Pepi Onkel – Ein bewegtes Leben
Harziger Duft frisch geschnittenen Holzes durchdringt die warme Luft während des Gehens durch ein einsames Waldstück, vorbei an einem beachtlichen Granitblock, der von drei hohen Birken umgeben ist. Rechter Hand führt ein Feldweg zu einem „Streuhof“ – so nennt man im Waldviertel einen Bauernhof, der alleine und abseits liegt. Heute gilt so ein abseits liegendes Gut als Symbol der Ruhe und Entspannung, für frühere Bewohner war es allerdings seit jeher ein Platz für ein arbeitserfülltes und hartes Leben, in einer wunderschönen Landschaft, dessen Reichtum an Steinen und Felsblöcken nur eine beschwerliche Nebenerwerbs-Landwirtschaft zuließ. Ein Bauerngarten, von behauenen Granitblöcken gesäumt, dahinter ein mittelhohes Haus aus Granit mit einem dunklen Dach bieten einen urtümlichen Anblick inmitten der Einsamkeit. So bodenständig wie das Gebäude, wie die Landschaft an sich, wirkt auch der 90-jährige sympathische Mann, der bereits am Toreingang wartet.
„Pepi Onkel“ wird dieser Mann, dem man sein Alter wahrlich nicht ansieht, von allen Bekannten liebevoll genannt. Seine weltoffene Art erhielt ihn scheinbar „ewig jung“, nur mit dem Augenlicht hat er Probleme, das will halt mittlerweile nicht mehr so ganz.
Die Mutter war noch sehr jung bei seiner Geburt, seine Tante und sein Onkel kinderlos, so verbrachte er seine ersten Jahre bei Tante und Onkel. Sobald er groß genug war, hätte er den Hof übernehmen sollen, arbeitete fleißig, wo er nur konnte, von klein auf immer brav mit, wollte sich ja für die Übernahme als „würdig“ erweisen. Entgegen aller Hoffnungen wurde seine Tante dann im schon fortgeschrittenen Alter schwanger. Noch zu jung, um zu begreifen, dass dieser kommende Neffe nun die ihm versprochene Erbfolge antreten würde, half Pepi Onkel weiterhin bei der Arbeit.
„Ich hab den Hans aufziehen geholfen und dann bin ich halt überflüssig gewesen!“
Als der unerwartete Erbfolger ein Alter von vier Jahren aufwies, schickten die Erwachsenen den Pepi Onkel wieder zu seinen Eltern nach Hause zurück. Was muss das für einen 16-jährigen Burschen bedeutet haben, nach so vielen Jahren der Arbeit einfach als überflüssig heimgeschickt zu werden? Nur einen ein Meter hohen Nussbaum grub er sich aus und setzte ihn bei seinen Eltern am Grundstück wieder ein, alles andere ließ er hinter sich.
„Wie ich halt dann heimgewandert bin, ist damals vor dem Elternhaus noch ein Birnbaum gestanden, der hat Birnen getragen, die richtig buttergelb waren und eine Größe von gut zwei Fäusten erreichten. Zu dem Zeitpunkt ist der Birnbaum gerade abgestorben, da hab ich halt in das Loch vom Birnbaum gleich den Nussbaum eingesetzt.“
Der Wurzelstock eines abgestorbenen Baumes wurde sorgfältig ausgegraben, war er doch wertvolles Heizmaterial. Manche Menschen hätte so ein Schicksal schwer getroffen, doch Pepi lernte daraus, dass der Familienzusammenhalt und die Geborgenheit das Wichtigste für sein zukünftiges Leben werden sollten.
Er sitzt mit einer großkantigen Brille auf dem hageren Gesicht beim schlichten hölzernen Esstisch in der Küche und deutet mit dem Finger in Richtung der Hausmauern. Als er in das heiratsfähige Alter gekommen war und aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrte, stellte er seine Eltern vor die Wahl. Entweder es wird das Haus mit den schiefen Dachträgern erneuert, damit er mit einer Frau darin leben könne, oder er würde fortgehen.
„Weil unsere ehemalige Hütte, die war wohnlich gesehen eine Katastrophe!“
Nach ein paar Tagen der nonverbalen Kommunikation, des extensiv gelebten Schweigens, wickelte sein Vater an einem schneearmen, warmen Februartag seine Säge, den Holzbogen und die Zugsäge in einen „Fetzen“, in ein altes Tuch ein, marschierte in die nächste Ortschaft zu einem Mann, der sich auf die Kunst des Messerschleifens verstand, und schlägerte anschließend mit dem Pepi Onkel das Holz für sein neues Haus.
In mühevoller Kleinarbeit erneuerten sie das Elternhaus. Nach seiner Hochzeit begann er für sich selbst und seine eigene Familie einen Zubau zu starten. In jahrelanger schwerster Arbeit bearbeitete er die reichlich vorhandenen Granitblöcke, bis sie sich als Mauersteine eigneten.
„Die sind nicht auf allen vier Seiten gleich schön gewesen, die schlechtere Seite drehte man in den Wohnraum und die schöne Seite bildete die Außenmauer.“
Geld war nicht viel vorhanden, so behaute Pepi Onkel noch einige weitere Granitblöcke und tauschte sie in einem Ziegelwerk gegen die benötigten Ziegel ein. Damit zog er eine Innenmauer entlang der Steinmauer, welche einfach mit Lehm verklebt wurde.
