David Roth
»Wir lassen uns unsere Toten stehlen!«
Fritz Roth und seine Revolte gegen die Sterbekultur in Deutschland
Mein Vater war ein Mann klarer Worte. Als er Anfang der achtziger Jahre das Bestattungshaus Pütz übernahm, brach er mit so ziemlich allen Regeln des ehrwürdigen Bestattergewerbes in Deutschland. Was ihn antrieb, war die Überzeugung, dass in unserem Umgang mit Tod, Trauer und Abschied so ziemlich alles falsch läuft: »In Deutschland werden den Trauernden ihre Toten gestohlen!«, fasste er es in einem Satz zusammen. An den Orten, wo Tod und Abschied professionell gehandhabt werden, sei das Wissen darum, was Trauernde brauchen, weitgehend verschwunden. An seiner Stelle herrsche eine standardisierte, unpersönliche und normierte Abwicklung von Sterbefällen. Zu viele Bestatter verstehen sich als Sarg- und Totenhemdverkäufer, als Beerdigungsorganisatoren und Leichenentsorger und lassen es an menschlicher Zuwendung und Begleitung fehlen. Das zu ändern, in Worten und Taten, war seine Mission. Mein Vater forderte eine radikale Erneuerung unserer Bestattungskultur: die Rückbesinnung auf menschliche Grundbedürfnisse, wie sie über Jahrhunderte in der Trauerkultur verankert waren und gelebt wurden. Diese war eine Kultur der Gemeinschaft, in der Tod und Trauer so in das Leben und die Gesellschaft eingebunden waren, wie einst die Friedhöfe in der Mitte der Dörfer direkt an den Kirchhof grenzten. Tod und Trauer gehörten dazu wie Geburt und Glück. Sie waren keine Gegner, die es so lange wie möglich zu bekämpfen gilt, oder Krankheiten, die so rasch wie möglich geheilt werden müssen. Trauernde blieben Teil der Gemeinschaft – und nicht sich selbst überlassen.
Meine Schwester Hanna und ich sind mit diesen Gedanken aufgewachsen und im »Haus der menschlichen Begleitung« mit dem Anblick von Toten und Trauernden groß geworden.
Als mein Vater im Dezember 2012 starb – viel zu früh, für uns und auch für seine vielen Ideen und Pläne –, haben wir zusammen mit unserer Mutter das Familienunternehmen übernommen und diesen Weg fortgesetzt. Was ist heute, mehr als zwanzig Jahre, nachdem mein Vater und Sabine Bode ihr erstes Buch zu Trauer und Sterbekultur veröffentlicht haben, geblieben von seinen Beobachtungen, von seiner scharfen Kritik, seiner Idee, Tod und Trauer wieder einen Platz im Leben und in der Mitte der Gesellschaft zu geben? Was hat sich verändert in Deutschland, in der Bestattungskultur, in den Köpfen der Menschen? Darauf haben wir eine Antwort gesucht und uns entschieden, das Buch »Der Trauer eine Heimat geben« wieder zu veröffentlichen und seine Gedanken zu verknüpfen mit den Erfahrungen einer jüngeren Generation.
In unserem Bestattungshaus haben wir vieles so erhalten, wie es mein Vater angelegt hat. Aber ein Museum ist es nicht, ganz im Gegenteil. Es ist ein Ort, an dem Menschen ihre Trauer leben können, und es ist ein lebendiger Ort der Begegnung, um sich mit Tod, Abschied und Trauer aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu befassen, um Veränderungen zu bewirken und, wie Fritz Roth es ausdrückte, »dem Tod einen Platz im Leben und in der Mitte der Gesellschaft (zurück) zu geben«. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich in der deutschen Bestattungskultur wie im gesellschaftlichen Umgang mit Trauer und Trauernden einiges verändert. Zum Guten wie zum Schlechten.
Noch vor etwa zwanzig Jahren war die Erdbestattung in einem Wahlgrab die dominante Bestattungsform in Deutschland. Zur Beerdigung sprach ein Pfarrer oder Trauerredner mehr oder weniger tröstende Worte, und das Grab erhielt einen von einem Steinmetz gefertigten Grabstein. Heute, in der sogenannten Multioptionsgesellschaft, in der wir in fast allen Lebensbereichen vor endlosen Wahlmöglichkeiten stehen, ist auch im Bestattungsgewerbe eine Vielfalt von Angeboten entstanden, die individuelle Entscheidungen möglich machen und immer häufiger von den überlieferten Traditionen abweichen. Zugleich zeigt sich eine Sinnentleerung von Riten und Bräuchen im Umfeld von Bestattung und Trauer. Doch Rituale haben ihren Sinn. Sie sind nicht beliebig, sie beziehen ihre Wirksamkeit daraus, dass sie für den Einzelnen eine Bedeutung haben. Es entspricht heute nicht mehr dem Zeitgeist, Rituale positiv zu sehen. Doch inzwischen haben auch Wissenschaftler gezeigt, wie sehr Rituale in der Bewältigung von Krisensituationen und Stress helfen können. Bewusst gestaltete Rituale geben Orientierung und Halt, wenn Angst und Stress für Unruhe in den neuronalen Netzwerken des Gehirns sorgen. Hirnforscher wie Gerald Hüther raten, Rituale als Bewältigungsstrategie gezielt einzusetzen. Wichtig ist dabei jedoch der Unterschied zwischen Ritualen und Routinen: Routinen laufen automatisch ab, ohne dass sich das Gehirn anstrengen muss und Gefühle damit verknüpft werden. »Deshalb können Routinen im Gegensatz zu Ritualen Irritationen der Netzwerke nicht ausgleichen«, sagt Hüther. Eine individuelle Gestaltung und Aufmerksamkeit sind wichtig, damit Rituale ihre positive Wirkung entfalten können.
