Vorwort
Ich sitze mit meinen Schulfreundinnen am Küchentisch meiner ersten eigenen Wohnung in Berlin-Steglitz. Es ist das Jahr 1994, unser Abi liegt schon eine Weile zurück. Danach waren wir in alle Winde verstreut: London, Neuseeland, Berlin-Kreuzberg, Ausbildung, Au-pair, Studium. Nun treffen wir uns endlich mal wieder, tauschen uns aus über alles, was im Leben eben so passiert. Wir trinken Wein, genießen eine Vertrautheit, die man vielleicht nur entwickelt, wenn man gemeinsam erwachsen geworden ist. Die Gespräche sind ausgelassen, lustig, immer ehrlicher, plötzlich sehr ernst. Meine Freundin Sabine erzählt uns, wie der Freund ihrer Mutter sie jahrelang befummelt hat. Wir wussten eigentlich schon davon, sie hatte es damals mit fünfzehn einmal angedeutet. Ich erzähle von einem Erlebnis bei einem Fotoshooting. Der Fotograf, selbst noch Student, stürzte sich am Ende der Aufnahmen auf mich, packte mich und zerrte mich aufs Bett. Er war grob, seine Hände und Knie fixierten mich, sein Gesicht sah aus wie von einem Monster. Jahrelang habe ich nicht mehr darüber nachgedacht, viel zu peinlich war das alles. Ich empfand Scham, weil ich das Gefühl hatte, mitschuldig zu sein. Wie sonst hätte so etwas passieren können? Irgendwann später allerdings wächst in mir das Bewusstsein, dass nicht ich falsch gehandelt habe, sondern allein dieser Mann.
Dann meldet sich meine Freundin Ellie zu Wort. Sie trinkt noch einen großen Schluck Rotwein und erzählt uns eine Geschichte, an deren Ende wir alle in Tränen aufgelöst sind. Kurz nach dem Abitur war sie in einen sehr süßen jungen Mann verknallt. Wir kannten ihn von Fotos, ziemlich gutaussehend, sportlich. Sie war schon immer schüchtern, schminkt sich noch heute fast nie und war in Sachen Jungs eher ein Spätstarter. Zu dem Zeitpunkt, als sie sich so unglaublich in ihn verliebte, hatte sie auf jeden Fall noch nie mit einem Jungen geschlafen.
Sie erzählt uns, wie sie sich mit ihm verabredete. Zuerst im Café, dann ein gemeinsamer Spaziergang, alles sehr romantisch. Ein paar Tage später waren sie zum ersten Mal in ihrer Wohnung, die gleich bei mir um die Ecke liegt. Bei Kerzenschein haben sie ein bisschen gequatscht.
Dann hat er sie vergewaltigt.
Meine Freundin Ellie war noch nicht so weit. Er konnte das nicht verstehen. Sie wollte nur ein bisschen zärtlich sein, er hatte sich nicht mehr unter Kontrolle. Und so endete dieser zarte Flirt mit dem Brutalsten, was man sich als junge Frau vorstellen kann. Es war so brutal, dass sie noch Wochen Schmerzen hatte. Sie hatte das Gefühl, mit niemandem darüber reden zu können, nicht mal mit uns, ihren besten Freundinnen. Auch bei ihr war die Scham groß, das Gefühl, sich selbst in diese Situation gebracht zu haben.
Jahre später sind wir nun die Ersten, die sie endlich einweiht. Wir sitzen da und können nicht glauben, was unsere Freundin durchgemacht hat, ohne dass wir etwas davon geahnt haben. Ihrem späteren Mann erzählt sie auch davon, er kann mit der Situation umgehen und sie behutsam überzeugen, dass andere Männer anders sind als dieser. Ihre Eltern hat Ellie bis heute nicht eingeweiht. Zu groß ist die Sorge, dass es ihnen Kummer bereitet …
Als ich mit den Recherchen zu diesem Buch begann, war vom Harvey-Weinstein-Skandal und der #MeToo-Debatte noch keine Rede, und es gab noch keinen Talkshow-Tsunami in Deutschland rund um das Thema »Sexismus« und »Sexuelle Gewalt gegen Frauen«. Bis dahin hatte sich kaum eine prominente Person jemals öffentlich geäußert oder gar an die Seite eines Vergewaltigungsopfers gestellt. Die Reaktionen waren zu diesem Zeitpunkt vorhersehbar und allesamt negativ: Wer es wagte, sich öffentlich an die Seite eines Opfers zu stellen, »vorverurteilte« den Täter und war verblendet, nicht objektiv und wahrscheinlich eine Emanze. Dass damit das Opfer aber stets als mögliche Lügnerin diffamiert wurde, nahm man in Kauf. Das war der Stand im Sommer 2016. Es war der Sommer, in dem Gina-Lisa Lohfink zwei Männern Vergewaltigung vorwirft, mit denen sie zuvor gefeiert hatte. Und wenn Gina-Lisa feiert, dann fließt Wodka, dann trägt sie nicht viel Kleidung am Körper und macht Männern mit voller Absicht heiße Gedanken.
Ihre Geschichte ist ein komplexer Fall, und die allgemeine Meinung lautet, dass er nicht geeignet sei, die Rechte der Frauen einzufordern. Denn Gina-Lisa ist nicht das, was man als Role Model der emanzipierten Frau bezeichnen würde. Und doch oder gerade deswegen empfinde ich die mediale Berichterstattung als unfair. Beim Thema Sexualstraftaten scheint das Bild in den Medien sehr wenig der Realität zu entsprechen. Bei jedem öffentlich werdenden Fall von Vergewaltigung wird stets eine Fifty-fifty-Chance unterstellt, dass das vermeintliche Opfer sich alles ausgedacht haben könnte. Warum nur kenne ich dann in meinem eigenen Umfeld keinen einzigen Mann, dem eine Falschbeschuldigung passiert ist, während gefühlt jede zweite Frau schon einmal sexuell bedrängt, genötigt oder sogar vergewaltigt wurde? Ist vielleicht etwas falsch an dieser Berichterstattung?
