Elke-Vera Kotowski
Weit von wo? Der Kulturtransfer jüdischer Emigration aus dem deutschsprachigen Raum
Eine Einführung in die vorliegende Publikation
Wenn ein Mensch – und eine Gesellschaft – nur das zu erinnern im Stande ist, was als Vergangenheit innerhalb der Bezugsrahmen einer jeweiligen Gegenwart rekonstruierbar ist, dann wird genau das vergessen, was in einer solchen Gegenwart keine Bezugsrahmen mehr hat.
(Jan Assmann)1
Den Spuren deutschsprachiger Juden nachzugehen, bedeutet in mehr als 60 Ländern die Suche aufzunehmen. Zunächst in den Ländern, in denen die deutschsprachigen Juden bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten. Beim Blick auf eine aktuelle Landkarte zeigen sich dabei bereits erste Hürden, denn viele Landesgrenzen sind verschoben, manche Staaten gar verschwunden, beispielsweise so bedeutende Zentren eines deutschsprachigen Judentums wie die Bukowina, die Provinz Posen oder das einstige Großreich Österreich-Ungarn. Es lässt sich heute nur noch erahnen, welch kultureller Geist in vielen bürgerlichen jüdischen Haushalten in Berlin, Breslau, Czernowitz, Lemberg, Prag oder Wien wehte.
Selbst als die Lage für Juden im Einflussbereich der NS-Diktatur immer bedrohlicher wurde, fiel ihnen der Weggang aus der Heimat schwer. Viel konnte nicht mitgenommen werden vom alten Leben, umso wichtiger waren daher Gegenstände, die daran erinnerten, die in der Fremde und angesichts einer ungewissen Zukunft so etwas wie eine kulturelle Heimat herstellen konnten. Die ersten Stationen des Exils waren nicht selten Durchgangsstationen in Transitstaaten, da in den gewählten Immigrationsländern Einwanderungsverbote verhängt wurden. Für Bolivien, die Dominikanische Republik, Kuba oder Schanghai konnten einfacher Visa beschafft werden als für die USA oder Argentinien, wohin die meisten Emigranten strebten.
Waren sie dann endlich angekommen im neuen, nicht freiwillig gewählten Leben, hieß es, sich einzurichten, sich mit den vorgefundenen Begebenheiten zu arrangieren und sich ein Stück Heimat zu schaffen. Die Aufnahmeländer breiteten den Neuankömmlingen die Arme unterschiedlich weit aus. Dies führte dazu, dass die Integration in die verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich intensiv erfolgte. Häufig sammelten sich deutschsprachige Juden in bestimmten Stadtteilen, in denen sie wohnten, arbeiteten und ihre kulturellen Traditionen aus der alten Heimat pflegten, beispielsweise im New Yorker Stadtteil Washington Heights oder in Belgrano, dem nördlichen Buenos Aires.
Vor etwa zehn Jahren schrieb der in Buenos Aires lebende Schriftsteller Robert(o) Schopflocher (*1923), der als Vierzehnjähriger seine Geburtsstadt Fürth verlassen musste, ein Gedicht, in dem er gesteht: „Seit über sechzig Jahren / in Argentinien, / aber beim Wort ,Baum‘ / fällt mir zunächst und noch immer / die Dorflinde Rannas ein, / in der Fränkischen Schweiz, / gelegentlich auch eine Eiche / oder ein deutscher Tannenbaum […]“2
Obwohl der über Neunzigjährige nunmehr ein Dreivierteljahrhundert in Argentinien lebt, sind es noch immer der „deutsche“ Wald, die „deutsche“ Literatur, Wissenschaft und Kunst, durch die er sich geprägt und geleitet fühlt.
„Schiller, Goethe und die Romantik, / Jugendstil, Bauhaus und Expressionismus, /prägten mir ihren Siegel auf, / nicht weniger wie der deutsche Wald, / der deutsche Professor /oder der jüdische Religionsunterricht …“
Zeilen wie diese zeugen von einer tiefen Verbundenheit zu einer Kultur, die bis in das erste Drittel des 20. Jahrhunderts in starkem Maße von einem jüdischen Bürgertum, sei es in Metropolen wie Berlin, Prag oder Wien, aber auch in der Provinz, in Eisenstadt, Fürth oder Posen, gepflegt, aber auch geprägt wurde.
Das von Robert Schopflocher mit dem Titel „Geständnis“ versehene Gedicht drückt die Gespaltenheit der Gefühle eindrucksvoll aus. Die Kultur seines Geburtslandes hat Emigranten wie Schopflocher geprägt und sie bedeutete auch im Exil ein Stück Heimat – trotz der Erfahrungen der Schoa und der menschenverachtenden NS-Politik in deutschem Namen. Aus dem Exil ist längst eine neue Heimat geworden, aber – und mit diesen Worten endet das Gedicht – „wo liegt es nun, mein Vaterland?“
Die kulturelle Heimat und deren Erbe drücken sich in den unterschiedlichsten Formen aus. In der vorliegenden Publikation werden verschiedene Ausprägungen dieser Phänomene beschrieben. Das Erkenntnisinteresse dieser Publikation und des ihm zugrundeliegenden Projektes3 ist, den Spuren jenes kulturellen Erbes nachzugehen, im Sinne einer Fortführung von Traditionen, die aus den Ursprungsländern in die Emigration überführt wurden. Die Verfasserin ist sich durchaus darüber bewusst, dass der Begriff des „kulturellen Erbes“ in diesem Zusammenhang ein problematischer ist, hier jedoch als Terminus operandum verwandt wird.
