empfindlich gewordene Haut nicht ewig mit. Tag für Tag in der Hotellobby – bald kennt man jedes Gesicht, jede Geschichte. Und dann, am Ende eines langen Lebens – Tag für Tag am Highway.
Diese Menschen in Miami Beach waren fit, konnten sich selbst versorgen, sie brauchten keine Pflege. Und dennoch führten sie in meinen Augen ein bedauernswertes Leben, ohne eine Struktur, ohne eine Rolle, die ihnen zugedacht war. Ein Leben, bei dem sie sich nicht einbringen, nicht ihre Geschichte erzählen, sich nicht verbünden konnten. Auf den ersten Blick erscheint dieser desolate Alltag der Alten in Miami wie ein Widerspruch. Im reichsten Land der Welt, in dem jeder sich selbst verwirklichen kann. In einer multikulturellen Gesellschaft, offen für jedermann. Und dann doch: einsam und allein zwischen Millionen. Früher habe ich die USA für das menschenfreundliche Gesicht des Kapitalismus gehalten. Heute denke ich, dass wir in »Old Europe« mit dem Schatz einer jahrhundertealten Kultur gewachsener Nachbarschaftsstrukturen der zusammengewürfelten amerikanischen Gesellschaft etwas voraushaben.
Diese Art von Lebensabend – Kommt nach Miami, hier werdet ihr entsorgt! – ist schrill, grotesk. In Miami wurde mir klar: Es verläuft ein dramatischer Riss durch die USamerikanische Gesellschaft, es gibt eine Segregation zwischen Alt und Jung. Eine Spaltung zwischen denen, die noch in der Mühle der Arbeit sind, und denen, die nicht mehr gebraucht werden. In diesen südstaatlichen Altenghettos schafft sich die Zivilgesellschaft ab, wird die Menschenwürde entsorgt.
Miami ist nicht Bremen, die Vereinigten Staaten sind nicht Europa. Noch leben wir hier stärker vernetzt. Und doch zeigt der Blick in unsere Ballungszentren: Auch hier droht die Segregation, die Spaltung der Gesellschaft, die Vereinzelung und die Auflösung von familiären und nachbarschaftlichen Bindungen. Auch hier kommt es vor, dass Tote erst nach Wochen gefunden werden, wenn der Verwesungsgeruch ins Treppenhaus steigt. Diesen Entwicklungen müssen wir entgegenwirken: Trostlosigkeit und Vereinsamung im Alter lassen sich nur vermeiden, wenn Jüngere und Ältere einen neuen Generationenvertrag schließen, sich neu aufeinander einlassen.
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Mit Miami begann meine Suche nach dem, was man Altersleben nennt. Wie gehe ich damit um, dass ich alt werde? Wie entgehe ich der Gefahr der Vereinsamung, der Langeweile? Wie will ich meine eigenen Angelegenheiten regeln?
Mit dem Altwerden ist es so eine Sache. Es spielt sich einfach so ab, nebenher. Bei mir zumindest gab es nie den Punkt, an dem ich dachte: Jetzt werde ich alt. Es gab aber einen Einschnitt, den Moment, als unsere jüngste Tochter auszog, an dem ich merkte, dass ein Lebensabschnitt zu Ende ging. Damals, Anfang der achtziger Jahre, wusste ich: Jetzt ist es passiert, jetzt bin ich in einer neuen Rolle, bin nicht mehr zusammen mit meiner Frau Luise dafür verantwortlich, dass es den Kindern Woche für Woche gut geht, sondern die sorgen jetzt für sich selbst. Ich konnte mich plötzlich nicht mehr über meine Kinder definieren. Natürlich waren sie nicht aus der Welt, sie kamen und kommen immer wieder zurück, inzwischen auch mit sechs Enkelkindern. Aber sie leben in sehr großer Selbständigkeit und in räumlicher Distanz.
Als unsere Kinder noch zu Hause lebten, führten wir ein inneres, ein privates Leben und ein äußeres, ein öffentliches. Darin, das innere vor dem äußeren Leben zu schützen, sah ich immer meine wichtigste Aufgabe. Als die Kinder aus dem Haus waren, verschmolzen beide Sphären – ich musste nun keine Rücksicht mehr nehmen, konnte nun als öffentliche Person relativ unbesorgt auch Teile meines Privatlebens preisgeben. Es ist wie in dem Gedicht von Rilke: Es hat sich ein neuer Ring um unser Leben gelegt. Wir sind auf eine neue Rolle in einem neuen Lebensabschnitt verwiesen.
