Kapitel 1
I
In der Nähe von Wusu, Xinjiang, China
Im Bus sitzen Arbeiter aus der Vorstadt von Wusu im Norden Xinjiangs, einer Stadt auf halbem Weg zwischen Ürümqi – der Hauptstadt des autonomen Gebiets – und Kasachstan. Der Bus legt etliche Kilometer auf gut asphaltierter Straße zurück, dann durchfährt er trostlose urbane Landschaften und schließlich ein kurvenreiches und staubiges Agrargebiet, bis er in einen unbefestigten Weg einbiegt. Der Bus parkt vor einer Maishecke, hinter der sich über 35 Mu, das sind rund 2,3 Hektar, ein Tomatenfeld erstreckt. Die Parzelle, an der bereits mehrere andere Minibusse parken, besteht aus einem Streifen Land, so lang wie drei Fußballfelder hintereinander.
Man steigt zügig aus. Frauen im Laufschritt ziehen ihr keuchendes Kind hinter sich her. In der anderen Hand halten sie ein mit Blumenschnitzereien am Griff verziertes Hackbeil. Alle beeilen sich, um schnellstens an die Pakete mit den großen Plastiksäcken zu kommen und sich über das Feld zu verteilen. Ist der Stapel mit den Säcken leer, bringt ein Traktor mit Anhänger Nachschub für die Ankömmlinge. Auch dieser neue Stapel ist rasch verschwunden. »Wir müssen uns beeilen«, bemerkt ein atemloser Pflücker. Für einen 25-Kilogramm-Sack bekommt er heute 2,2 Yuan, circa 30 Eurocent, also etwas mehr als einen Cent pro gepflücktem Kilo Tomate.
Die Pflücker tauschen sich kurz aus, nie auf Mandarin, sondern immer in ihrem Dialekt, um den Tagesbeginn zu organisieren, sich in Reihen einzuteilen, eine gute Ausgangsposition zu finden.
Ein junges Mädchen, noch keine vierzehn Jahre alt, ächzt unter einer Last, die womöglich ebenso viel wiegt wie ihr magerer Körper. Sie schleppt auf ihrem zierlichen Rücken einen Stapel Säcke. Sie lässt den Ballen fallen, durchtrennt die Schnüre und macht sich an die Arbeit. Auf dem Feld stehen noch andere Kinder und Jugendliche. Die meisten Landarbeiter stammen aus Sichuan, einer armen Provinz im mittleren Westen Chinas, über dreitausend Kilometer weit weg von diesem Feld hier; der Rest sind Uiguren. Die 150 Pflücker teilen sich in Gruppen von zehn bis zwanzig Leuten auf, die in regelmäßiger Entfernung voneinander an die Arbeit gehen. Viele Frauen und Männer arbeiten allein. Sind sie zu zweit, teilen sie sich die Aufgaben.
Hockend heben die einen ihr Messer über Kopfhöhe und kappen mit einem gezielten Schnitt die Pflanze. Die anderen bücken sich nach den belaubten Zweigen mit den reifen Früchten und schütteln sie energisch. Die Tomaten lösen sich und fallen mit einem dumpfen Geräusch auf die Erde. Nach und nach ist das Feld grün-rot gestreift. Hier die Anhäufung des Grünzeugs, dort lange rote Linien.
Dutzende von Arbeitern zerhacken buchstäblich mit ihrem Beil die Erde und lassen nicht davon ab, solang eine Pflanze hartnäckig Widerstand leistet; die folgenden sammeln die weggerollten Früchte ein, hockend oder auf den Knien, mit der flachen Klinge oder den bloßen Händen. Jetzt geht es ans Befüllen der Säcke. Das üppige Feld verwandelt sich im Laufe der Stunden in nackte Erde.
