I. Zur Forschungsgeschichte: Die Pioniere
1. Heinrich Schliemann und Mykene
Als Altertumsforscher war Heinrich Schliemann (1822–1890) Autodidakt. Die Familienverhältnisse waren so desolat, dass er statt des Gymnasiums nur eine kaufmännische Lehre absolvieren konnte. Diesen Nachteil suchte er durch Erfolg im erlernten Beruf und durch selbständige Aneignung jenes Wissens auszugleichen, das für den Zugang zu den akademischen Kreisen erforderlich war. Neben mehr als fünfzehn modernen und alten Sprachen brachte er sich vor allem humanistisches Bildungsgut bei und entwickelte dabei eine besondere Leidenschaft für Homer, dessen Epen er im Original las. Mit etwa fünfzig Jahren, als er zu einem der erfolgreichsten Geschäftsmänner Europas und zum vielfachen Millionär avanciert war, setzte er sich das Ziel, unter Einsatz seines eigenen Vermögens die historische Wahrheit der Berichte Homers zu beweisen. 1870 begann er mit seinen Ausgrabungen auf dem Ruinenhügel von Hisarlık in Nordwest-Anatolien, wo er tatsächlich eine prähistorische Siedlung mit beeindruckenden Befestigungsanlagen fand. Ob sie etwas mit dem Troja Homers zu tun hatte, ist bis heute umstritten. Sicher ist nur, dass über den acht prähistorischen Phasen der Siedlung, deren Abfolge mit dem Beginn der Frühbronzezeit um etwa 3000 v. Chr. einsetzte, in hellenistischer und römischer Zeit eine neunte Stadt («Troja IX») erbaut wurde, deren Name Ilion/Ilium derselbe war wie Homers Alternativname Ilios für Troja.
1 – Mykene, Luftaufnahme. Im Vordergrund Gräberkreis A,
etwas rechts oberhalb der Bildmitte das Palastzentrum.
1876 erhielten Schliemann und seine griechische Frau Sophia die offizielle Genehmigung des griechischen Staates für Ausgrabungen in Mykene. Die Lage des Ortes war bekannt, denn die gewaltigen Befestigungsmauern, deren Erbauung die antiken Griechen den Kyklopen, sagenhaften Riesen, zuschrieben, waren immer noch sichtbar. Ebenso war das Löwentor, benannt nach den Skulpturen auf der monumentalen Steinplatte über dem Türsturz, nie zur Gänze unter die Erde gekommen. Auch das «Schatzhaus des Atreus», in dem antiken Berichten zufolge die Schätze der Könige von Mykene aufbewahrt wurden, stand bis zur halben Höhe frei. Hatte sich Schliemann in Kleinasien von Homers «Ilias» leiten lassen, so stützte er sich in Mykene vorwiegend auf den «Griechenlandführer» des Geographen und Reiseschriftstellers Pausanias aus dem 2. Jh. n. Chr., dessen Beschreibungen von Mykene ihn veranlassten, an drei Stellen den Spaten anzusetzen. Als Erstes wurde das Löwentor vollständig bis zur Schwelle freigelegt. Nicht weit außerhalb davon stieß man auf einen dem «Schatzhaus des Atreus» ähnlichen, eingestürzten Bau, den Schliemann «Schatzhaus beim Löwentor» nannte. Heute heißt es «Grab der Klytämnestra», da die «Schatzhäuser» eigentlich monumentale Grabbauten, sog. Kuppelgräber (S. 87 f.) waren.
Die weitaus wichtigsten Funde machte das Ehepaar Schliemann an der dritten Grabungsstelle. Den Bericht des Pausanias über die im Inneren liegenden, «unterirdischen Grabstätten» des Agamemnon und aller seiner Gefährten, die mit ihm nach der Rückkehr aus Troja von seiner Gattin Klytämnestra und ihrem Geliebten Ägisth erschlagen worden waren, interpretierte Schliemann so, dass diese Gräber innerhalb des Mauerringes zu suchen wären. Er vermutete sie in einem von hohem Schutt bedeckten Bereich unmittelbar hinter dem Löwentor. Tatsächlich stieß man dort in mehreren Metern Tiefe zunächst auf reliefverzierte Grabsteine und schließlich auf fünf nicht geplünderte, tief in die Erde und in den Felsboden darunter eingeschnittene Schachtgräber mit den Überresten von 17 Personen und mit Beigaben von atemberaubender Fülle und Qualität. Ein sechstes Grab mit weiteren zwei Skeletten wurde nach Schliemanns Abreise von dem griechischen Archäologen Panajotis Stamatakis ausgegraben. Alle sechs Gräber liegen innerhalb eines doppelten Ringes aus hochkant aufgestellten Steinplatten, der heute als «Schliemann-Gräberrund» oder «Gräberkreis A» bezeichnet wird (siehe Abb. 1).
