Wenn plötzlich alles anders ist
Manuela
Der Tag des ersten Workshop-Abends war endlich gekommen. Seit Wochen freute sich Manuela schon darauf. Auch wenn sie sich heute eingestehen musste, dass sie zunächst ein bisschen Kribbeln im Bauch gehabt hatte, sich überhaupt dazu anzumelden.
Nur M.U.T.
Neue Perspektiven entwickeln!
Wenn nicht jetzt, wann dann?
Der Titel in der Wochenendausgabe ihrer Tageszeitung hatte sie neugierig gemacht und zugleich aufgerüttelt. Da gab es eine Autorin, eine Coaching-Expertin, die einen interessanten Artikel geschrieben hatte über das „Ums-Eck-Denken“ und „Wachsen durch den Mut zur Veränderung“. Am Ende der Seite war ein Hinweis auf den M.U.T.-Workshop zu finden gewesen, zu dem man sich unkompliziert im Web oder per Telefon anmelden konnte. Einfach zum Telefonhörer greifen? Nein, dazu fehlte ihr für den ersten Schritt dann doch die Courage.
Erst mal in Ruhe googeln. Die Internetseite präsentierte zu ihrer Überraschung ein Coaching-Team. Das Angebot und die Referenzen hatten Manuela neugierig gemacht und ermutigt, sich zu dem Workshop heute Abend anzumelden.
„Wenn nicht jetzt – wann dann?“ Endlich würde sie ihre„M.U.T.-Coaches“, wie sie sie bereits insgeheim nannte, persönlich kennenlernen. In diesem schönen Haus direkt am Fluss, das sie gestern sicherheitshalber schon mal per Navi angesteuert hatte, um für den nächsten Tag genau zu wissen, wo ihr Ziel sein würde. Dort würde sie vielleicht Menschen treffen, die in einer ähnlich vertrackten Lage waren wie sie. Die nicht so recht weiterwussten. Die aber eines genau spürten: Dass es höchste Zeit war! Zeit zum Umdenken, Zeit für eine Veränderung.
Manuela sehnte sich nach Antworten und Lösungen. Nach Gleichgesinnten, mit denen sie sich in einem diskreten Rahmen austauschen konnte. Über die Sackgasse, in die sie plötzlich geraten war. Etwas, das sie bisher ausschließlich mit ihrer besten langjährigen Freundin Dagmar und mit Christoph, ihrem Ehemann, zu besprechen gewagt hatte.
Ihr Zusammenbruch vor acht Wochen war ein Warnschuss gewesen, als sie auf einmal nur noch Schwäche empfunden und alles sich nur noch in ihrem Kopf gedreht hatte. Ihr Hausarzt hatte sie für einige Wochen krank geschrieben.
Christoph, ihr Ehemann, zutiefst erschrocken, hatte ihr jede nur denkbare Unterstützung zugesichert.
Sie musste einfach raus: Raus dem Hamsterrad, raus aus der Bank mit dem repräsentativen Büro als Großkunden-Beraterin. Die zahlreichen gesellschaftlichen Verpflichtungen rund um Christophs Job, die Sport-Turniere ihres 13-jährigen Sohnes Mark mit den Ansprüchen an den stets verfügbaren ‚Hotel- und Taxi-Service Mama‘ waren Manuela schon lange zu viel geworden. Auch die Erwartungen ihrer Eltern und Schwiegereltern, die regelmäßig ihre Besuche einforderten.
Die Rettung war zunächst Dagmar gewesen, ihre beste Freundin aus Schülertagen. Spontan hatte diese die erholungsbedürftige Manuela zu sich eingeladen, damit sie sich bei ihr, 200 Kilometer abseits von allen Verpflichtungen, eine Auszeit gönnen konnte.
Die Gespräche mit Dagmar hatten die Erinnerung an kraftvolle Momente aus ihrer gemeinsamen Schulzeit geweckt und Manuela die Augen geöffnet. Sie war nicht mehr wirklich glücklich mit dem Leben, das sie führte.
Wann hatte sie sich das letzte Mal um sich selbst gekümmert? Nach so vielen Jahren des perfekten Funktionierens mit Job, Ehemann, Kind, Haus, Garten, tausend Verpflichtungen?
„Ich will hier raus!“, schrie plötzlich alles in ihr. Es war Manuela wie noch nie zuvor klar geworden, dass ihr jetziges Leben eine Sackgasse war. Dass sie einen Neuanfang suchte. Sie wollte zurückfinden zu ihrer alten Kraft. Manuela würde sich auf den Weg machen. Heute Abend war es so weit. Dieser M.U.T.-Workshop war der erste wichtige Schritt.
Eigentlich war es die quirlige Dagmar gewesen, die sie auf den Gedanken gebracht hatte, vielleicht mal etwas Neues zu wagen. Veränderungen? In diesem perfekt durchgetakteten Gefüge? Christoph war verwirrt – aber vor allem besorgt. Hauptsache sie würde wieder gesund, fröhlich und optimistisch werden – so wie früher. Statt bleich, ausgepowert und kraftlos – wie in den letzten Monaten.