Um sich vor der Sonne zu schützen, tragen manche Frauen eine Schirmmütze, über die sie sich noch dicke Lagen Stoff wickeln. Nur wenige unterhalten sich. Lediglich das regelmäßige Schlagen der Beile ist zu hören, das Knistern der Säcke, die sich füllen und umhergetragen werden. In der Ferne hebt plötzlich ein ergreifender, melancholischer Gesang an. Einige sehen kurz auf und werfen einen Blick in die Richtung, aus der die Stimme kommt, aber alles, was man sieht, sind arbeitende, gebeugte Gestalten.
Eine Frau trägt ihren Säugling auf dem Rücken. Sie verausgabt sich in der feuchten, extremen Hitze. Andere Kinder, größere, die aber zum Arbeiten noch zu jung sind, spielen auf dem Feld mit Stöckchen oder Steinen. Sie klopfen mit einem liegen gebliebenen Beil auf der Erde herum, wie ihre Eltern, oder stecken sich ungewaschene, mit weißem Pulver bedeckte Tomaten in den Mund – Tomaten mit Rückständen von Pestiziden. Die Sonne brennt so heiß, dass einige mit nacktem Oberkörper arbeiten. Viele kratzen sich. Auf ihren Gesichtern und Händen sind Rötungen und Anzeichen von Hautkrankheiten zu sehen. Dies ist in dieser Saison nicht ihr erster Tag auf dem Feld.
Der Arbeiter mit der schönen, melancholischen Stimme kommt aus der Provinz Sichuan. Lamo Jise ist 32 Jahre alt und gehört zum Volk der Yi, wie seine Frau. »Wir müssten heute um die 160 Säcke Tomaten [circa vier Tonnen] zu zweit schaffen, meine Frau und ich. Dann bekämen wir etwa 350 Yuan.« Umgerechnet wären das 24 Euro pro Person, für einen Tag härtester Arbeit in sengender Hitze, der erst mit Einbruch der Nacht beendet sein wird. »Mit dem Singen mache ich mir Mut«, sagt er mir.
Li Songmin trägt eine rote Schirmmütze und steht am Feldrand, er überwacht die Ernte. Er ist Produzent, er weiß, dass seine Tomaten noch heute Abend per Lastwagen in einer Fabrik des Unternehmens Cofco Tunhe abgeliefert werden. Was darüber hinaus mit seiner Ware nach deren Verarbeitung passiert, das weiß er nicht. Li Songmin hat das Feld gepachtet. Die Pflücker kennt er nicht persönlich. Weder die Arbeiter aus Sichuan, die heute in der Mehrheit sind, noch die Uiguren: Sie wurden von einem »Personaldienstleister« angeheuert. Der Pächter steht lediglich mit Cofco Tunhe in Verbindung. Das Unternehmen diktiert ihm mittels eines Lastenheftes, welche besonders ertragreichen Sorten von Industrietomaten er anpflanzen soll, und liefert ihm die Saat. Es garantiert ihm den Kauf seiner Ernte zu einem verhandelten Preis. Es besorgt jederzeit Pflücker. Es organisiert den Transport der Tomatensäcke in die Fabrik.
Cofco Tunhe ist das größte Unternehmen für die Verarbeitung von Industrietomaten in China. Global gesehen steht es in der Branche an zweiter Stelle. Cofco, Akronym für China National Cereals, Oils and Foodstuffs Corporation, wird vom Fortune-Magazin in seiner Liste der »Global 500« geführt, einem Ranking der weltweit umsatzstärksten, mächtigsten multinationalen Konzerne. Unter dem Dach des gigantischen chinesischen Konglomerats versammeln sich eine sehr große Anzahl von Gesellschaften, die noch zu Mao Zedongs Zeiten gegründet worden sind, als Cofco das einzige chinesische Staatsunternehmen war, das Lebensmittel ein- und ausführen durfte. Tunhe ist eine Tochtergesellschaft von Cofco, die auf Zucker und Industrietomaten spezialisiert ist. Das Unternehmen besitzt fünfzehn Tomatenverarbeitungswerke. Vier in der Inneren Mongolei und elf in Xinjiang, davon sieben im Norden des autonomen Gebiets und vier im Süden.
