So weit der Glaube. Wo das Wissen versagt – und was wußte der homerische Mensch von der Naturgesetzlichkeit im All? –, da ersetzt der Glaube das Wissen, und der Glaube ist es, der dem Menschen die sittliche Haltung gibt. Aber nicht nur er; wir sehen, wie auch der Unglaube eigenartig richtunggebend mitwirkt. Es ist die Frage: wozu wird man geboren und was ist Ziel und Zweck des Lebens? Der homerische Junker denkt wie der Jude des alten Testaments: es gibt kein Nachleben und Werden nach dem Tod; es gibt nur ein Diesseits für die Lebendigen. All unser Streben ist nichts als ein Blühen und Welken.
Des Sterbenden Seele flattert welk durch den Erdspalt in den Orkus hinab, wo es schattenhaft nur Bewußtlosigkeit gibt, die dem Nichtsein gleichkommt. Daher wird in der homerischen Welt die Leichenkonservierung in tiefgelegten Gräbern, die das Volk sonst liebte, vermieden, und keine Spenden werden dem Scheidenden, als könnte er davon noch Genuß haben, mitgegeben. Das Volk fürchtete die Seelen der Abgeschiedenen, als lebten sie und gingen wie Gespenster um, und suchte sie alljährlich durch Opfer zu beschwichtigen. Die Herren, für die Homer dichtet, wissen davon nichts. Der Mann, der geendet, wird mit seiner besten Habe auf dem Holzstoß verbrannt, und kein tiefes Schachtgrab, das dem Versteck gleicht, nimmt seine spärliche Asche auf, sondern ein künstlich aufgeschütteter Hügel, der weithin sichtbar an den, der gewesen, erinnern soll. Diese Freigeister hofften nichts, ein energischer Pessimismus. Der Gewesene kommt dem gleich, der noch nicht geboren ist.
Und nun die Folgerung: wie unser Leben sich nur im Diesseits auswirkt, so also auch die Strafe, die dem Schuldigen droht; alle Schuld rächt sich schon auf Erden. Die Götter sorgen dafür, daß noch vor dem Tode der Schädling gefaßt wird, und des Menschen Pflicht ist es somit auch, selbst Vergeltung zu üben, wenn ihm Unrecht geschah. Allemal tut er es im Sinne der Gottheit, im Namen des Schicksals. Orest erschlägt den Sünder Ägisth; Athene die kluge Göttin, billigt es ausdrücklich.Odyssee 1, 300. Odysseus vollführt den Freiermord; dieselbe Göttin leitet ihn dazu an. So auch die großen Kriege dieser Zeit; es sind Vergeltungskriege, Strafvollzug,Die Kriege sind Strafvollzug für Vergehen. Trefflich formuliert Menelaus die Ursache des trojanischen Krieges Ilias XIII 624 f.: Bruch des Gastrechts. Fürstenhaus gegen Fürstenhaus, und die Götter geben acht; sie selbst tragen Waffen, schmieden Waffen. Mag die Entscheidung lange schwanken, sie wenden den Sieg auf die Seite des Rechts.
Was aber hat der Tugendhafte von seiner Tugend, da das Jenseits ihn nicht lohnt und kein Himmel sich öffnet? Es ist der gute Name allein. Um ihn geht alles. Er soll nachklingen bis über den Tod hinaus, und das genügt. Der Held geht ins Gefecht, um entweder den eigenen Ruhm zu mehren oder den Ruhm anderer.Ilias XII 328.Modellmenschentum, das war das hochgestellte Ideal, rühmlich zu leben und zu sterben, um Vorbild zu sein auch noch für die Zukünftigen. Das ist Verewigung. Daher der starke Herzschlag dieser Edelleute, das mächtige Ehrgefühl.
Aber es kam noch eins hinzu, und es sind vielmehr zwei Motive, die da walten; die Ehre und das Schöne. Auch das Schöne. Dies zeigen uns alle Gesänge Homers.
Wir fragen nicht, ob damals wirklich Menschen von der Feinheit und Noblesse, wie der Dichter sie vorführt, anzutreffen waren. Aber ein Ideal hat er damit aufgestellt, und es war das Ideal der Zeit. Kultur beruht nicht auf Wissen, wie heut manche glauben. Denn was war damals das Wissen? Auch der so kenntnisarme Südländer von heute zeigt oft mehr Kultur als der vielwissende Gelehrte bei uns, der sich groß tut und doch ab und an wie ein Prolet beträgt. Ehrenhaft sein und schön sein zugleich: das steht, wie ich hoffe, auch heute noch als das Höchste vor uns. Es ist die Kultur der Seele.
Homer weiß wohl auch von Menschen, die gerne Globetrotter wären und im Geiste über Land und Meer ihre Gedanken senden; sie möchten alles kennen;Ilias XV 81 f. aber es geschah eben nur in Gedanken, und keine seiner bedeutenden Personen zeigt uns in Wirklichkeit eine Forschernatur.