Selbstverständlich war Schliemann überzeugt, die Gräber des ermordeten Agamemnon und seines Gefolges aufgedeckt zu haben. In der Tat sind die Funde, mit denen sich Kapitel IV dieses Buches beschäftigen wird, von überragender Qualität und lassen keinen Zweifel daran, dass in den Schachtgräbern von Mykene die Angehörigen einer reichen Führungselite von betont kriegerischem Charakter begraben waren. Im Umkreis des Gräberrundes in Mykene stieß Schliemann außerdem auf die Grundmauern einiger Gebäude, darunter das «Haus der Kriegervase». Es ist nach der figuralen Bemalung eines weitmündigen, tiefen Gefäßes – eines «Kraters» – benannt, das dort gefunden wurde und das zu den berühmtesten Werken der mykenischen Vasenmalerei zählt (siehe Abb. 20b).
Schliemann war überzeugt, dass die in Mykene entdeckte Kultur das von Homer besungene Heldenzeitalter repräsentierte; trotzdem bezeichnete er sie nicht als «homerisch» oder «achäisch», sondern nach dem Fundort. Die Bezeichnung «Mykenische Kultur» setzte sich rasch durch. Die spektakulären Schätze aus den Schachtgräbern wurden schon ein Jahr nach ihrer Entdeckung öffentlich in Athen ausgestellt und gelangten wenige Jahre später in das neu erbaute Nationale Archäologische Museum von Athen, zu dessen berühmtesten Sehenswürdigkeiten sie seither zählen. Bereits 1878 veröffentlichte Schliemann das umfangreiche und reich bebilderte Werk «Mykenae. Bericht über meine Forschungen und Entdeckungen in Mykenae und Tiryns».
Die Ausgrabungen in der von Homer als «mächtig ummauert» gerühmten Burg von Tiryns begann Schliemann ebenfalls 1876. Angesichts der heftigen Kritik der Fachwelt an seinen Grabungsmethoden engagierte er ab 1884 den deutschen Grabungsarchitekten Wilhelm Dörpfeld als Mitarbeiter. Die gewaltigen «kyklopischen» Befestigungsmauern von Tiryns, die repräsentative, mit Ornamenten und Wandmalereien geschmückte Architektur der komplexen Wohnanlagen sowie das umfangreiche Fundinventar mit Tonfiguren, Feinkeramik und Gegenständen gehobener Haushaltsführung präsentierten für Schliemann eine reale Anschauung der königlichen Paläste, die Homer in seinen Epen beschrieb. Die dritte historisch bedeutende Ausgrabung Schliemanns fand 1880/81 und 1886 in Orchomenos in Böotien (Mittelgriechenland) statt. Schliemann legte dort ein monumentales Kuppelgrab frei, dessen Architektur und Ausmaße denen des «Schatzhauses des Atreus» in Mykene weitgehend entsprechen und dessen Name «Schatzhaus des Minyas» wiederum an Pausanias angelehnt ist: Der Name bezieht sich auf König Minyas, der als Gründer von Orchomenos galt.
Schliemanns Leistungen und besonders seine Persönlichkeit blieben trotz seiner epochalen Entdeckungen umstritten. Kritiker, deren es heute ebenso wie seinerzeit nicht wenige gibt, spotten über seine Homergläubigkeit und werfen ihm vor, durch dilettantisches und übereiltes Ausgraben viele wichtige Befunde unwiederbringlich zerstört zu haben. Schliemann wurde sogar der Fälschung verdächtigt. Besonnene Fachleute betonen dagegen, dass sich die archäologische Wissenschaft zu jener Zeit noch in ihren Anfängen befand und dass Schliemanns Grabungsmethoden, bei allen Fehlern, die er machte, in vieler Hinsicht wegweisend für die Entwicklung der modernen Ausgrabungstechnik waren. Vor allem war er der Erste, der die Bedeutung der Keramik für die Datierung von Fundkomplexen erfasste (s. Kap. II). Schließlich aber müssen selbst seine schärfsten Kritiker zugeben, dass er zwei bis dahin völlig unbekannte Kulturen entdeckte und ihre Datierung richtig einschätzte, obwohl er sich auf keine Parallelen stützen konnte und ihre zeitliche Einordnung daher schwer war. Auch seine schnelle und ausführliche Berichterstattung war vorbildlich. Die enorme kulturgeschichtliche Bedeutung der Entdeckung der mykenischen Kultur wurde bereits in der Einleitung gewürdigt.
2. Sir Arthur Evans und Knossos
Die zentrale Sagengestalt Kretas ist König Minos von Knossos mit seinem «Labyrinth», einem Palast mit verschlungenen Irrwegen. Wie Münzen des 5./4. Jh. v. Chr. bezeugen, lag das antike Knossos auf einem Hügel im Hinterland des heutigen Iraklio. Dort kamen im späteren 19. Jh. Gebäudereste zutage, deren Fundkeramik als «mykenisch» klassifiziert wurde, und im Kunsthandel tauchten «mykenische» Siegel und andere «mykenische» Objekte auf, die angeblich aus Kreta stammten. Zahlreiche Bewerber, darunter auch...