2. „So geht’s nicht!“ (K)ein eigener Mensch sein können
Es gibt Fragen, die sich immer wieder stellen. Dies liegt nicht daran, dass es für sie keine passenden Antworten gibt. Allerdings erweisen sich die Antworten nur unter einer bestimmten Hinsicht und zu einer bestimmten Zeit als überzeugend. Unter einer anderen Rücksicht und im Lauf der Zeit verlieren sie an Überzeugungskraft. Dies kann eine zweifache Ursache haben: Zum einen vermögen die Voraussetzungen, Herleitungen und Rechtfertigungen nicht mehr zu überzeugen, die zu einem bestimmten Entwurf guten Menschseins geführt haben.22 Zum anderen können sich die sozio-kulturellen Umstände und Bedingungen so verändert haben, dass diese Entwürfe nicht mehr praktikabel sind. Am Ende passen sie nicht mehr in die Zeit und stimmen mit anderen Einsichten nicht mehr überein. Lediglich die Fragen bleiben an der Zeit.
Genauso ergeht es dem großen Versprechen der Moderne: Eigenes Leben! Am besten kann man leben, wenn man ein eigener Mensch sein kann! Seit geraumer Zeit gibt es „im Westen der Welt wohl kaum einen verbreiteteren Wunsch als den, ein eigenes Leben zu führen. Wer heute herumreist und fragt, was die Menschen wirklich bewegt, was sie anstreben, wofür sie kämpfen, wo für sie der Spaß aufhört, wenn man es ihnen nehmen will, dann wird er auf Geld, Arbeitsplatz, Macht, Liebe, Gott usw. stoßen, aber mehr und mehr auf die Verheißungen des eigenen Lebens. Geld meint eigenes Geld, Raum meint eigenen Raum, eben im Sinne elementarer Voraussetzungen, ein eigenes Leben zu führen. Selbst Liebe, Ehe, Elternschaft, die mit Verfinsterung der Zukunft mehr denn je ersehnt werden, stehen unter dem Vorbehalt, eigene d. h. zentrifugale Biographien zusammenzubinden und zusammenzuhalten. Mit nur leichter Übertreibung kann man sagen: Das alltägliche Ringen um das eigene Leben ist zur Kollektiverfahrung der westlichen Welt geworden. In ihm drückt sich die Restgemeinschaft aller aus.“23
Dieser Trend hat seinen entsprechenden Niederschlag in zahlreichen soziologischen Zeitdiagnosen und Gesellschaftsanalysen gefunden. Hier hat in den 1980er Jahren die Karriere der Kategorie „Individualisierung“ begonnen.24 Sie fungiert quasi als Container für die Reflexion sozio-kultureller Tendenzen, die vor allem durch folgende Faktoren bestimmt sind:
- Erosion und abnehmende Bindungswirkung traditioneller Sozialzusammenhänge, Verblassen lebensweltlicher Prägungen (z. B. Milieu, Konfession) und industriegesellschaftlicher Lebensformen (Klasse, Schicht);
- Lösung von Lebenslauf und -situation aus überkommenen Standards und Ablösung dieser Standards über die zunehmende Bestimmtheit der Lebensführung (Wertpräferenzen, Lebensstil, Rollenverhalten) durch marktgesteuerte Austauschprozesse;
- Pluralisierung von Lebensformen, Sinnsystemen (Weltanschauungen) und Verhaltensoptionen mit der Folge bzw. dem Zwang zur Selbstgestaltung der individuellen Lebensgeschichte aufgrund der erheblichen Zunahme entscheidungs- und auswahlabhängiger Biographieanteile;
- Ausbildung einer „multiple choice“-Gesellschaft, wo es mehr als nur eine „richtige“ Verhaltensweise und mehr als nur einen Bewertungsset für ein Verhalten gibt.
Diese Faktoren bedingen sowohl einen Zuwachs an Entscheidungsmöglichkeiten und subjektiv wählbaren Optionen auf Seiten des Individuums als auch den Verlust einer kollektiv verbindlichen und plausiblen Sinn- und Identitätsmatrix im Raum des Sozialen. Sie nötigen das Individuum nicht nur zum Entwurf und zur Inszenierung der eigenen Biographie, sondern auch zu ihrer Einbindung in Beziehungen und soziale Netze. Was früher kollektiv vorentschieden war, muss nun vom Individuum eigens bedacht und bewusst übernommen werden. Alle notwendigen Auswahl-, Koordinations- und Integrationsleistungen von der Berufs- und Partnerwahl, der Mitgliedschaft in Vereinen über die Auswahl der passenden Schule für die Kinder und den Verbleib in einer Religionsgemeinschaft bis hin zur Verfügung über die Art der Bestattung hat das Subjekt zunehmend eigenhändig vorzunehmen. „Chancen, Gefahren, Unsicherheiten der Biographie, die früher im Familienverbund, in der dörflichen Gemeinschaft, im Rückgriff auf ständische Regeln oder soziale Klassen definiert waren, müssen nun von den einzelnen selbst wahrgenommen, interpretiert, entschieden und bearbeitet werden.“25 Das Leben verliert seine Selbstverständlichkeit, der soziale „Instinkt-Ersatz“, der es trägt und leitet, wird liquidiert, d. h. er verflüssigt sich, die Individuen und die Gesellschaft geraten ins Schwimmen.