Von den ethischen Forderungen war schon die Rede. Die Volksfürsorge obliegt den Herren, also soziale Gesinnung, sowie eine gerechte Justiz. Dazu kommt Ritterlichkeit, Furchtlosigkeit, Konsequenz im Handeln und Zuverlässigkeit in jeder Lage. Die eheliche Treue ist freilich nur der Ruhm der Frauen; den Mann verherrlicht vor allem, wenn er dem Freund die Treue hält. Männerfreundschaft blieb bei den Griechen gepriesen zu allen Zeiten; sie wird zur Leidenschaft, und die wildesten Teile der Ilias sind von ihr durchflutet. Aber die Treue greift noch höher; sie wird zur Vaterlandsliebe. Kein schönerer Tod als der für Haus und Herd; denn heilig ist der Heimatboden. Auch das geht durch das ganze Griechentum weiter. Die Vaterlandsliebe ist Religion. Wenn Hektor fällt, trauern selbst die Götter.
Alles das klingt schön; anderes berührt uns sonderbar. Dazu gehört das Weinen. Das ist pathologisch; aber die Rührseligkeit galt offenbar als Tugend, wie in den Romanen Jean Pauls, und zwar auch bei den Männern. Schon die alten Römer spotteten über diese weinenden griechischen Helden, und die Beispiele stehen schon bei Homer. Agamemnon wie Herkules haben lose Tränen.Ilias VIII 245; 364; XVII 648. Nichts drolliger als die Szene im Palast des Menelaus, wo während der üppigen Mahlzeit von den Nöten des sehr verehrten Odysseus erzählt wird. Sofort weint Helena, weint Menelaus, weint Telemach, weint auch dessen mit anwesender Freund, und sie können nicht essen, bis endlich dieser letztere verständig bemerkt, bei Tisch passe das Weinen doch übel, und rasch wendet man sich wieder zum Schmaus; aber ein Zaubermittel muß noch erst in den Wein geschüttet werden, damit der Appetit wiederkommt.Odyssee 4, 184 mit herrlicher Anapher κλαῖε . . .,κλαῖε δέ, die auf Rührung berechnet ist. Männlicher zeigt sich zum Glück Achill, der nur sich die Speise versagt, wenn er Kummer hat.
Dann aber die List und das Lügen. Es gehört zu den Virtuositäten, also Tugenden, des Griechen und wird gern bewundert, ist und war übrigens ebenso auch im weiten Orient beliebt. Auch die Götter Homers, oder zum wenigsten die Göttinnen genieren sich nicht. So lügt die Göttin Hera ihrem Zeus auf das Dreisteste ins Gesicht.Ilias XIV 200 f. So aber auch Gott Hermes XXIV 390 ff. Gewiß eine Laxheit der Helden- und Göttermoral. Aber nicht allen haftet sie an. Achill blickt mit Empörung darauf; er haßt alle Verstellung wie die Hölle.Ilias IX 312. Er ist der Große, der auch im Kampf den Hinterhalt nicht kennt; er wäre, um Troja zu nehmen, nie mit in das hölzerne Pferd gestiegen.
Und doch war diese Lüge eine Kostbarkeit; denn sie erfordert Phantasie; sie wird zur Kunst. Es entsteht die Dichtkunst, d. h. die Kunst des freien Fabulierens. Der Grieche selbst nannte das Dichten Lügen; Lügnerinnen heißen die Musen. Wir nennen es Täuschen. Der Erzähler erfindet frei, aber glaubhaft, und der Hörer wird angenehm getäuscht. Das Genie setzt ein, und die große Kunst, die erste der großen Kulturtaten der Griechen kann hiermit beginnen.
Odysseus, der vielgeliebte Held, ist solcher Dichter; Improvisator. Er lügt, wo er als Bettler maskiert ist, mit Grazie über sein Vorleben ganze Histörlein zusammen; sie lesen sich wie Vorstudien zum Epos, und seine Hörer glauben ihm alles. Hernach, wie er die Maske abwirft, verübelt ihm niemand das Geschehene. Dabei sagt er selbst, daß vor allem ein fester Trunk Lust macht zum Dichten und schwindelhaften Erzählen,Odyssee 14, 463 f. eine Wahrheit, von der wohl noch andere sich überzeugt haben.
* * *
Reden wir denn endlich von der Kunst; reden wir vom Trieb zum Schönen.
Der Mensch selbst will schön sein. Auch bei Männern wird darauf Wert gelegt. So sagt denn auch Homer von allen besseren Personen, die er vorführt, daß sie es sind. Sogar des Odysseus Schenkel heißen schön, als er zum Zweikampf das Kleid abwirft.Odyssee 18, 68. Häßlich sind nur die SpioneIlias X 316. und Thersites, der bucklige und schielende Kläffer. Das heißt: nur an dem Unedlen haftet die Häßlichkeit. Wer edel, muß auch schön sein.
Eine Plastik fehlte noch, und der Mensch war noch nicht imstande, Kunstgebilde aus sich heraus zu stellen. So machten die Herren sich selbst zum Kunstwerk. Mit dem hemdartigen Chiton ließ sich kein Staat machen, und der edle...