„Tradition ist die Bewahrung des Feuers und nicht die Anbetung der Asche“ (Gustav Mahler)
Das Erkennen, Erfassen und Bewahren des kulturellen Erbes, das bis heute in der Emigration von deutschsprachigen Juden gelebt und gepflegt wird und das hier wie dort nicht wirklich im kollektiven Bewusstsein verankert ist, ist Gegenstand der vorliegenden Auseinandersetzungen. Anzumerken ist jedoch, dass der Begriff „Kulturerbe“ hier nicht allein auf Bestände in Archiven, Bibliotheken und Museen angewendet wird, sondern eben auch auf persönliche Erinnerungen und Überlieferungen (seien es handwerkliche Fertigkeiten, ein breiter Bildungskanon oder traditionelle Bräuche), die von kulturellen und religiösen Traditionen aus den Ursprungsländern zeugen. Unter „deutsch-jüdischem Kulturerbe“ wird daher die Gesamtheit aller Lebensäußerungen verstanden, in denen sich jene Identitätszuschreibungen im weitesten Sinne manifestieren. Sie repräsentieren – im Einzelnen, wie im kollektiven Zusammenhang – Aspekte des kulturellen Gedächtnisses, welches sich in den verschiedenen historischen Phasen und Formen des christlich-jüdischen bzw. deutsch-jüdischen Zusammenlebens gebildet hat. Darunter werden alle authentischen Phänomene subsumiert, die durch eine Form der einseitigen oder wechselseitigen Beeinflussung der deutschen und der jüdischen Kultur charakterisiert sind, unabhängig von einer Bewertung des potentiellen Grades des Assimilations- bzw. Akkulturationsprozesses der Juden in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert. Materielles Erbe, wie Kunst-, Alltags-oder sakrale Gegenstände, die über ihre stoffliche Komponente hinaus eine ideelle Bedeutung aufweisen, sind ebenso relevant wie das immaterielle Erbe, das sich in kulturellen Techniken, Praxen, Kenntnissen und performativen Akten äußert. Es liegt dabei kein statisches Konzept von Kulturerbe zugrunde, das sich nur darum bemüht, die Artefakte einer historisch abgeschlossenen Phase zu systematisieren. Vielmehr findet ein relationaler, prozessorientierter Begriff von Kultur Verwendung, der das Soziale jenseits funktional-strukturalistischer beziehungsweise simplifizierend materialistischer Zugänge konzeptualisiert und sich auch um ein Verständnis für symbolische Inhalte, Rituale und Handlungen bemüht. Die Transformationsprozesse und Beeinflussungen durch Assimilationsvorgänge, welche das deutsch-jüdische Kulturerbe in den verschiedenen Exilheimaten durchlaufen hat, sollen ebenso Berücksichtigung finden. Geographisch beschränkt sich dies nicht auf die territorialen Grenzen Deutschlands, sondern blickt auf alle Orte des Zusammentreffens deutscher und jüdischer Kultur. Die hier vorliegenden Darstellungen streben keine abschließende Beantwortung der Frage nach der jüdischen Identität an, sondern erfassen alle Phänomene, die nach kulturellen oder religiösen Aspekten die Selbst- oder Fremdzuschreibung „Jüdisch“ erfahren haben. Verschiedene Konzepte des Jüdischen bzw. des Deutsch-Jüdischen koexistieren in diesem Sammelband und die Heterogenität der verschiedenen Definitionen wird in den verschiedenen Darstellungen abgebildet. 4
„Schicket euch in die Sitten und in die Verfassung des Landes, in welches ihr versetzt seyd; aber haltet auch standhaft bey der Religion eurer Väter“ (Moses Mendelssohn)
Hier sei die Frage in den Raum gestellt: Was ist deutsch, was ist jüdisch und was ist deutsch-jüdisch? Ist der Bindestrich zwischen diesen beiden Adjektiven trennend oder verbindend? Die vorliegende Publikation greift diese Fragen immer wieder auf, ohne – und das sei gleich vorweg genommen – eine hinreichende und vor allem ein-eindeutige Antwort darauf bieten zu können oder zu wollen. Vielmehr geht es darum, zu hinterfragen, zu erkennen, zu erinnern und nicht zu vergessen: Nicht zu vergessen das Unfassbare, das einem Teil der Deutschen bzw. dem deutschsprachigen Kulturkreis Angehörender widerfuhr, nur weil sie nach Definition und den Maßstäben einer NS-Ideologie als nicht-deutsch deklariert wurden und damit fortan nicht mehr der „deutschen Kultur“ angehören sollten. 80 Jahre nach Beginn der zwölfjährigen NS-Herrschaft, die in deutschem Namen definierte, wer oder was „deutsch“ sei, tun sich auch die nachfolgenden Generationen noch immer schwer, Worte, Definitionen und Erklärungen zu finden, um das Unfassbare fassbar und verstehbar zu machen. Eine Schwierigkeit ist dabei zweifellos der Umgang mit dem Begriff „deutsch-jüdisch“ – wo wir wieder bei der Eingangsfrage wären. Um mit einem Beispiel zu sprechen: War Heinrich Heine (1797–1856) deutsch oder jüdisch oder deutsch-jüdisch? Ist seine Literatur – die noch immer zum „deutschen“...