2.1 Eigenes Leben? Individualisierung und Vergesellschaftung
Vordergründig erscheint die Individualisierung des sozialen Lebens als späte Einlösung eines Versprechens, das zu Beginn der Moderne gegeben wurde: Emanzipation von allen Autoritäten, Traditionen und Institutionen, von obrigkeitlich verordneten Formen der Existenz, die der kritischen Prüfung (und Auswahl) durch die autonome Vernunft nicht standhalten können. Der moderne Mensch sollte soweit wie möglich ein „homo optionis“ sein, der wird, was er wählt, und aus sich macht, was er auswählt. Der tatsächliche Lauf der Dinge hat jedoch kaum zur umfassenden Selbstermächtigung des Subjekts geführt. Die größeren individuellen Freiheitsräume sind eingelassen in eine spezifische Vergesellschaftung menschlicher Lebensverhältnisse und abhängig von den Leistungen sozialer Funktionssysteme (z. B. Wirtschaft, Bildung, Medizin).
Ohne einen Zugang zur bezahlten Erwerbsarbeit lässt sich mit den neuen Freiheiten wenig anfangen. Ohne den Erwerb formeller Berufs- und Bildungsabschlüsse bleibt der Zugang zum Arbeitsmarkt verschlossen. Und ohne eine frühzeitige Absicherung gegenüber Daseinsrisiken wird das Insistieren auf Unabhängigkeit bald selbst zu einem Daseinsrisiko. Die Erweiterung von Wahlmöglichkeiten und Handlungsoptionen in der Lebenswelt geht einher mit einer Vermehrung der Abhängigkeit von Regulativen, die auf gesamtgesellschaftlicher Ebene angesiedelt sind. Individuelles Leben ist weniger als zuvor eingezwängt in einen gemeinschaftlichen Komplex von Traditionen, Institutionen, Autoritäten und Rollen, aber gleichwohl nicht aus der Gesellschaft entlassen, sondern jetzt durch abstrakte und anonyme, an die Individuen adressierte Sozialbeziehungen bestimmt, die sich ihrerseits der individuellen Einflussnahme entziehen.26
Der gewonnenen Selbstverantwortlichkeit, Freiheit und Entscheidungskompetenz steht in komplexen Gesellschaften eine Abhängigkeit von ökonomisch, technisch und politisch definierten Lebensbedingungen gegenüber. Das „eigene“ Leben ist kein eigenes Leben im Sinne „eines freischwebenden, selbstbestimmten, allein dem Ich und seinen Vorlieben verpflichteten Lebens. Es ist vielmehr genau umgekehrt Ausdruck einer späten, geradezu paradoxen Form der Vergesellschaftung. Die Menschen müssen ein eigenes Leben führen unter Bedingungen, die sich weitgehend ihrer Kontrolle entziehen. Das eigene Leben hängt z. B. ab von Kindergartenöffnungszeiten, Verkehrsanbindungen, Stauzeiten, örtlichen Einkaufsmöglichkeiten usw., von den Vorgaben der großen Institutionen: Ausbildung, Arbeitsmarkt, Arbeitsrecht, Sozialstaat; von den Krisen der Wirtschaft, der Zerstörung der Natur einmal ganz abgesehen.“27
Nur auf den ersten Blick offeriert die Individualisierung des Sozialen die Vorordnung des Subjekts vor der Gesellschaft. Bei genauerem Hinsehen erweist sie sich als Funktionsbedingung und -erfordernis moderner Gesellschaften. Sie sind geradezu darauf angewiesen, dass die Individuen nicht mit ihrer Individualität und dem Ganzen ihrer Persönlichkeit in ihre Teilsysteme eingebunden werden, sondern nur partiell und zeitweise. In dem Maße, in dem die Gesellschaft ihre Funktionen an einzelne Teilsysteme delegiert, werden die Menschen nur noch insofern in diese eingebunden, wie sie zum Handlungsträger der jeweils gültigen, untereinander aber differenten Verhaltenslogiken werden – in der Politik als Wähler/in, in der Wirtschaft als Produzent/in oder Konsument/in. Was vom Individuum aus betrachtet zunächst als Erweiterung seines Handlungsraumes erscheinen mag, erweist sich aus der Perspektive der Gesellschaft als funktionale Voraussetzung ihres Bestehens. Gefragt in einer arbeitsteiligen Gesellschaft ist das mobile und flexible Subjekt. Zu viele und zu enge soziale Bindungen (z. B. Familie, Kinder) sind nicht nur hinderlich für das eigene Fortkommen (Karriere), sondern auch für die ökonomische (betriebliche wie volkswirtschaftliche) Produktivität. Flexible Arbeitszeiten nehmen auf feste Kinderbetreuungszeiten nur wenig Rücksicht. Flexibilität am Arbeitsplatz und beim freiwilligen oder erzwungenen Wechsel der Arbeitsstelle wird erwartet und belohnt. Nesthocker bleiben chancenlos, von Vorteil ist eine surfende Lebenseinstellung. Bindungen sind nur unter Vorbehalt einzugehen.28
Was also zunächst als Ausläufer und Spätfolge sozialer Erosion erscheinen mag, ist tatsächlich ein Mittel, um ihr entgegenzuwirken. Individualisierungsprozesse sind eine Voraussetzung für die Integration moderner Gesellschaften, die auf teilautonome Subjekte angewiesen sind. Integration ist weniger eine Leistung des sozialen Gesamtsystems oder die Funktion eines besonderen kulturellnormativen Subsystems, als vielmehr eine von den Individuen zu bewältigende Herausforderung. Denn sie müssen den Anforderungen eines flexiblen Arbeitsmarktes entsprechen, seine Asymmetrien austarieren und seine Unwägbarkeiten in ihren Lebenslauf eingliedern. Hier manifestiert sich alltagsweltlich, was Verlaufsform und Struktur der Moderne kennzeichnet. Hier muss zum großen Teil auch der Preis für Modernisierungen bezahlt werden. In...