Heute kennen wir die Antwort: Jede siebte Frau erlebt mindestens einmal im Leben schwere sexuelle Gewalt. Und für einen Mann ist die Wahrscheinlichkeit erheblich größer, selbst Opfer sexueller Gewalt zu werden, als jemals fälschlich einer Vergewaltigung bezichtigt zu werden.
Am 23. August 2016 entscheide ich mich mit pochendem Herzen, mein Erlebnis beim Fotoshooting von damals auf Facebook öffentlich zu machen. Ich war zum Zeitpunkt des Vorfalls neunzehn Jahre alt, und es lag außerhalb meiner Vorstellung, dass ein charmanter, gutaussehender Mann wie dieser Fotograf plötzlich zur Bedrohung werden könnte. Es gelang mir damals, mich zu befreien und wegzurennen. Ich fuhr direkt zu meinen Eltern und erzählte ihnen die ganze Geschichte. Weder meinen Eltern noch mir kam es in den Sinn, zur Polizei zu gehen und den Mann anzuzeigen.
Jahrelang habe ich mich gefragt, warum ich diesen Schritt nicht mal in Erwägung zog. Offenbar ist es die natürliche Reaktion auf einen solchen Übergriff, erst einmal nichts zu tun. Wenn Anwälte und Journalisten als Argument gegen die Glaubwürdigkeit der Frau immer wieder anführen, sie hätte den Täter direkt anzeigen oder wenigstens beim Arzt Beweise sichern können, zeugt das von großer Unwissenheit. Der erste Gedanke nach einer solchen Tat – das haben unzählige Gespräche mit vergewaltigten Frauen gezeigt – gilt dem Bedürfnis nach Schutz und Geborgenheit. Die Frauen wollen duschen, den Schmutz abwaschen, und dann nur noch Ruhe, sich ins Bett verkriechen, den Schmerz ertragen und schnell verdrängen. Sie empfinden Ekel und Scham. Einem Fremden das Erlebte kurz darauf detailliert zu beschreiben ist für die meisten Opfer das Allerletzte, was sie sich vorstellen können.
Deswegen schreibe ich meine Geschichte auf Facebook. Was dann passiert, überwältigt und überfordert mich schnell. Mein Post wird hundertfach geteilt und kommentiert. Frauen schreiben direkt unter meinen Post über ihre Storys oder deuten an, dass auch ihnen Schlimmes widerfahren sei. Ich erhalte unglaublich viele E-Mails, persönliche Nachrichten, erfahre von rund fünfhundert Schicksalen. Manche Frauen tragen das schreckliche Geheimnis seit ihrer Kindheit mit sich herum, ohne jemals mit irgendjemandem darüber gesprochen zu haben. Andere erleben während ihrer Ehe ein Martyrium, das noch immer anhält. In der Anonymität der elektronischen Kommunikation offenbaren sich Opfer plötzlich mir gegenüber, manche nur in einem Satz, manche in seitenlangen E-Mails. Unter ihnen sind auch einige Männer. Unter ihnen sind Freunde und Kollegen. Viele schreiben davon, dass ihnen ein hohes Maß an Ablehnung entgegengebracht werde, wenn sie davon erzählten. Deswegen schweigen die meisten und machen dieses furchtbare Kapitel ihres Lebens mit sich allein aus. Ich kann das alles gar nicht fassen. Boulevardmagazine wollen Statements von mir und Stellungnahmen zum Fall Gina-Lisa. Vereinzelt wird mir sogar vorgeworfen, ich würde diese alte Geschichte nur hervorholen, um mich wichtigzumachen. Ein klassisches Totschlag-Argument, das immer zieht und Frauen verunsichern soll.
Ich widerstehe dem Wunsch, alles zu löschen, um wieder meine Ruhe zu haben. Stattdessen mache ich etwas ganz anderes: Ich beginne, die Frauen zu kontaktieren, die mir ihre Geschichte erzählen wollen. Und so entsteht dieses Buch.
Auf den folgenden Seiten kommen – stellvertretend für unzählige andere – Frauen zu Wort, deren Leben sonst im Verborgenen stattfindet. Frauen, die ihr Schicksal tragen und versuchen, ein normales Leben zu führen. Einigen gelingt es, vielen gelingt es nicht.
Gemeinsam wollen wir zeigen, in welchen Lebensbereichen Frauen besonders gefährdet und welche Muster erkennbar sind – im Verhalten der Täter, aber auch in den seelischen und körperlichen Auswirkungen auf die Opfer. Wir zeigen, was bei einer Anzeige bei der Polizei passiert, wie eine Gerichtsverhandlung bei Sexualstraftaten verläuft und welche Unterstützung es für die Opfer gibt, welche Therapien gegen das schwere Trauma helfen und wie sich Betroffene selbst helfen können.
Doch zuallererst wollen wir den Menschen klarmachen, dass dieses Problem für Frauen existiert und dass es ein sehr viel größeres ist, als bisher in der Öffentlichkeit dargestellt wurde. Es ist kein Randproblem, es betrifft Frauen aus allen Schichten und Kulturen. Wenn Sie dieses Buch in der U-Bahn lesen oder im Wartezimmer einer Praxis, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass mindestens eine betroffene Frau mit Ihnen im Raum sitzt.
Wenn wir wollen, dass sich an dieser Situation etwas verbessert und die Gefahr, Opfer sexueller Gewalt zu werden, für Kinder...