VORWORT
Things fall apart: the centre cannot hold;
Mere anarchy is loosed upon the world,
The blood-dimmed tide is loosed, and everywhere
The ceremony of innocence is drowned
«THE SECOND COMING», W. B. YEATS, 1919
Picasso wird von dem Kommandanten der nationalsozialistischen Besatzungstruppen
in Paris zu sich gerufen. Dieser zeigt dem Künstler eine Reproduktion seines berühmten Gemäldes der Stadt Guernica, nachdem sie im spanischen Bürgerkrieg von deutschen Bombern in Schutt und Asche gelegt wurde. «Haben Sie das gemacht?», fragt der Kommandant in einem bedrohlichen Tonfall. «Nein», antwortet Picasso. «Das waren Sie.»
HISTORISCHE ANEKDOTE
«Es ist immer eine anfänglich sozial keineswegs hochgeachtete Gruppe, die das Tabu verletzt, den tabuisierten Raum so weit entdämonisiert und sicher macht, dass auch die Mehrheit ihn zu betreten wagt.»
ALEXANDER MITSCHERLICH
«Man muss immer die richtige Gruppe hassen, um im Trend zu bleiben.»
ROBERT ANTON WILSON
Diese vier Zitate zeigen sehr gut die wesentlichen Punkte, um die es geht, wenn von Tabubrüchen die Rede ist. Am Anfang steht oft die Klage, heutzutage sei offenbar alles erlaubt, und das würde ganz bestimmt zum Untergang aller gesellschaftlichen Werte führen. Diese Befürchtung allerdings hört man mindestens seit der griechischen Antike. Mozarts Opern waren bei der Uraufführung Skandale, die Bilder Caspar David Friedrichs grenzten an Gotteslästerung, den Ma1er William Turner hielt man geradezu für irre. Aber andere Künstler und Denker zitieren das schockierende Werk in ihren eigenen, imitieren es, der Effekt lässt nach, verursacht schließlich nurmehr ein Gähnen. Der Impressionismus sorgte in seiner Zeit für Aufruhr, heute ist er ein Tapetenmuster.
Ähnlich ist es im Bereich der Wissenschaft. Denken wir etwa an Galileo Galilei. Er entwickelte ein astronomisches Fernrohr, betrachtete damit den Sternenhimmel und stellte so fest, dass die Theorie von Kopernikus richtig war: Die Erde dreht sich um die Sonne und nicht umgekehrt, wie man die ganze Zeit geglaubt hatte. Als Galilei seine gesammelten Fakten in einem Buch veröffentlichte («The Starry Messenger»), wurde er der Ketzerei beschuldigt. Daraufhin bat er eine Gruppe Jesuitenpriester zusammen und forderte sie auf, selbst durch sein Teleskop zu schauen, um sich ein Bild zu machen. Sie alle lehnten ab, bis auf einen, und auch der konnte nicht glauben, was er da sah. Er befand, es läge nur am Fernrohr, ohne das Gerät wäre alles in Ordnung. Für die anderen Priester aber war schon der Blick durch dieses Fernglas ein unumstößliches Tabu.
In der Geschichte der Menschheit verschieben mutige Pioniere die Grenze weiter und weiter nach vorne, und was früher das Niemandsland außerhalb jeder Zivilisation war, ist mittlerweile ein Teil der Innenstadt.
Es gibt aber auch gegenläufige Bewegungen und neue Tabus entstehen, wo früher keine waren. Beispielsweise wurde zu dem Zeitpunkt, als die Neuauflage dieses Lexikons vorbereitet wird (das Original erschien 2003), Stevie Schmiedel von der feministischen Gruppe «Pinkstinks» durch die ebenfalls feministische Bundesfrauenministerin Schwesig (SPD) mit der Kontrolle des Deutschen Werberats beauftragt. Pinkstinks wiederum fordert, «sexistische» Werbung zu verbieten, wobei Reklame unter anderem als «sexistisch» gelten soll, «wenn sie Menschen aufgrund ihres Geschlechts Eigenschaften, Fähigkeiten und soziale Rollen in Familie und Beruf zuordnet». Werbung, die eine Hausfrau zeigt, die Wäsche in eine Waschmaschine legt, wäre demnach in der Reklame tabu. Wenn man noch in den neunziger Jahren vorhergesagt hätte, dass bald solche Tabus errichtet werden, wäre die Reaktion Unglaube und Verständnislosigkeit gewesen.
Was aber bedeutet der Begriff «Tabu» eigentlich? Ursprünglich stammt dieser Ausdruck aus Tahiti. Im Jahr 1784 brachte ihn der Seefahrer James Cook in unsere Gesellschaft. Die tahitischen Ureinwohner hatten nämlich Cook und seine Männer bei allen Gegenständen, die sie nicht berühren durften, gefragt, ob diese «tabu» seien. Außerdem verwendeten sie das Wort «Tabu» für einen Baum, den sie für so heilig hielten, dass jeder, der ihn berührte, übernatürliche Bestrafung auf sich zog. Während man lange Zeit glaubte, solche Tabus kämen nur bei «primitiven Stämmen» vor, zeigten Völkerkundler wie Mary Douglas und Edmund Leach später, dass auch der industrialisierte Westen, ja, dass jede Gesellschaftsform von ihren ganz eigenen Tabus bestimmt wird.
Es war Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, der in seiner berühmten Aufsatzsammlung «Totem und Tabu» (1912–1913) die Doppelnatur des Tabus aufzeigte:
Einerseits gehört es zur Sphäre des Heiligen, andererseits zur Sphäre des Unheimlichen, Verbotenen, Gefährlichen und Unreinen. Das Objekt des Begehrens ist häufig gleichzeitig das Objekt, mit dem man nicht in Kontakt kommen darf.
