Irgendwie anders als andere
Mehr Begeisterung, mehr Ehrgeiz, mehr Lebensfreude. Aber auch mehr Verzweiflung, Aggression und Traurigkeit: Es gibt Kinder, die sind einfach anders als andere Kinder. Egal um welches Gefühl es geht – sie scheinen nur die Extremvariante zu kennen. Höchste Freude, tiefste Trauer, wildeste Wut. Dazwischen gibt es bei ihnen nicht viel. Einfach mal so mittelzufrieden sind diese Kinder so gut wie nie. Jeder Tag gleicht vielmehr einer hochemotionalen Achterbahnfahrt mit atemberaubend vielen Loopings.
Es gibt Momente, da ist es einfach toll, ein Kind mit einem so überschießenden Temperament zu haben: Wenn der Dreijährige knallvergnügt aus dem Bett springt und mit einer ungeheuren Energie bastelt, werkelt, spielt und turnt, wenn die Siebenjährige großzügigst Liebesworte und Komplimente verteilt: »Du bist die beste Mami der Welt, ich bin so glücklich, dass ich dich hab!«
Doch es gibt mit Kindern wie diesen auch andere Momente, viele andere Momente. In denen es schon morgens vorm Frühstück Tränen gibt, weil die Lieblingsjeans in der Wäsche ist und jede andere Hose sich gerade unerträglich anfühlt auf ihrer Haut. In denen das neckische »Guten Morgen, Kleiner!« der Bäckersfrau einen anderthalbstündigen Wutanfall provoziert, weil der »Kleine« kein Kleiner ist, sondern ein großes Schulkind, das sieht man doch wohl, verdammt! In denen Gläser umstürzen und Teller zerbrechen, weil das achtjährige Kind es einfach nicht schafft, beim Abendessen einigermaßen ruhig am Tisch sitzen zu bleiben – zu viel Zappel in den Beinen.
»Ach, so sind doch alle Kinder manchmal«, bekommen Eltern oft zu hören, wenn sie von ihren emotionsgeladenen Töchtern und Söhnen erzählen. Doch der Unterschied zwischen den ganz normalen Hochs und Tiefs, die alle Kinder mal durchleben, und dem chaotischen Gefühlshaushalt der Kinder, um die es in diesem Buch gehen soll, liegt in dem kleinen Wörtchen manchmal.
Klar zappelt fast jedes Kind mal am Tisch herum oder legt einen Zornausbruch im Supermarkt hin. Natürlich fließen in jeder Familie mal die Tränen, gibt es heftige Streits und große Empörung. Aber danach ist es dann irgendwann auch wieder gut. Die Wogen glätten sich, es kehrt Ruhe ein, alle sind wieder einigermaßen ausgeglichen.
Genau das passiert in den Familien, an die sich dieses Buch wendet, meistens nicht. Im Gegenteil: Hat das eigene Kind irgendwann mit viel Begleitung und Unterstützung aus einer alles beherrschenden Emotion herausgefunden, springt es wie ein kleiner Flummi sofort ins nächste intensive Gefühl. Tatendrang zum Beispiel. »Jetzt muss ich unbedingt ein Floß bauen. Sofort, Mama!« Und wenn dieses Vorhaben dann scheitert – etwa an der schlichten Tatsache, dass gerade kein Holz da ist –, ist für die nächsten anderthalb Stunden wieder Holland in Not.
Sind so viele Tränen, so viel Verzweiflung, so viel Wut noch normal? Viele Eltern zweifeln daran: Wenn die Vierjährige ihren Kopf voller Zorn gegen den Fußboden knallt, wieder und wieder und wieder. Wenn der Fünfjährige fast vom Balkon gesprungen wäre, vor lauter Abenteuerlust und Übermut. Wenn das Vorschulkind seinen Freund im Kindergarten so stürmisch umarmt, dass dieser vor Schreck hintenüber fällt – und der kleine Wirbelwind daraufhin so betroffen und bestürzt ist, dass er wochenlang nicht mehr in den Kindergarten gehen will.
So sind andere Kinder doch nicht?!
Doch. Es gibt hunderttausende solcher Kinder, die die Welt intensiver wahrnehmen als andere und tagtäglich von extrem starken Emotionen überrollt werden. Sie leben überall auf dem Globus, in armen und reichen, großen und kleinen Familien, in Industrienationen ebenso wie in traditionellen Kulturen. Sie unterscheiden sich in ihrer Art und ihrem Wesen oft stark von ihren Altersgenossen. Aber nicht, weil sie unnormal wären, sondern weil die normale Entwicklung von Menschenkindern sehr viel vielfältiger ist, als wir oft meinen.
Ist das noch normal?
»Es ist normal, verschieden zu sein« – dieser Ausspruch Richard von Weizsäckers könnte auch als Motto der Entstehung unserer menschlichen Art herhalten. Evolutionär betrachtet ist Vielfalt unsere Stärke, Verschiedenheit unser Überlebensgarant. Denn wo ganz unterschiedliche Persönlichkeiten aufeinander treffen, gibt es zwar die meisten Konflikte, aber auch den größten Fortschritt, weil die Temperamente sich in ihren Stärken und Schwächen ergänzen.