Manuela ahnte, dass sie etwas Grundsätzliches ändern musste, vor allem an ihrem Berufsleben als Firmenkundenberaterin ‚ihrer Bank‘. Alles, was über viele Jahre hinweg nach außen so richtig schien, hatte sich tief in ihrem Innern längst nicht immer so angefühlt. Der Top-Karriereweg als Anlageberaterin hatte sich nach mehr als zehn Jahren als ausgefuchster, heimlicher Energieräuber entpuppt und als eine Falltür. Beinah ins Burn-Out.
Wenn Manuela noch daran dachte, wie entsetzlich es ihr noch vor Kurzem gegangen war, wurde ihr fast schon wieder schwindelig. Der plötzliche Zusammenbruch an diesem Mittwochmorgen um vier Uhr hatte sich bereits über viele Wochen hinweg ganz subtil angekündigt. Diese ewige Unruhe, diese Schlaflosigkeit. Manuela hatte sich lange Zeit eingeredet, dass mit vier Stunden Schlaf auszukommen für sie ‚normal‘ sei. Immer unter Strom. Effizienz war angesagt. Und Schnelligkeit, auch beim Schlafen und Ausruhen. Das Zauberwort hieß ‚Multitasking‘: Für die Bank, die Familie, die Freunde.
Herr Oswald, ihr Chef, schätzte vor allem ihr unermüdliches Engagement, mit dem sie sich um alles kümmerte. Als seinen ‚Stern am Anlage-Himmel‘ hatte er sie bei der letzten Beförderung vor den Kollegen gelobt, was Manuela ein bisschen peinlich gewesen war.
Wie hatte es nur so weit kommen können? Manuela war früher stets der erklärte Augenstern ihrer Eltern gewesen: Unkompliziert, fröhlich und seit dem ersten Schultag bis zum Abitur stets eine gute Schülerin, wenn auch in keinem Fach herausragend spitzenbegabt.
Ganz anders als ihre experimentierfreudige, temperamentvolle Schulfreundin Dagmar. Gemeinsam mit ihr hatte sie in der Oberstufe die Schülerzeitung ‚Gegen den Strom‘ gegründet und damit für Furore gesorgt. Dagmar war von Anfang an begeistert gewesen von Manuelas toller Schreibe, mit der sie für viel Aufsehen nicht nur bei den Mitschülern, sondern auch bei den Lehrern gesorgt hatte. In der Phase kurz vor dem Schulabschluss, als Manuela noch so gar nicht recht wusste, was sie beruflich machen wollte, hatte Dagmar versucht, sie zu motivieren, sich für Germanistik oder Journalistik an der Uni einzuschreiben. Aber so ganz allein? Möglichst noch in einer fremden Stadt, in die die damalige ‚Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen‘ sie eventuell katapultiert hätte? Niemals hätte Manuela sich dies im Alter von 19 alleine getraut. Nicht ohne eine so mitreißende Freundin wie Dagmar an ihrer Seite. Die hingegen hatte sich bereits zielsicher für ein Auslandsstudium beworben. Dafür fehlte Manuela keineswegs die Begabung, sondern schlichtweg das Selbstvertrauen.
So war sie ihrem Vater letztendlich beinah dankbar gewesen, der aus seiner – sicher gut gemeinten – Perspektive ihren Weg als Bankerin nach dem Abitur klar vorgezeichnet sah. „Eine tolle Chance, mein Mädchen! Studieren kannst du nach der Ausbildung immer noch. Probier das Ganze doch erst mal aus!“ Selbstverständlich war es bei ihren guten Noten und den Geschäftskontakten ihres Vaters ein Leichtes gewesen, einen Ausbildungsplatz bei einer renommierten Großbank zu finden.
So war Manuela eben reingerutscht in eine klassische Banker-Karriere. Sie war damals glücklich gewesen, dass alle so stolz auf sie waren und nun mit ihrem Weg alles ‚in trockenen Tüchern‘ schien. Auch die Schulfreundinnen schienen ein wenig zu bewundern, dass sie einen dieser begehrten ‚sicheren‘ Arbeitsplätze bei dieser Bank ergattert hatte.
Das Ganze hatte sich ja auch vielversprechend entwickelt. Richtig leicht gefallen war ihr der Bankjob jedoch von Anfang an nicht. Sie hatte sich ihre guten Leistungen durch ihre Zähigkeit und Zielstrebigkeit stets hart erarbeitet. Wegen ihrer guten Ergebnisse war Herr Oswald, ihr Chef, letztendlich auf sie aufmerksam geworden und hatte sie in die Förderlaufbahn seiner Firmenkundenberater aufgenommen. An ein Studium dachte plötzlich niemand mehr. Die Kundenberater-Karriere von Manuela lief stetig in Richtung Führungsetage.
Wenn sie ehrlich war, hatte es sie täglich ein gehöriges Maß an Anstrengung gekostet, allem gerecht zu werden. Den Produktprofilen, den Zielerreichungsvorgaben, den Teamsitzungen und der Personalführung: Herausforderungen, die sich über die Jahre hinweg mehr und mehr häuften.
Manuela runzelte plötzlich selbstkritisch die Stirn. Sie war da so reingestolpert. In einen Weg, der – ehrlich betrachtet – gar nicht ihr eigener war. In...