Dieser Kontakt darf oft nicht einmal auf metaphorische, intellektuelle Weise stattfinden. Vor diesem Hintergrund entstehen unterschiedliche Formen von Tabus, beispielsweise Handlungs-, Sprech- und Darstellungsverbote. Am nachvollziehbarsten wird der Unterschied zwischen diesen drei Verbotstypen beim Thema sexueller Missbrauch von Kindern: Dass er ein Handlungstabu darstellt ist klar, denn er ist ein Verbrechen und richtet oft großen seelischen und körperlichen Schaden an. Dass er in unserer Gesellschaft aber auch etwas war, über dessen Existenz nicht einmal gesprochen und das so auch nicht bekämpft werden durfte, kritisierten zu Recht viele Menschen, denen der Schutz der Opfer am Herzen lag. Inwiefern man sexuellen Missbrauch aber in Filmen, Comics und anderen (insbesondere bildlichen) Texten darstellen darf, das ist auch heute noch heiß umstritten.
In unserer Zeit ist «Tabu» immer mehr zum Schmähwort geworden. Im Medienzeitalter über irgendetwas nicht sprechen oder es nicht darstellen zu dürfen, das verstehen in unserem demokratischen und aufgeklärten Zeitalter viele als Entmündigung. Die offene Gesellschaft tut sich schwer mit solchen Verboten. Gleichzeitig aber gibt es eine sehr kontrovers geführte Diskussion um die so genannte politische Korrektheit. Deren Befürworter bekunden mit Nachdruck, dass es sehr wohl Dinge gibt, die man nicht aussprechen darf, um nicht böse Geister zu wecken. Gegner dieser Haltung protestieren immer wieder gegen die mit ihr verbundenen Denk- und Sprechtabus, weil sie darin ihre persönliche Freiheit beschnitten sehen.
Manche haben auch den Eindruck, dass wir mittlerweile in einer Konsensgesellschaft leben, in der wir über wichtige Themen nicht sprechen, nur weil wir jeden Konflikt vermeiden möchten. So machte der Medienwissenschaftler Peter Glotz im Zusammenhang mit der Bioethik-Debatte etwa eine Form von «Angstkommunikation» und einen «neuen Moralismus» aus, der sich von der «Süddeutschen» bis zur «Welt» durch die unterschiedlichsten Medien ziehe und dabei «gelegentlich alle Perspektiven verliert».
So wie vor 50, 100, 1000 Jahren ist moralische Empörung noch immer das Mittel der Wahl, um ein Tabu durchzusetzen. Faszinierenderweise gelang insbesonders Gruppen, die sich als Opfer der Gesellschaft zeigten, durchzusetzen, welche Äußerungen sozial gestattet waren und welche nicht. Vertreter von Behinderten versuchen, Peter Singer aus der Diskussion auszugrenzen, Vertreter der Juden taten dasselbe mit Norman Finkelstein. Mitglieder der Frauenbewegung setzten durch, dass in der Geschlechterdebatte nur noch die weibliche, nein, vielmehr nur noch die feministische Sicht der Dinge gestattet war. Tabuisiert werden vor allem die Positionen derjenigen, die (oft mit Extremfällen als Beleg) in irgendeiner Weise als «Täter» ausgemacht werden konnten: Genforscher, Minderheiten der sexuellen Orientierung, religiöse Splittergruppen und Philosophen mit gewagten Positionen – ihnen allen, so heißt es immer wieder, könnten die Medien und die politischen Parteien doch unmöglich auch noch ein Forum für ihre verquasten Ansichten geben. Die Medien und die Parteien spielen oft mit. Alles andere würde ja auch bedeuten, dass sie selbst auf die Täterseite gestellt würden.
Die Macht des Tabus liegt in der öffentlichen Beschämung desjenigen, der dagegen verstößt. So wie man in den siebziger Jahren nicht über die Isolationsfolter von Terroristen im Gefängnis Stuttgart-Stammheim sprechen durfte und Heinrich Böll als einziger Prominenter wagte, freies Geleit für Baader-Meinhof einzufordern (und dafür auch reichlich Prügel bezog), so zeichnet man auch heute vor allem diejenigen Bürger mit Preisen für Zivilcourage aus, die sich ohnehin nur in sicheren Gewässern bewegen. Auch die staatlichen Zensoren setzen ihre Verbote durch, indem sie sich auf die Moral berufen: den Schutz von Schwächeren (Kindern) oder der Gesellschaft insgesamt.
Die Schlüsselformulierung, um ein Werk zu indizieren, lautet immer noch, dass es «sittlich desorientierend» sei, also gegen die gesellschaftlichen Grundtabus verstoße. Es verwundert nicht, dass viele der von Zensoren angegriffenen Werke zur künstlerischen Avantgarde gehören, ob in Literatur oder Film. Denn ein solches Infragestellen der bestehenden Werte war immer die Aufgabe von Kunst. Andererseits, das muss man einräumen, macht ein Tabubruch an sich noch keine Kunst aus.
Zum Wechsel des neuen Jahrtausends beklagen viele Kulturkritiker einen völligen Verlust an Tabus in unserer Gesellschaft. Der letzte noch denkbare Tabubruch könne nur darin bestehen, die alten Tabus wieder zu respektieren, finden nicht nur Konservative. Fast vierzig Jahre nach dem Beginn der sexuellen Revolution ist auch das Allerintimste...