Cofco Tunhe beliefert mit seinem Tomatenkonzentrat die größten Multis der Nahrungsmittelindustrie: Kraft Heinz, Unilever, Nestlé, Campbell Soup, Kagome, Del Monte, PepsiCo oder auch die amerikanische McCormick-Gruppe, die weltweite Nummer eins für Gewürze, zu der in Europa noch die Marken Ducros und Vahiné gehören. Cofco Tunhe produziert außerdem jährlich 700 000 Tonnen Zucker, der zum Teil an Coca-Cola, Kraft Heinz, Mars Food und Mitsubishi geht sowie an den chinesischen Milchgiganten Mengniu Dairy, dessen Hauptaktionäre Cofco und Danone sind. Zudem ist Cofco Tunhe einer der weltweit größten Hersteller von Aprikosenpüree.
1,8 Millionen Tonnen Frischtomaten verarbeitet der chinesische Gigant für 250 000 Tonnen Tomatenkonzentrat, was einem Drittel der chinesischen Gesamtproduktion entspricht. Auf Tausenden Tomatenfeldern in Xinjiang, die dem in Wusu ähneln, werden die Tomaten gepflückt und als Rohstoff in über achtzig Länder verschickt.
An der Ernte der für ausländische Multis bestimmten Tomaten sind auch Kinder beteiligt. Sind sie unter zehn Jahre alt, arbeiten sie an der Seite ihrer Eltern. Ab dreizehn oder vierzehn Jahren arbeiten sie selbstständig und allein. »Für uns vom Volk der Han ist das nicht gut, Kinder sollten nicht so hart auf den Feldern arbeiten, aber was sollen wir tun … Diese armen Menschen aus Sichuan haben keine Wahl. Sie haben niemanden, der auf ihre Kinder aufpasst, also müssen die mit«, erklärt Li Songmin, der Produzent, dessen Tomaten nicht in China konsumiert, sondern für den internationalen Markt produziert werden, wo sie als Tomatenkonzentrat von einem der Großen der Lebensmittelindustrie gekauft werden. Es sind diese Tomaten, die in Europa für Pizzen und Soßen verwendet werden.
II
Changji, Xinjiang, China
Hohe Schornsteine heben sich vom grauen Himmel ab, es riecht süßlich, nach gekochten Tomaten. Lange Konvois laut brummender Lastwagen fahren über die Zufahrt auf das Gelände des Verarbeitungsbetriebs, beladen mit von der Sonne aufgewärmten Tomaten. Drinnen herrscht ein geschäftiges Hin und Her von Hubwagen, die blaue Fässer transportieren. Der Betrieb von Changji liegt über zweihundert Kilometer entfernt vom Erntefeld bei Ürümqi. Es handelt sich um das größte Werk der Cofco-Gruppe. So abgenutzt, veraltet und chaotisch das Werk in Wusu ist, so prächtig ist es in Changji. Die Anlage wirkt wie neu, Blumen, die von einem uigurischen Gärtner gepflegt werden, schmücken die nähere Umgebung. Hierher bat mich die Presseabteilung von Cofco Tunhe zum Gespräch.
Dass ich hier bin und dem Hin und Her der Lastwagen auf dem Werksgelände zusehen kann, ist das Ergebnis einer langen Reise. Ich stehe im Herzen einer »Weltfabrik«, die man für gewöhnlich gern vor den Augen neugieriger Fremder schützt. Hier wird keine teure Qualitätselektronik produziert, wie bei Foxconn in Shenzhen, hier wird auch nicht das neueste Apple-Modell hergestellt, bevor es in die Welt verschickt wird. Das hier ist keine robotisierte Hightechanlage, auch keine dieser Fabriken, in denen Dinge oder Möbel im...