So kommt es, dass wir alle mit einer individuellen Persönlichkeitsstruktur zur Welt kommen – die einen scheuer, die anderen neugieriger, die einen robuster, die anderen sensibler. Die Kinder, um die es in diesem Buch gehen soll, wurden dabei mit einem besonders explosiven Mix ausgestattet: Sie sind einerseits extrem verletzlich, andererseits aber auch extrem lebhaft. Das heißt: Sie sind von der Wut, Trauer oder Empörung anderer schnell tief verletzt – teilen selbst aber scheinbar ohne Rücksicht auf Verluste aus, weil sie ständig von ihren eigenen Gefühlen überwältigt werden.
Wenn wir uns die verschiedenen angeborenen, ganz normalen Persönlichkeitsmerkmale eines Menschen als ein Spektrum vorstellen, in dem die meisten sich selbst und ihre Kinder irgendwo leicht rechts oder links der Mitte einordnen würden, stehen die Kinder, von denen dieses Buch handelt, mit ihrem Fühlen und Erleben jeweils am alleräußersten Rand dieses Spektrums: Sie sind extrem feinfühlig und gleichzeitig extrem impulsiv, extrem neugierig und extrem schnell von neuen Reizen überfordert, extrem nähebedürftig und extrem freiheitsliebend, extrem mutig und extrem ängstlich, extrem begeisterungsfähig und extrem schnell am Boden zerstört.
Worte schaffen Wirklichkeit
Jungen und Mädchen mit so einem intensiven Gefühlsleben und so einem ausufernden Temperament bezeichnen wir oft als
- schwierig
- wild
- ungestüm
- fordernd
- anstrengend
- widerspenstig
- rebellisch
- unruhig
- stur
- dickköpfig
- trotzig
- aufbrausend
- überempfindlich
- hyperaktiv
- weinerlich
- unentspannt
Wir nennen sie
- Träumer
- Mimosen
- Monster
- Tyrannen
- Diktatoren
- Zappelphilippe
- Zerstörer
- Drama Queens
- Troublemaker
- Terrormacher
- Heulsusen
- Wutzwerge
- Stinkstiefel
- Motzbacken
- Zicken
Wir bemängeln ihre
- fehlende Impulskontrolle
- geringe Selbstregulationsfähigkeit
- Starrköpfigkeit
- Lautstärke
- Hibbeligkeit
- Rücksichtslosigkeit
- Überschwänglichkeit
- Hypersensibilität
- Aggression
- übertriebene Emotionalität
Wir haben also einen ganzen Strauß an Worten und Begrifflichkeiten zur Verfügung, um die problematischen Seiten des besonderen Temperaments herauszustellen. Und keinen einzigen Begriff, der zum Ausdruck bringt, was für ein unglaubliches Potential in dieser ungewöhnlichen Persönlichkeitsstruktur steckt. Denn Kinder, die alle Emotionen besonders intensiv sowohl er-leben und aus-leben, sind meist auch
- kreativ
- begeisterungsfähig
- aufgeweckt
- neugierig
- ausdauernd
- durchsetzungsfähig
- mutig
- ehrgeizig
- sprachgewandt
- ehrlich
- meinungsstark
- mitreißend
- leidenschaftlich
- stark
- klug
Sie sind oft
- Weltverbesserer
- Streitschlichter
- Forscher
- Entdecker
- Erfinder
- hingebungsvolle Fans
- Künstler
- Sportler
- Verfechter von Fairness und Gerechtigkeit
- Diskussionstalente
- Führungspersönlichkeiten
- Visionäre
- Revolutionäre
Sie verfügen häufig über auffallend viel
- Energie
- Konzentration
- Mitgefühl
- Perfektionismus
- Zielstrebigkeit
- Nachdenklichkeit
- rhetorisches Geschick
- Traditionsbewusstsein
- Ausdrucksstärke
- Wissbegierde
- Standhaftigkeit
Das Brisante an diesen ganz unterschiedlichen Begrifflichkeiten: Mit Worten erschaffen wir Wirklichkeit.
Für ein Kind, das wir als schwierig, widerspenstig und übermäßig anstrengend wahrnehmen, prägen genau diese Zuschreibungen auch sein Selbstbild und sein Verhalten. Sehen wir hingegen seine Leidenschaft, seine Energie, seine funkensprühende Kreativität und Klugheit, werden diese Attribute nicht nur unser Kind entscheidend beeinflussen, sondern auch unsere Beziehung zu ihm.
Deshalb ist es mir so wichtig, von der Beschreibung dieser Jungen und Mädchen als schwierige, stets fordernde, nie zufriedene Problemkinder wegzukommen und für sie einen neuen Namen zu finden, der die ganze Kraft und den ganzen Reichtum ihres besonderen Temperaments zum Ausdruck bringt: gefühlsstarke Kinder.
Noch...