Das eigentliche Altern, der körperliche und seelische Prozess, ist viel dezenter. Wer an einem Zaun entlanggeht, wird die einzelnen Latten kaum unterscheiden können – doch wer sich umblickt, erkennt, wie lang die Strecke ist, die hinter ihm liegt. Vielleicht muss man deswegen auch so aufpassen, dass man etwas aus seinem Alter macht, bevor es etwas aus einem macht.
Vor zehn oder fünfzehn Jahren war ich müder als jetzt, ich konnte nicht mehr so viel Neues aufnehmen. Das lag sicher auch an dem politischen Druck, der damals auf mir lastete: 1991 hatten wir in Bremen die Ampel-Regierung gebildet, ein mehr als fragiles Gebilde. Zu der Zeit war ich Senator für Bildung und Justiz. Wir Sozialdemokraten mussten ständig den Spagat zwischen Grünen und Liberalen machen. Damals habe ich mir immer wieder gesagt: Warum lässt du dir das gefallen? Du hast doch hier ein Mandat bekommen für konstruktive Arbeit, stattdessen wirst du in Schlachten hineingezogen, die gar nicht deine sind. Bundesweit kam der Frust im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung dazu. Wir haben damals fundamentale Fehler begangen, unter der rasanten Zerstörung des DDR-Wirtschaftssystems leiden wir noch heute. Und ich war mittendrin, hatte Verantwortung. Zu Beginn der neunziger Jahre habe ich überlegt: Wie komme ich hier raus? Aber der Abschied aus der Politik ist mir erst fünfzehn Jahre später gelungen.
In meinen letzten Berufsjahren wollte mich die Politik nicht loslassen – ich wollte schon. Während meine gesamte Generation bereits in Rente war, saß ich immer noch da und unterschrieb Pensionsurkunden für Leute, die jünger waren als ich. Das war grotesk. Doch die Wahlerfolge standen dagegen, mein CDU-Koalitionspartner und meine eigenen Leute von der SPD mussten das Gefühl bekommen, ich sei in den besten Jahren. Wieso eigentlich sollte ich – aus ihrer Sicht – aufhören wollen? Es gibt ja etliche Politiker – Helmut Kohl, Kurt Biedenkopf, Otto Schily –, die an ihren Sesseln klebten, die nicht ohne die »Droge Macht« können, wie es der Journalist Jürgen Leinemann beschreibt. Aber das war nicht mein Problem. Ich habe mich nie für unersetzlich gehalten. Im Gegenteil: Ich hatte Angst davor, den ewigen Regierungschef zu geben und durch einen Schlaganfall oder Herzinfarkt im Amt gefällt zu werden. Ich wollte noch Zeit und Kraft haben für ein Leben nach der Arbeit. Dreimal musste ich ansetzen, um aus dem Amt herauszukommen. Im Schatten der vorgezogenen Bundestagswahlen im Herbst 2005 habe ich in Bremen meinen Abgang vorbereitet. Mit 67 Jahren der Abgang in ein neues Leben!
Ich erlebe viele, auch Freunde, die Angst vor der Pension, vor dem Altwerden haben. Ich selbst kenne diese Angst nicht. Zumindest noch nicht. Das liegt an Verschiedenem: an der glücklichen Ehe, die meine Frau und ich nun schon seit 46 Jahren führen, an dem Glück, das wir mit unseren Kindern und Enkelkindern haben. Es liegt an dem Glück, das wir mit unserer Hausgemeinschaft haben, und es liegt an dem Glück, dass ich in diesem Stadtstaat lebe, an den überwiegend wohlwollenden und hilfsbereiten Leuten hier. Ich bin in Bremen geboren und aufgewachsen, und ich habe hier wie an keinem anderen Platz in der Welt Bindungen knüpfen können, die mich tragen.
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Im Grunde habe ich mir bis Ende vierzig nur begrenzt Gedanken über meinen eigenen Lebensabend gemacht. Ich wollte auf die Weise alt werden, auf die meine Großmutter alt geworden ist: in der Mitte der Familie, umgeben von Kindern und Enkelkindern. Sie kam in unser Haus, weil meine Mutter kurz nach ihrer Hochzeit schwer krank wurde. Mein Vater hatte sie gerade erst weggeschickt, hatte ihr gesagt: »Ich habe eine Frau geheiratet und nicht eine Schwiegermutter.« Aber da lag nun seine Frau im Krankenhaus mit einer schweren Gürtelrose. Und mein Vater, dessen Drogerie von den Nationalsozialisten boykottiert wurde, weil er in der Bekennenden Kirche war, war mit seinen drei kleinen Kindern aus erster Ehe allein. Seitdem ist meine Großmutter nie wieder aus unserem Haus in der Bremer Neustadt weggegangen. Sie hat erlebt, wie meine Mutter drei Kinder – mich und meine beiden jüngeren Brüder – bekommen hat. Sie hat erlebt, wie...