„Meine Frau hat mir mit der Sturmlampe geleuchtet, während ich gemauert hab!“
Sogar die Fensterstöcke zimmerte er sich selber. So wie es damals aus beständigen Materialien errichtet worden war, so stabil steht das Haus auch heute, selbst nach den wildesten Wetterphänomenen, nach Jahrzehnten des darin Lebens mit allen Höhen und Tiefen, und verzaubert jeden vorbeifahrenden Menschen auf einzigartige Weise.
Pepi Onkel erinnert sich noch an seine Großmutter. Kurz nach der Hochzeit der Mutter mit seinem Vater starb sein Großvater plötzlich und unerwartet. Die Großmutter wurde damals aus dem Schockzustand heraus bettlägerig. Über 20 Jahre pflegte Pepi Onkels Mutter ihre Schwiegermutter aufopfernd neben all der anderen schweren Arbeit. Er erinnert sich, dass die bettlägerige Frau am Rücken nie offen wurde! Wenn heute jemand bettlägerig wird, besteht in kurzer Zeit die Gefahr des offenen Rückens. Bei seiner Großmutter wurden keine Salben aufgetragen, das war in seiner Familie nie üblich. Aber die Mutter hatte die Arnikatinktur (genaue Beschreibung und Rezeptur im Buch: Die Leissinger Oma), das war es dann auch schon, doch lagen die Leute damals auf Strohbetten. Es hat in seiner Familie noch lange geheißen, man solle auf Stroh liegen, dann wird man nicht so schnell wund. Diese Strohbetten befüllte man zwei- bis dreimal im Jahr neu, öfter nicht, denn einen Überfluss an Stroh hat es nicht gegeben.
Zu Winterende, gegen das Frühjahr hinaus, wenn das Holz zum Heizen schon knapp war, ging seine Mutter vor das Haus zu den Weichselstauden, da sind mindestens zehn Stück davon gestanden, und brach alle dürren Äste heraus, so hatte sie wieder Heizmaterial, damit sie kochen konnte und ein bisschen Wärme für die Kinder zusammenbrachte.
Was ist für den Pepi Onkel typisch am Waldviertel? Einen Moment überlegt er, während er für einen Augenblick die Zeit zurückdreht. Er liebt den Mohnstrudel (vgl. Seite 218). Das ist eine wirkliche Spezialität. Der Mohn verträgt das raue Waldviertler Klima recht gut, von daher galt er auch immer als wichtige Nahrungsquelle. Schon als Kind zählte es zu seinen Aufgaben, die Mohnsamen zu stoßen.
Der Unterschied zwischen einer weiblichen Erzählung und einer männlichen Erzählung ist, dass die weibliche jeweils eine ziemlich genaue Mengenangabe der Kochzutaten mit Verarbeitungshinweisen beinhaltet und die männliche eine ziemlich genaue Größenangabe der Kochtöpfe oder der Werkzeuge einschließt. Aber man soll auch die männlichen Ahnen nicht unterschätzen, wenn es darum geht, Pflanzenwissen weiterzugeben.
Die vorab im Ofenrohr getrockneten, gedörrten Mohnsamen wurden in ein Gefäß mit etwa einem ¾ Meter Durchmesser geleert. Mit dem Stiel einer Hacke, denn einen Stößel besaß der junge Pepi erst viel später, drückte er mit viel Kraft gegen die Mohnsamen. So lange stieß er immer wieder zu, bis der Mohn am Stiel kleben geblieben ist, erst dann war er fertig.
Die Mutter bereitete dann einen Erdäpfelteig, indem sie ½ kg gekochte Erdäpfel durch die Kartoffelpresse drückte, mit ½ kg Mehl vermischte, einen Batzen Butter (200 g), 200 g Zucker und 2 ganze Eier hinzufügte und noch möglichst heiß zu einem Teig knetete.
Nach einer Rastzeit von mindestens einer halben Stunde rollte sie den Teig ganz dünn – vielleicht 2 mm dick – aus, legte ihn auf ein Geschirrtuch, verteilt eine dicke Mohnschicht mit zerstoßenem Mohn und Zucker darüber, rollte den Teig mithilfe des Geschirrtuches ein und dann ging es für ca. 40 Minuten in das Rohr. Während Pepi Onkel vom Mohnstrudel seiner Mutter erzählt, breitet sich in seinem Gesicht, über seine schmalen Lippen, ein zartes Lächeln, das zaghaft bis in seine Wangen reicht, aus.
Der köstliche Geruch der Kindheit, welcher einst den Raum erfüllte, als der fertige Strudel aus dem Backrohr gezogen wurde ...
Der Rote Holler
Nicht nur die daheimgebliebenen Frauen halfen einander während der Wirren der Kriegsjahre und waren füreinander da, auch unter den Männern an der Front entstand situationsbedingt Freundschaft, gegründet auf tief gehenden Erlebnissen, die ein Leben lang verbinden. Solche Freundschaften blieben trotz entfernter Wohndistanzen aufrecht und das ohne Facebook und ohne Internetmöglichkeit. Die Informationen konnten lediglich per Brief oder bei seltenen persönlichen Treffen ausgetauscht werden. Briefpapier war kostbar, jedes Wort...