K A P I T E L I
D A S T I E R, D A S S P R A C H
Eines schönen Abends im Jahr 2016 surfte ich im Netz, das Gesicht von weiß Gott wie vielen Milligauss Elektrosmog durchglüht, als ich auf einen Webknoten stieß und las:
The mystery of language evolutionI
I Der Artikel war in Frontiers in Psychology erschienen, 7. Mai 2014, abrufbar unter http://journal.frontiersin.org/article/10.3389/fpsyg.2014.00401/full
Wie es aussah, verkündeten hier acht schwergewichtige Evolutionsforscher – Linguisten, darunter ein »Computerlinguist«, Biologen und AnthropologenII –, dass sie sich geschlagen gaben, das Handtuch warfen, einknickten, kniffen angesichts der Frage, wie Sprache entstand und wie sie funktioniert.
II Marc D. Hauser, Charles Yang, Robert C. Berwick, Ian Tattersall, Michael J. Ryan, Jeffrey Watumull, Noam Chomsky und Richard C. Lewontin.
»Die grundlegendsten Fragen über die Ursprünge und die Evolution unserer Sprachfähigkeit sind so rätselhaft wie ehedem«, schlussfolgerten sie. Und nicht nur das, sie klangen auch so, als ließen sie alle Hoffnung fahren, jemals Antworten zu finden. Oh ja, natürlich werden wir am Ball bleiben, erklärten sie beherzt … aber wir werden noch einmal bei null anfangen müssen. Unter den acht Unterzeichnern befand sich auch der berühmteste Name aus der Geschichte der Linguistik: Noam Chomsky. »In den vergangenen vierzig Jahren«, erklärten er und die anderen sieben, »vermehrte sich die Forschung über dieses Thema explosionsartig«, doch alles, was die größten akademischen Geister der Evolutionstheorie damit bewerkstelligt hatten, war eine kolossale Zeitverschwendung.
Das war schon seltsam … Noch nie hatte ich von einer Gruppe solcher Koryphäen gehört, die sich zusammentaten, um zu verkünden, welch erbärmliche Versager sie waren …
Höchst seltsam sogar … Also surfte ich und safariete ich und mauste ich herum, bis ich schließlich den offenbar einzigen Akademiker fand, der anderer Meinung war als die acht Versager, einen Chemiker an der Rice University … Rice … Rice hatte mal ein Spitzenfootballteam … die Rice Owls … was wohl aus denen geworden ist? Ich mauste weiter auf der Rice-Homepage herum, und, oh-oh … nicht so toll letzte Saison … die Owls … Football … surfte weiter zu Football und Schädel-Hirn-Trauma … Grundgütiger, wie ich’s mir dachte! Da wütet eine regelrechte Schädel-Hirn-Trauma-Epidemie! Die sind emsig damit beschäftigt, sich gegenseitig erste Alzheimer-Löcher ins Hirn zu schlagen! … Traumata … ich surfe … surfe … surfe … schau an! Football ist noch gar nichts im Vergleich zu Eishockey … ohne wenigstens zwei Hirnverletzungen unter deiner Schädeldecke bist du nicht reif für die NHL –
– derweil hatte sich aber etwas ganz anderes in meiner betzschen Riesenpyramide festgesetzt, so fest, dass nicht einmal der Kopfstoß eines NHL-Abräumers es hätte lösen können: Sie können sich nicht zusammenreimen, was Sprache ist?! Hundertfünfzig Jahre nach Verkündigung der Evolutionstheorie, und sie hatten … nichts herausgefunden … in denselben anderthalb Jahrhunderten entdeckte Einstein die Lichtgeschwindigkeit und die Relativität von Geschwindigkeit, Zeit und Entfernung … fand Pasteur heraus, dass eine unchristliche Zahl von Infektionskrankheiten durch Mikroorganismen, vornehmlich Bakterien, verursacht wird, von der Kopfgrippe über Milzbrand bis zu den am Ende sauerstoffbepumpten kollabierten Lungen der Pneumonie … hatten Watson und Crick die DNA entdeckt, die Bausteine aller Gene – und was haben in denselben hundertfünfzig Jahren all die Linguisten, Psychologen, Anthropologen und Forscher aus weiß der Himmel welchen Disziplinen über Sprache herausgefunden? Nichts.