Wir sterben und trauern, wie wir leben: vereinzelt und ohne gesellschaftlich bindende Formen in einer Kultur, die uns nicht hilft, Trauer zu akzeptieren, die uns die Toten stiehlt. Das heißt, dass wir mit den Gegebenheiten, mit den Lebensstilen neue Formen finden müssen, die diesen entsprechen. Diese Entwicklung stellt auch die Kirchen vor neue Herausforderungen, wenn beispielsweise Gebete und Riten nur noch von einer kleinen Zahl von Trauergästen verstanden werden.
Wir sind eine mobile Gesellschaft, die meisten Menschen leben nicht mehr an dem Ort, wo ihre Vorfahren vielleicht Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte lang beigesetzt wurden. Es wird eine Karte oder ein Kranz geschickt, oder man reist mal eben für eine Stunde an, und damit ist es dann meist auch getan. Ringt man sich dazu durch, wirklich persönlich zu erscheinen, empfindet man die Beisetzung häufig als Pflichtveranstaltung, weil man das Thema Tod aus dem Lebensbezug gestrichen hat. Unser Lebensstil, immer unterwegs, mit allen vernetzt und von früh bis spät überschüttet mit Informationen und Angeboten, macht es uns leicht, den Tod zu verdrängen. Im Spannungsfeld von Individualismus und Tradition sucht eine mobile, säkularisierte Gesellschaft nach einem neuen Kontext für den Tod mit und auch jenseits der Religion.
Was werden unsere Gräber einmal über uns erzählen? In etwa der Hälfte der Fälle gar nichts, weil bei Feuerbestattungen nur Asche übrig bleibt. Bei der anderen Hälfte werden die Archäologen der Zukunft feststellen, dass wir unsere Toten nach einheitlichen, gesetzlich genau geregelten Standards bestatteten: hygienisch einwandfrei und gesetzestreu. Der Gesetzgeber schreibt vor, unsere Toten möglichst schnell unter die Erde zu bringen. Auch die meisten Bestatter drängen zu einer raschen Lösung des Problems. Sie verkaufen lieber Totenhemden, als den Trauernden zu raten, sich über die Auswahl von Lieblingskleidung und Grabbeigaben, die dem Verstorbenen im Leben wichtig war, mit dem Tod des geliebten Menschen auseinanderzusetzen. Am Ende entscheiden sich immer noch die meisten Trauernden für ein schlichtes Totenhemd, den guten Anzug oder das graue Kostüm. Warum eigentlich? Es gibt keine Vorschrift, was der Tote im Sarg zu tragen hat, und auch Grabbeigaben im Sarg sind nicht verboten.
Ägypter, Römer, Hethiter, Skythen – kein altes Kulturvolk wäre auf die Idee gekommen, Verstorbene ohne Grabbeigaben auf die letzte Reise zu schicken. Im Grab des Bogenschützen von Stonehenge (2300 v. Chr.) wurden rund hundert Gegenstände gefunden. Darunter waren goldene Haarspangen, Kupfermesser, Pfeilspitzen und Töpferware. Grabbeigaben sind Zeugen der Zeit, sie spiegeln den Totenkult, den Glauben oder auch Aberglauben, das Leben und seine Bedingungen sowie den kulturellen Stand der Gesellschaft wider.
Hierzulande lässt sich die viel beklagte Polarisierung der Gesellschaft auch im Bestattungsgewerbe beobachten: Auf der einen Seite erfreuen sich Discount-Bestatter, die ein rasches und kostensparendes Begräbnis ermöglichen, wachsender Beliebtheit. Seit Jahren steigt ihr Marktanteil – im Jahr 2010 lag er bereits bei einem Fünftel aller durchgeführten Bestattungen. Längst gilt es nicht mehr als pietätlos, auch bei Bestattungen – wie überall sonst – vor allem auf den Preis zu achten. Man erhält zwar keine Trauerfeier und muss sich selbst um viele Formalitäten kümmern; aber eine anonyme Feuerbestattung bekommt man bereits für unter 1200 Euro. Die Gründe für diese Entwicklung sind nicht schwer zu finden. So ist die Mobilität gestiegen und führt dazu, dass Familienmitglieder zum Teil weit voneinander entfernt wohnen. In manchen Fällen gibt es kaum Kontakt zum Verstorbenen, in anderen Fällen ist der Wegfall der Grabpflege das entscheidende Motiv. Ein anonymes Grab bedarf keines Pflegeaufwandes, da die Pflege vom Friedhofsträger übernommen wird.
Nach wie vor sind viele Bestattungshäuser in Deutschland Familienbetriebe, oft schon seit Generationen. In unserer Familie verlief der Weg ein wenig anders. Mein Vater stammte von einem Bauernhof im Bergischen Land und sollte, nach dem Willen meines Großvaters, ebenfalls Landwirt werden. Das wollte er nicht. Er besuchte ein Internat, eine Klosterschule, die Jugendliche auf den Priesterberuf vorbereitete, und wollte lieber Missionar werden. Diese Erziehung, so erzählte er später, habe seine Durchsetzungskraft gestärkt und die Fähigkeit, seinen persönlichen Standpunkt auch dann zu behaupten, wenn er damit allein auf weiter Flur stand. Als er mit siebzehn Jahren die Entscheidung treffen sollte, »Priester auf ewiglich« zu werden, entschied er sich für einen ganz anderen Weg – und studierte...