Wo liegt das Problem? Sprache ist ja nicht bloß eines von mehreren einzigartigen menschlichen Merkmalen – Sprache ist das Merkmal der Merkmale! Das Sprachvermögen des Menschen macht 95 Prozent oder mehr dessen aus, was ihn über das Tier erhebt! Denn rein physisch betrachtet ist der Mensch eine traurige Gestalt. Seine Hauer sind bloße Incisivi, er nennt sie Schneidezähne, armselige Miniaturausgaben, die kaum die Schale eines noch etwas zu grünen Apfels durchdringen können. Seine Krallen können nichts anderes als ihn dort kratzen, wo es ihn juckt. Die Muskelstränge und Sehnen seines Körpers muten im Vergleich mit denen jedes anderen Tiers seiner Größe als die eines Schwächlings an. Tier seiner Größe? Jeder Faust-Pranken-, Faust-Klauen- oder Faust-Hauer-Kampf würde damit enden, dass das andere Tier seiner Größe ihn zum Lunch verspeist. Und doch sticht der Mensch sie alle aus, kontrolliert jedes Tier auf Erden – einzig und allein dank seiner Supermacht Sprache.
Welche Geschichte steht dahinter? Was ist es, das endlose Generationen von Forschern, meist zertifizierte Genies, absolut ratlos zurückließ, sobald es um das Sprachvermögen ging? Die Hälfte der Zeit, die mittlerweile seit den ersten Überlegungen dazu verging, haben sie, wie hier zu berichten sein wird, die Frage nach dem Ursprung von Sprache formell und offiziell für unlösbar erklärt und jeden Versuch einer Antwort aufgegeben. Was hat Sprache an sich, dass Wissenschaftler selbst nach einer veritablen Ewigkeit schlicht nicht schlau aus ihr werden?
Unsere Geschichte beginnt im rasend schmerzenden Kopf von Alfred Russel Wallace, einem fünfunddreißigjährigen hochgewachsenen, schlaksigen, langbärtigen, gerade mal grundschulgebildeten, autodidaktisch belesenen britischen Naturforscher, der – mutterseelenallein – auf einer Vulkaninsel im Malaiischen Archipel nahe des Äquators die Flora und Fauna studiert … als ihn der gefürchtete Schüttelfrost überfällt (von Engländern Genghis ague [Dschingisbibbern] genannt), ausgelöst, wie wir heute wissen, durch Malaria. Da liegt er also, geschützt von nicht viel mehr als einer Strohhütte, niedergestreckt, gebeutelt, hilflos auf einem Feldbett … und schon kommt mit voller Wucht der nächste Anfall … es schüttelt ihn, dass die Rippen klappern, der Kopf will sich schier spalten unter der neuen Fieberzacke, der Schweißausbruch ist derart profus, dass er die Pritsche in einen tropischen Sumpf verwandelt. Wir befinden uns im Jahr 1858 auf einem armseligen, kaum bewohnten Flecken Erde irgendwo weit, weit südlich der Londoner Snobs, Dandys, Gecken und feinen Pinkel, und Wallace hat nichts, womit er sich die Zeit vertreiben kann, außer einem Exemplar von Tristam Shandy, das er bereits fünf Mal gelesen hat – das und seine eigenen Gedanken …
Eines Tages liegt er auf dem Rücken auf seiner stinkenden Sumpfpritsche … und sinniert … über dies und das … als plötzlich der Titel eines Buches, das er gut und gerne zwölf Jahre zuvor gelesen hatte, aus seinem Stammhirn hochblubbert: An Essay on the Principle of Population … aus der Feder eines anglikanischen Pastors namens Thomas Malthus.III
III Wallace erinnerte sich daran in einem Interview mit Ernest. H. Rann, »Dr. Alfred Russel Wallace at Home«, in: The Pall Mall Magazine, März 1909.
Der Pastor hatte einen deformierten Gaumen, der ihm einen Sprachfehler bescherte, doch schreiben konnte er himmlisch. Das Buch war 1798 erschienen, sechzig Jahre und sechs Auflagen später aber immer noch höchst lebendig. Unkontrolliert, hatte Malthus erklärt, werde die menschliche Weltbevölkerung in einer geometrischen Progression zunehmen und sich alle fünfundzwanzig Jahre verdoppeln,1 derweil sich die Nahrungsmittelversorgung immer nur arithmetisch, Schritt für Schritt steigern werde.2 Demnach wäre bis zu unserem 21. Jahrhundert der ganze Erdball von einer einzigen wogenden Masse Mensch bedeckt gewesen, Schulter an Schulter, Rücken an Brust, und sehr hungrig. Doch wie Malthus vorausgesagt hatte, gibt es etwas, das dieser Entwicklung immer wieder Paroli bieten wird – den Tod, unnatürliche Tode im Akkord … angefangen beim Verhungern vieler bis hin zu ganzen Hungersnöten … über die Krankheiten vieler bis hin zu ganzen Epidemien … über Gewalt, Chaos, organisierte Gemetzel, Kriege, Selbstmorde und blutrünstige Völkermorde … bis hin zu den kanternden Hufschlägen der vier apokalyptischen Reiter, welche die menschlichen Herden stets...